Das Nirvana ist das zentrale Konzept der buddhistischen Ontologie. Ontologie ist die Wissenschaft vom Wesen der Wirklichkeit; abgeleitet von altgriechisch on (ον) = seiend.
Das Nirvana zu erreichen, gilt als endgültiges Heilsziel aller buddhistischen Bemühungen um ein Ende des Leidens. Der Begriff spricht vom Erlöschen (Sanskrit: निर्वाणम् nirvanam = erlöschen). Er beschreibt einen Zustand, in dem die Ursachen des Leidens erloschen sind. Als Ursache des Leidens betrachtet der Buddhismus das Begehren. Indem der Mensch das Flüchtige begehrt, aus dem die Welt besteht, verstrickt er sich in immer neue Schwierigkeiten. Unter diesen Schwierigkeiten leidet er. Unterlässt er den Versuch, sich das Flüchtige anzueignen, befreit er seinen Wesenskern zu dem, was er eigentlich ist: glückseliges Gewahrsein der Wirklichkeit. In der Nomenklatur der Philosophie des Vedanta wird die Qualität des Nirvana als Satchitananda (Sanskrit: सच्चिदानन्द) bezeichnet; zusammengesetzt aus...
Als wesentliche Methode der Befreiung empfiehlt der Buddhismus die Meditation. Meditation ist ein achtsames Sitzen in der Stille. Dabei wird auf alle Aktivitäten verzichtet, die auf die Beeinflussung der Außenwelt abzielen. Stattdessen wird die Achtsamkeit nach innen gerichtet, um dort die Mechanismen zu erkennen, durch die man sich in das Netzwerk aus Leid und Begehren verstrickt. Meditation funktioniert wie ein Vergrößerungsglas. Wer es verwendet, erkennt grundlegende Prozesse, die er im Trubel des Alltags leicht übersieht. Meditation hebt die Verblendung durch Äußeres auf, die den Menschen, der nur das Äußere sieht, gefangen hält.
Verblendung (Sanskrit: अविद्या avidyā = Unwissenheit) ist die grundlegende Ursache der Leidens. Verblendung heißt, nicht zu wissen, was man in Wirklichkeit ist. Verblendung heißt, sich über sein Wesen zu irren.
Es ist zu betonen, dass das Nirvana kein topographischer Ort ist. Es ist ein Bewusstseinszustand, der von Verblendung, pathologischer Angst und Gier bereinigt ist. Zur Befreiung aus der Verblendung führt die Erkenntnis der drei Wesensmerkmale des Daseins. Es gilt, sie so zu verinnerlichen, dass sie den Umgang mit dem Leben bestimmt. Die drei Merkmale sind:
Alles Konkrete ist flüchtig und austauschbar.
Leben ist unweigerlich mit Leid verbunden.
Ein separates Selbst, das der Person und nur ihr zugeordnet ist, gibt es nicht.
Um den Weg ins Nirvana zu beschreiben, macht es Sinn, das Wesen jener Instanz zu betrachten, die den Weg in die Freiheit gehen kann: das Ich.
Das persönliche Ich entsteht aus dem Nicht-Ich. Jedes persönliche Ich ist Ausdrucksart und Erscheinungsform eines bereits vor ihm bestehenden Nicht-Ichs. Ein persönliches Ich, das unabhängig vom Nicht-Ich existiert, ist nicht bekannt.
Die ersten drei Fragen sind egozentrisch. Sie dienen dem Ego. Die letzte Frage ist spirituell. Sie fragt nach einer Möglichkeit, über den Horizont des Egos hinauszugehen. Antworten darauf könnten sein:
Oben hieß es: Das Ich entsteht. Was bedeutet entstehen? Der Begriff entstehen besteht aus zwei Teilen: der Vorsilbe ent- und dem Verb stehen. Die Vorsilbe ent- benennt einen Gegensatz und somit eine Trennung. Sie ist aus der germanischen Wurzel and[a]- = entgegen, von etwas weg abgeleitet. Den Sinn der Silbe erkennen wir in vielen Begriffen:
Sobald das Ich aus dem Nicht-Ich entsteht, steht es ihm als Pol gegenüber. Was als Ich existiert, ragt als Pol in ein Nicht-Ich hinaus. Oft existieren Pole nicht nur nebeneinander. Sie wirken einander entgegen. Bei Ich und Nicht-Ich ist das der Fall.
Das Nicht-Ich wirkt dem Ich als Hindernis entgegen, wenn nicht gar als ein Prinzip, das darauf hinwirkt, die Abspaltung des Ich vom Nicht-Ich wieder aufzuheben und es somit auszulöschen. Daraus entsteht alles Leid, das das Ich als etwas Existierendes zu erdulden hat.
Insistieren heißt bestehen auf, auf etwas beharren. Was insistiert, besteht auf seiner Macht. Ich und Nicht-Ich versuchen, einander zu bezwingen. Ihr Ringen macht den Schmerz des Daseins aus. Das Nicht-Ich, das ins Ich hineinragt, besteht auf dem Einfluss, den es durch seine Präsenz im Ich ausübt. Gleiches gilt umgekehrt. Das Ich besteht darauf, einen Einfluss auf das Nicht-Ich auszuüben.
Dass das persönliche Ich dem Nicht-Ich gegenübersteht und von ihm infrage gestellt wird, hat weitreichende Folgen für seine Struktur, sein Wesen und die grundsätzlichen Tendenzen aus denen heraus es sein Dasein gestaltet.
Das persönliche Ich ist stets Teil eines Ganzen, dem es untergeordnet und weitgehend ausgeliefert ist. Identifiziert sich das Ich mit der Person, fühlt es sich unsicher. Es kann sich seiner selbst nie sicher sein, weil es als relatives Selbst nicht autonom über sich bestimmt. Aus der Erfahrung der Unsicherheit heraus versucht es, sich möglichst viel vom Nicht-Ich anzueignen. Seine Grundtendenz heißt: Ich will mehr sein. Dazu muss ich mehr haben.
Sein ist bereits gegeben. Es muss nicht erst als Objekt vereinnahmt werden. Das Sein ist dem Seienden als es selbst anvertraut. Versteht sich das Ich als Subjekt, versucht es nicht, sich selbst zu vergrößern, indem es sich anderes einverleibt. In dem, was es erkennt, erkennt es das Selbst, das ihm zugrunde liegt. Da ihm alles zugrunde liegt, genügt es sich selbst.
Frei ist, was erkennt, dass es kein Ich hat, sondern es selbst ist.
Nicht nur das Ich kann vom Nicht-Ich unterschieden werden, sondern auch verschiedene Ausdrucksarten bzw. Erscheinungsformen des Ich. Zu unterscheiden sind...
Individuelles und persönliches Ich bilden zusammen das relative Selbst.
Das individuelle Ich entsteht mit dem Leben. Anders ausgedrückt: Leben ist Individualität. Eine Spezies besteht aus einander ähnelnden Individuen. Die Biologie ist die Wissenschaft der Individualität im Allgemeinen und individueller Unterschiede im Besonderen.
Individuen sind Partikel, also abgesonderte Strukturen, die sich in einem Feld befinden. Zwischen Partikel und Feld besteht eine Grenze, die wie ein Filter wirkt. Filter wählen. Für manches sind sie offen, für anderes nicht.
Nicht jeder Partikel ist ein Individuum. Steine sind Partikel, aber keine Individuen; jedenfalls nicht im hier definierten Sinn. Gewiss: Man könnte sagen, jeder Stein unterscheidet sich von anderen durch seine individuelle Größe, Farbe, Form und Beschaffenheit. Trotzdem lebt der Stein nicht. Individuen im biologischen Sinn tun es. Nur was lebt, ist ein echtes Individuum.
Was den lebenden Partikel vom toten unterscheidet, ist sein individuelles Eigeninteresse. Lebende Partikel sind so strukturiert, dass sie ihren Fortbestand durch zielgerichtete Prozesse fördern. Sie verhalten sich so, als ob sie selbst ein Interesse daran hätten, ihren Bestand zu sichern oder durch Fortpflanzung neue Individuen schaffen, in deren Struktur das Wesentliche ihrer eigenen erhalten bleibt. Was lebt, ist so strukturiert, dass es sich selbst erhält und etwas von sich hinterlässt, das nach seinem Untergang fortbesteht. Was lebt, wirkt selbsterhaltend. Das Selbst, das es zu erhalten versucht, ist das, was es von der Wirklichkeit erkannt hat.
Der Selbsterhaltungsimpuls, also das Eigeninteresse des biologischen Individuums, das seinem Fortbestand dient, kann als individuelles Ich aufgefasst werden. Das individuelle Ich ist eine Kraft, die dem Bestand des Individuums selektiv eine größere Bedeutung zuordnet als den Interessen des Umfelds. Das Ich ist die Interessensvertretung eines Partikels im Feld.
Bewusstsein
Was selbsterhaltend wirkt, wirkt zielgerichtet. Was zielgerichtet wirkt, muss von dem, worauf es einwirkt, etwas wissen. Wäre es blind, könnte es keine Ziele verfolgen. Insofern ist davon auszugehen, dass jedem Individuum etwas zugeordnet ist, das als Bewusstheit bezeichnet werden kann.
Damit die Kohlmeise nach der Raupe pickt und nicht nach dem Zweig, auf dem die Raupe sitzt, muss sie in der Lage sein, beides voneinander zu unterscheiden. Es gibt ein Wissen um den Unterschied, das mit der Meise verknüpft ist. Inwieweit dieses Wissen seinerseits mit einem Bild verbunden ist, das die Meise als Individuum im Feld darstellt, wissen wir nicht.
Bei höheren Tieren, zum Beispiel Menschenaffen, Delfinen oder Elefanten, gibt es starke Indizien, dass es ein solches Selbstbild gibt. Der Affe reagiert nicht nur reflexartig auf Elemente des Umfelds, die in seinem Bewusstsein auftauchen, er ahnt auch, dass es ein Er-Selbst gibt, das es tut. Er kann sein Verhalten dergestalt modulieren, als sei er nicht nur Individuum einer Spezies, sondern rudimentär bereits Person.
Das persönliche Ich entsteht, sobald das Bewusstsein ein Bild des Individuums entwirft und es bei Entscheidungen berücksichtigt. Diesem Selbstbild werden Inhalte als Eigenschaften und Bestandteile zugeordnet.
Indem sich das Bewusstsein Inhalte zuschreibt, wird es zur Person. Aus der Vorstellung Dies gehört zu mir, wird im nächsten Schritt ein Dies gehört mir. Tatsächlich sind Inhalte des Bewusstseins aber nur wahrnehmbare Qualitäten und Phänomene, die niemandem gehören.
Anders herum betrachtet
Alles, was ich besitze, ist ein Stück Welt, dessen Besitz ich bin. Die Welt gaukelt mir vor, dass es mich gibt, um mich für ihre Zwecke einzusetzen.
Die Einordnung des Körpers als primärer Besitz der Person ist eine sinnvolle gesellschaftliche Konvention; so wie die Zuordnung eines Grundstücks oder eines Hauses zum persönlichen Besitzstand ihres Eigentümers. Die Zuordnung ist faktisch aber eine bedingte Konvention. Sie hängt von den momentanen gesellschaftlichen Strukturen ab. So galt der Körper des Leibeigenen in der Feudalzeit als Besitz des Lehnsherrn.
Unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen ist der Körper nur solange "im Besitz" der Person, bis eine Mikrobe oder ein Haufen wuchernder Zellen ihr klarmacht, dass der Körper von je her eine Leihgabe war. Wie ein Mieter über eine Wohnung darf der Einzelne über seinen Körper verfügen, bis er nicht mehr darüber verfügen darf.
Man kann davon ausgehen, dass das individuelle Ich, also der Drang des Individuums, seine partiell abgesonderte, und damit besondere Existenz aufrecht zu erhalten, sich seiner selbst und seines Tuns nicht bewusst zu sein braucht. Wir vermuten, dass der Gelbrandkäfer nach Beute schnappt, ohne sich dabei als eine Person zu betrachten, die sich einen Namen zuordnet und dann denkt: Die Jagd ist mir heute gut gelungen. Damit werde ich bei den Weibchen Eindruck schinden. Besonders bei der lieblichen Gunhilde!
Auch unser individuelles Ich ist selbst dann aktiv, wenn wir es nicht zur Kenntnis nehmen. So sorgt es Tag und Nacht dafür, dass unsere Nieren zielgerichtet funktionieren. Im Tiefschlaf besteht sogar die gesamte Ich-Aktivität aus unbewussten Prozessen.
Das persönliche Ich ist eine Erscheinung des individuellen, die das individuelle Ich um die Dimension der Selbstbewusstheit erweitert. Dazu ordnet es Teilaspekten der Wirklichkeit eine spezielle Form der Zugehörigkeit zu. Es definiert: Dies und das gehört (zu) mir. Jenes gehört nicht zu mir.
Horizonte des Interesses
Das persönliche Ich ist eine Instanz, die der Wirklichkeit dergestalt begegnet, dass sie sich selbst als ein Gegenüber dieser Wirklichkeit auffasst; ein Gegenüber, das sowohl unter der Wirklichkeit leidet als auch absichtlich im eigenen Interesse auf sie Einfluss nimmt. Etwas, was sich nicht als Gegenüber definiert und nicht davon ausgeht, persönlich zu leiden und eigene Interessen zu haben, ist kein persönliches Ich. Erst wenn eine Vorstellung bewusst wird, die als eine eigenständige Instanz aufgefasst wird, die Ich bin denkt, entsteht ein persönliches Ich.
Unbewusstes
Die Psychologie spricht von unbewussten Prozessen, oder vom sogenannten Unterbewusstsein. Offensichtlich ist, dass Urteile und Entscheidungen, die das menschliche Verhalten steuern, nicht immer bewusst vollzogen werden. Offensichtlich gibt es Faktoren, die auf unser Verhalten Einfluss nehmen, ohne dass uns ihr Einfluss bewusst wird. Dabei sind zwei Gruppen zu unterscheiden:
Wann wir trinken, hängt primär vom Wassergehalt des Körpers ab. Dieser wird durch hormonelle Regelkreise gesteuert. Im Vorfeld des Trinkens wird uns nicht bewusst, wie viel Vasopressin der Hypothalamus ausschüttet.
Jeder macht im Leben individuelle Erfahrungen, die in sein Weltbild einfließen. Aus diesen Erfahrungen heraus reagiert er auf Ereignisse, mit denen das Leben ihn konfrontiert. Reagieren heißt, Entscheidungen zu treffen. Viele Entscheidungsprozesse laufen dabei, wie Reflexe, unbewusst ab und führen zu Verhaltensweisen, die das Individuum als so selbstverständlich auffasst, dass es ihren Sinn nicht weiter hinterfragt.
Der Begriff des Unterbewusstseins weist der Vielzahl unbewusster Reaktionsmuster eine eigenständige Instanz zu, die sich nach eigenem Gutdünken ins Dasein einmischt; so als habe diese Instanz ein Eigeninteresse, das dem des Bewusstseins eigenwillig entgegentritt und mit ihm konkurriert.
Notwendig erscheint eine solche Instanz zur Erklärung unbewusster Prozesse nicht. Unbewusstes kann durch drei Mechanismen allein vom Bewusstsein her erklärt werden.
Individuell unerwünschte Inhalte werden verdrängt, um ein bestimmtes Selbstbild aufrechtzuerhalten: Nein, ich habe keine Ansprüche. Ich bin ein bescheidener Mensch.
Wir haben gesehen, dass sich das Ich ein Selbst zuschreibt. Es sagt: Das bin ich nicht. Das bin ich selbst. Dieses Selbst ist ein relatives Selbst, das die Elemente des individuellen und des persönlichen Ich zu einer Einheit zusammenfasst, die sich als separat betrachtet. Separat heißt, vom Umfeld abgegrenzt.
Genau betrachtet existiert die Grenze aber nur soweit sie zugleich Brücke und Verbindung ist. Daher kann dem Ich, das sich als Repräsentant des relativen Selbst definiert, keine eigenständige Wirklichkeit zugeschrieben werden. Es ist Konzept. Es ist eine Vorstellung, die sich das Bewusstsein als Bild der Wirklichkeit vor Augen stellt, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Wenn die Wirklichkeit aber nicht dem Bild entspricht, muss sie darüber hinausgehen. Folglich ist sie transzendent (lateinisch trans = hinüber und scandere = steigen). Die Wirklichkeit liegt jenseits der Vorstellung, die wir von ihr haben.
Ohne sich zu verirren, kann man vom Absoluten nur sprechen, wenn man nicht übersieht, dass nichts von dem, was man sagt, als endgültig gelten kann.
Im Titel ist "Ich" in Anführungszeichen gesetzt: mit gutem Grund. Im üblichen Sprachgebrauch wird das Wort Ich als Pol einer dualistischen Einheit betrachtet, die dem Nicht-Ich abgegrenzt gegenübersteht. Was Ich sagt, verweist auf ein Du. So kann aber das absolute Selbst nicht sein. Sonst wäre es nicht transzendent, sondern ebenfalls nur ein Partikel im Feld.
Ein Ich ist aber nicht nur etwas, das als Pol einer Dualität fungiert. Es ist zugleich das, was weiß und sich seiner selbst bewusst sein kann. Es ist fähig, sich selbst und die Wirklichkeit zu erkennen. Dem absoluten Selbst eine Fähigkeit abzusprechen, die bereits dem persönlichen Ich zukommt, erscheint wenig plausibel. Man kann daher davon ausgehen, dass auch das absolute Selbst dazu in der Lage ist, sich als ein Ich aufzufassen: im Sinne einer Instanz, die sich selbst erkennt. Das Absolute Selbst erkennt sich als Wirklichkeit.
Vergisst man nicht, dass ein derart als transzendent aufgefasstes Ich nur dann transzendent ist, wenn es, anders als ein persönliches Ich, parteiischen, also spaltenden Impulsen nicht unterliegt, ist der Begriff transzendentes Ich als Hilfsmittel des Denkens vertretbar. Ein transzendentes Ich ist eine Instanz, die die Wirklichkeit, die sie wahrnimmt, als Ausdruck ihrer selbst anerkennt. Sie nimmt das Wahrnehmbare als das an, was es ist und gesteht ihm damit Wirklichkeit zu. Besser als der Begriff transzendentes Ich scheint der des Absoluten Selbst dazu geeignet, auf das zu verweisen, was damit gemeint ist.
Ich und Selbst
Absolutes Selbst | ||
Nimmt wahr, was ist. | Persönliches Ich / relatives Selbst | |
Entwirft das Selbstbild. | Individuelles Ich | |
Begreift sich als Gegensatz zum Nicht-Ich. | Handelt eigennützig. Wirkt zum eigenen Vorteil. |
Das Absolute Selbst ist selbstwahrnehmendes Sein. Es ist Sat und Chit in einem.
Das vorliegende Schaubild ist hübsch anzusehen. Zugleich verrät es den Hochmut des Egos, das sich, verführt durch das Maß an Intelligenz, das es bei sich selbst feststellt, für die Krone der Schöpfung hält; und in der Folge das persönliche Ich dem individuellen überordnet. Es glaubt, dem Absoluten Selbst näher zu sein, als das Leben an sich, sodass es aus erhöhter Position darauf herabblicken kann.
Richtig ist, dass das persönliche Ich eine Fortentwicklung des individuellen ist. Es baut auf dem individuellen auf, indem es dessen Bewusstsein durch das Selbstbild bereichert und das Individuum dadurch in eine Person verwandelt, die gezielter in die Wirklichkeit eingreifen kann, als ein Individuum, dem es an Selbstbewusstsein fehlt. Trotzdem steht die Person nicht über dem Leben, sondern ist eine ihrer selbst bewusste Sonderform, deren Existenz aus dem individuellen Ich hervorgeht. Richtiger ist daher das folgende Schaubild. Es beschreibt das persönliche Ich nicht als Krone der Schöpfung, sondern als Leihgabe des Lebens, dem es sich verdankt.
Ich und Selbst · Alternatives Modell
Absolutes Selbst | ||
Nimmt wahr, was ist. | Individuelles Ich / relatives Selbst | |
Handelt eigennützig. | Persönliches Ich | |
Wirkt zum eigenen Vorteil. | Begreift sich als Gegensatz zum Nicht-Ich. Entwirft Selbstbild. |
Das Absolute Selbst erkennt entrückt, neutral und unparteiisch. Einen Tropfen seiner Fähigkeit, Prozesse zu bestimmen, verleiht es an das persönliche Ich. Das Ich ist eine Hypothese der Gegensätzlichkeit. Es interpretiert die Welt aus der Polarität einer dualistischen Spaltung. Von dort aus kann es sich auf das Ganze ausrichten oder es kann tun, was ihm als separate Instanz selektiv nützlich erscheint.
Das selbstbewusste Individuum begegnet der Wirklichkeit aus seinem Welt- und Selbstbild heraus. Deshalb ist das Selbstbild für sein Verhalten von großer Bedeutung.
In der Regel interpretiert der Einzelne die Wirklichkeit vor dem Hintergrund eines egozentrischen Selbstbilds. Egozentrisch heißt: Er geht davon aus, dass er selbst und sein Ich deckungsgleich sind. Er geht davon aus, dass seine Person zugleich er selbst ist, sodass er das Zentrum seiner selbst in seinem persönlichen Ich verortet. Das egozentrische Ich setzt sich mit seinem relativen Selbst gleich. Es folgt dem Prinzip der Immanenz (lateinisch in = innen und manere = bleiben).
Der Lupeneffekte führt zugleich zu einer Überschätzung. Da dem individuellen Ich der Inhalt seiner Daseinskapsel übergroß vor Augen steht, hält es ihn für wichtig. Weil es ihn für wichtig hält, kann es den Blick nicht von ihm lassen. Jedes Ich ist in dem Wenigen gefangen, das es für das Universum hält.
Auch in religiösen Dingen wirken Lupeneffekte. Gebete und Meditationen sind unbedenklich, wenn man im Auge behält, dass sie nur wenig bedeuten. Sobald man sie für wichtig hält, können sie gefährlich werden, weil sie die Illusion des Egos vertiefen, durch seine Taten bedeutend zu sein. Gebete können Größenwahn verstärken; vor allem, wenn man sich zwecks Steigerung ihrer Wirksamkeit zu Boden wirft und Hochmut dann für Demut hält.
Wer versteht, wie klein die Dinge sind, die durch die Linse vergrößert werden, kann den Raum betreten, der über dem Gekrümmten steht.
Betrachtet man das Wesen des relativen Selbst genauer, stellt man fest, dass es aus vorübergehenden Erscheinungen besteht, die auftauchen, eine Zeitlang erkennbar bleiben und dann wieder verschwinden. Was erscheint, ist jedoch Erscheinung. Es ist kein Sein an sich. Es hängt von Bedingungen ab, die sein Erscheinen eine begrenzte Zeit lang bewirken. Das wahre Selbst kann also nicht allein im Erschienenen liegen. Es muss auch sonst wo sein. Mehr noch: Die Essenz seines Wesens muss jenseits der Erscheinung liegen; wobei weder wo noch jenseits topographische Koordinaten sind, die auf einen physikalisch anderen Ort verweisen.
Die egozentrische Weltsicht hat schwerwiegende Konsequenzen, die das Wohlbefinden des Individuums beeinträchtigen:
Indem das Ego seine Erscheinung für sein wahres Sein hält, fühlt es sich ständig vom Untergang bedroht; denn alles, was das relative Selbst ausmacht, neigt sich seinem Ende zu. Aus dieser Todesangst heraus setzt es alle Hebel in Bewegung, um das vermeintlich Seiende, tatsächlich aber nur Erscheinende, vor dem Untergang zu retten. Dazu versucht es sich selbst zu optimieren, seine Macht zu steigern und die Welt zu seinem Vorteil umzugestalten. Dabei versteigt sich das egozentrische Ich nur allzu leicht ins Böse. Aus seiner Angst werden Hass und Gier, die keine Rücksicht nehmen.
Der Depressive hält sich für minderwertig. Da das Minderwertige keinen Platz beim Vollwertigen hat, zieht er sich aus Kontakten zurück, oder wagt es bestenfalls, dienende Rollen einzunehmen. Wer sich immer nur als Diener anderer betätigt, bestätigt sich selbst, nur wenig wert zu sein. Der Kreislauf ist geschlossen; selbst wenn der depressive Mensch zur Abwehr seiner Selbstwertzweifel Dienst zum Ideal erklärt. Die Idealisierung des Dienens bleibt ein Pflaster, das über einer Wunde klebt.
Selbstbewertung ist eine Fähigkeit, aber auch ein Problem des persönlichen Ich. Klar: Erst wenn ein Selbstbild besteht, kann es moduliert werden. Das individuelle Ich, dem ein Selbstbild fehlt, handelt sich selbst entsprechend. Es bleibt in den Kontext eingebettet und bewertet von dort aus Situationen. Bevor es handelt, beurteilt es zwar die Lage, aber nicht sich selbst. Das persönliche Ich tut das. Indem es über sich ein Urteil fällt, spaltet es sich auf: in ein Über, das das Urteil fällt und ein Unter, das dem Urteil unterworfen wird.
Die Aufspaltung kann der Keim zu einer Ablösung sein, die dazu führt, dass die Person sich aus der Identifikation mit ihrem individuellen Ich löst und so ihr absolutes Selbst entdeckt. Entdeckt sie es nicht, führt die Aufspaltung zu einer Irrfahrt durch die Schrecken einer Wirklichkeit, in der nicht nur äußere Fakten drohen, sondern von innen auch noch Urteile, die im schlimmsten Fall vernichtend sind.
Weil es grundlegend für das Verständnis ist, sei erneut darauf verwiesen: Jedes Ich existiert in einem Umfeld, das seine Existenz in Frage stellt. Anders als ein Stein ist jeder lebendige Partikel dazu gezwungen, etwas zu tun, um sein Dasein fortzusetzen. Unterlässt er es, geht er zeitnah unter. Stellt der Mensch die Atmung ein, hat er noch 2-3 Minuten zu leben. Trinkt er nichts, ist er in ein paar Stunden oder Tagen tot. Zum Verhungern braucht man ein paar Wochen.
Die gesamte Aktivität eines Lebewesens kann auf Impulse zurückgeführt werden, durch die es der Vergänglichkeit seines Daseins Widerstand entgegensetzt. Sie kann drei Motiven zugeordnet werden:
Jedes Grundmotiv wird durch ein Spektrum konvergenter Verhaltensweisen umgesetzt. Folgende Tabelle gibt einen Überblick.
Grundmotive und ihre Ausdruckarten
Aneignung | Bewahrung | Abwehr |
einverleiben, erbeuten, erlernen, erobern, erkennen, erringen, erwerben, erzielen, sammeln, schlucken, gewinnen, greifen, nehmen, verdauen, vereinnahmen | aufbewahren, beibehalten, erhalten, festhalten, ordnen, pflegen, reparieren, sichern, schonen, sparen, verwalten | abwenden, beschützen, misstrauen, sich sträuben, sich weigern, vereiteln, verhindern, sich verschließen, verstecken, verteidigen, zurückweisen |
Aneignung steht am Beginn eines jeden Lebens. Nicht nur, dass sich der Embryo Substanzen aneignet, um daraus einen Körper zu formen, auch unmittelbar nach der Geburt ist Aneignung das erste, was es für den Säugling zu tun gibt: Durch den ersten Atemzug eignet er sich den Sauerstoff an, der sein Überleben bis zu den nächsten möglich macht.
Das Wichtigste, was sich ein lebender Partikel zeitlebens aneignet, sind Substanzen, die für das Überleben der biologischen Komponente seines Organismus unentbehrlich sind: Sauerstoff, Wasser, Nahrungsmittel. Während die Heuschrecke mit den drei genannten Gütern auskommt, um ihr Dasein zu fristen, eignen sich höhere Lebewesen darüber hinaus Reviere, Unterkünfte oder Werkzeuge an.
Lebewesen, die sich sexuell vermehren, sind nicht nur auf Substanzen und Objekte angewiesen. Sie brauchen einen Partner, mit dessen Hilfe sie ihre Gene auf Nachkommen übertragen. Ein solcher Partner wird umworben und sich angeeignet. Nach erfolgreicher Werbung wird er als Eigentum betrachtet und gegen Konkurrenten verteidigt. Die Übertragung der Gene auf die nächste Generation ist eine Variante des Widerstands gegen die Vergänglichkeit. Die ältere Generation vergeht. Ihr Bauplan bleibt jedoch erhalten.
Der Mensch ist zur Sicherstellung seines Überlebens nicht nur auf Instinkte angewiesen, die im weisen Auftrag der Natur die Dinge regeln. Seinem Organismus ist ein Bewusstsein zugeordnet, das die Strategien der Aneignung systematisch optimiert. Damit baut er einen komplexen Besitzstand auf, der seine Lebensdauer verlängert.
Speichervolumen
Durch die Erfindung des Geldes wurde das Anhäufen lebensverlängernder Güter erleichtert. Welcher Neandertaler wäre in der Lage gewesen, eine Tonne Fleisch mit sich herumzutragen? Seitdem man Beute zu Geld machen kann, geht das. Geld ist eine Konserve, die nur aus Zahlen besteht. Darüber hinaus hat es keine festen Eigenschaften. Als Geld kann man lebensverlängernde Güter in unbegrenzter Menge speichern.
Im Gegensatz zur Heuschrecke ist der Mensch ein soziales Wesen. Er setzt seine Grundimpulse nicht nur ein, um sich notwendige Substanzen zu verschaffen. Vielmehr baut er soziale Systeme und Kulturen auf, in deren Strukturen der größte Teil seines Lebens stattfindet. Innerhalb dieser Strukturen gibt es nicht nur materielle, sondern auch eine Menge ideeller Güter, die man erwerben kann und deren Besitz dem eigenen Vorteil dient. Man kann sie in zwei Gruppen aufteilen: in soziale und kognitive Güter.
Ideelle Güter, die man sich aneignen, gewinnen und erwerben kann
soziale Güter | kognitive und mentale Güter |
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Zwischen den Kategorien gibt es Überschneidungen. So können Verdienste ein gutes Gewissen bewirken. Sie führen aber auch dazu, von außen anerkannt zu werden.
Sowohl der Erwerb materieller als auch der Erwerb ideeller Güter läuft auf ein emotionales Ziel hinaus: Zufriedenheit. Zufriedenheit ist das eigentliche Gut, das den Impuls zum Erwerb aller übrigen reguliert. Wer zufrieden ist, stellt den Versuch ein, sich darüber hinaus etwas anzueignen. Wer zufrieden ist, sträubt sich nicht gegen das, was er erlebt. Wer zufrieden ist, geht davon aus, dass es momentan nichts zu tun gibt, um sich drohender Vergänglichkeit zu widersetzen.
Die zweite Strategie des Widerstands gegen die Vergänglichkeit ist das Bewahren erworbener Güter. Sich etwas anzueignen, ist der erste Schritt. Das Angeeignete vor Verlust zu bewahren, ist der zweite.
Gesetzt, unserem Säugling geht es, seitdem er atmet, gut. Durch die Atmung hat er sich nicht nur Sauerstoff verschafft. Er hat einen angenehmen Zustand erreicht mit dem er zufrieden ist. Solange der Zustand anhält, unternimmt er nichts. Allein: Der Zustand hält nicht an. Im Säugling keimt Unbehagen auf. Er tut etwas, um die bisherige Zufriedenheit zu bewahren. Er schreit. Aufgeschreckt von den verzweifelten Rufen zückt die Mutter ihre Brust. Sie ermöglicht es dem Säugling, sich anzueignen, was er höchstwahrscheinlich will: Milch. Es gelingt dem Säugling, die schwindende Zufriedenheit zu sichern.
Jahre später ist aus dem Säugling ein Erwachsener geworden. Hunderttausend Episoden hat er bis dahin durchlebt, die die Aneignung begehrter Güter und das Bemühen, sie nicht wieder zu verlieren, zum Thema hatten. Die beiden Elemente - Aneignung und Bewahrung - werden sein Leben in immer neuen Varianten auch weiterhin bestimmen.
Wohlgemerkt
Hier wird Bewahrung als zweite Strategie bezeichnet, so, als trete das Motiv erst auf den Plan, nachdem sich der lebendige Partikel etwas angeeignet hat, das im zweiten Schritt zu bewahren wäre. Tatsache ist jedoch, dass das Grundprinzip des Lebens überhaupt in der Selbstbewahrung liegt, und dass es sich auf Grund dieses Prinzips der Vergänglichkeit widersetzt. So mag es sein, dass es zeitlich gesehen erst etwas zu bewahren gibt, nachdem es angeeignet wurde, logisch geht das Motiv der Bewahrung dem der Aneignung aber voraus. Lebendiges eignet sich nur deshalb etwas an, weil es Leben aktiv bewahrt. Lebendiges entsteht nicht aus sich selbst. Es entspringt einem Motiv, das vor jedem lebendigen Partikel in der Wirklichkeit bereits angelegt war.
Im Leben gilt es nicht nur, sich Gutes anzueignen und daran festzuhalten. Es gilt in gleichem Maße, Übel, die von außen kommen, abzuwehren. Übel sind Verluste, die Besitzstand oder Fähigkeiten durch äußeren Einfluss schmälern. Solche Übel können der physikalischen Umwelt entspringen. Kälte entzieht dem Körper Wärme, Hitze trocknet ihn aus. Spitze Steine hinterlassen Schrammen an den Füßen. Oder die Übeltäter gehören zur biologischen Umwelt: Schlangen, Wespen, Moskitos, Giftpilze, Viren und Dornengestrüpp. Vor all dem muss man auf der Hut sein, sodass eine wesentliche Funktion des Ichs daraus besteht, der Welt mit Vorsicht zu begegnen. Um nicht von den Übeln der Welt überrannt zu werden, muss das Leben schnell sein. Es sträubt sich gegen alles, was in Verdacht gerät, zu schaden.
Schon in der Steinzeit lebte man in Gemeinschaften, die nicht nur vor Gefahren schützten, sondern ihrerseits eine Quelle schädlicher Einflüsse waren. Der Mitmensch ist bekanntlich nicht nur Freund. Er ist auch Konkurrent, Mitesser, Neider und Feind. Je komplexer Gesellschaften werden, desto größer wird die Gefahr, dass Zugriffe auf den Einzelnen aus übergeordneten Strukturen heraus erfolgen, die er nicht abschütteln kann. In der Gemeinschaft zu leben, heißt zugleich, sich vor der Gemeinschaft zu schützen.
Kurzfassung
Wirklich? Die gesamte Aktivität eines Menschen soll auf drei einfache Muster zurückzuführen sein? Auf den ersten Blick mag man sich dagegen sträuben, ein Lebewesen, das so komplexe Strukturen und Leistungen hervorbringt wie der Mensch, auf drei Grundprogramme zu reduzieren. Wohlgemerkt: Man sträubt sich! Und was tut man damit? Man führt eines der drei Programme aus: nämlich etwas abzuwehren, was im Verdacht steht, schädlich zu sein. Gleich werden wir sehen, dass der Verdacht unbegründet ist. Die Einteilung menschlicher Aktivitäten in drei Kategorien schadet uns keinesfalls. Sie bietet vielmehr die Möglichkeit, uns einen Überblick über unsere Taten zu verschaffen, der uns effektiv dabei helfen kann, mit dem Leben zurechtzukommen. Wissen ist Macht. Wer weiß, was er tut, kann es lenken.
Farbenlehre und Periodensystem
Um die potenzielle Kränkung zu beheben, die die Reduktion unseres Daseins auf drei Grundprogramme nach sich ziehen kann, gibt es ein einfaches Mittel: den Vergleich mit der Farbenlehre und dem Periodensystem der Elemente.
Aus nur drei Farben können Milliarden anderer Farbtöne gemischt werden. Der Tintenstrahldrucker benutzt Gelb, Magenta und Cyan. Kunstmaler sprechen von Gelb, Rot und Blau.
Es ist also unnötig, die Reduktion des menschlichen Verhaltens auf drei Grundprogramme als ehrenrührig aufzufassen.
Untersucht man alltägliche Entscheidungen, stellt man fest, dass dabei oft Überlappungen bzw. Kombinationen der drei Grundmuster am Werke sind. Greifen wir erneut das Beispiel des Säuglings auf: Sein Versuch, einen angenehmen Zustand zu bewahren, ist zugleich die Abwehr eines unangenehmen. Durch die Aneignung der Milch wird der angenehme Zustand bewahrt. Alle drei Grundsatzprogramme - Bewahrung, Abwehr und Aneignung - sind aktiv.
Psychopathologie ist die Lehre (griechisch logos [λογος]) vom Leiden (pathos [παθος]) der Psyche. Im engeren Sinne sind damit seelische Zustände gemeint, die so stark von der Normalität abweichen, dass sie als krankhaft gelten.
Gelitten wird aber nicht nur von Leuten, bei denen der Arzt eine Diagnose stellt. Gelitten wird überall. Zwischen krank und gesund gibt es keine klare Grenze, sondern fließende Übergänge, die vom einen zum anderen führen. Welches Leid der Einzelne hinnimmt, hängt von der Einschätzung ab, ob er etwas ändern könnte oder ob es Sinn macht, momentanes Leid zu akzeptieren, weil es der Weg zu etwas Höherem ist.
Die Vergänglichkeit bringt es mit sich, dass Zufriedenheit immer wieder verloren geht und neu gewonnen werden muss.
Da das momentane Wohlbefinden nur bei glücklich Verliebten dem Optimum entspricht, ist der Mensch im Normalzustand unterschwellig unzufrieden. Er will mehr als das, was das Leben ihm bietet. Das löst eine Kettenreaktion aus: Wer unzufrieden ist, wertet ab, was er erlebt. Was er erfährt, genügt ihm nicht. Wer das, was er erfährt, für ungenügend hält, stellt den Wert seiner Erfahrung und damit sich selbst infrage. Wer den vollgültigen Wert seiner selbst infrage stellt, wird noch unzufriedener, als er sowieso schon ist. Das verführt ihn dazu, sich weiter abzuwerten.
Daher heißt es im Umkehrschluss: Wer sich nicht gegen das sträubt, was er erlebt, sondern es annimmt, kann Zufriedenheit finden.
Leid ist ein Phänomen, das grundsätzlich nur denjenigen trifft, der sich seiner bewusst ist. Bewusstsein ist aber nicht nur die Grundbedingung dafür, dass man leidet. Es ist auch das Werkzeug, um zu verstehen, warum man es tut. Versteht man, worunter man leidet, steigen die Chancen, dass man Mittel und Wege findet, das Leid zu beenden. Erfahrungen werden durch die jeweiligen Aktivitäten der drei Grundimpulse gesteuert; und durch das Ausmaß der Konflikte, in die sie geraten. Bei angemessener Aktivität sind die Grundimpulse segensreich. Bei überschießender Aktivität verursachen sie grundsätzliche Probleme.
Pathogene Zuspitzungen der Grundimpulse
Aneignung | Bewahrung | Abwehr |
Gier | Geiz | Paranoia |
Ein Grundimpuls spitzt sich pathogen zu, wenn er die Kontrolle über jede Lebensäußerung erringt.
Hinter jeder Zuspitzung steckt unreflektierte Angst vor der Vergänglichkeit. Der Unersättliche glaubt, dass ihn endlose Anhäufung retten kann. Der Geizige glaubt, dass er kein Werkzeug gegen den Untergang aus der Hand geben sollte. Der Misstrauische glaubt, er sei sicher, wenn er sich jedes Übel vom Leibe hält, das ihn von außen treffen könnte. Und er glaubt, dass er Übel und Segen eindeutig voneinander unterscheiden kann.
Die Überaktivität des Aneignungsimpulses kann exemplarisch in einem Essverhalten zum Ausdruck kommen, das durch ein Übermaß an Zufuhr zu gesundheitlichen, psychologischen und sozialen Problemen führt. Der Esssüchtige ist so vom Drang, sich etwas einzuverleiben, in Beschlag genommen, dass er den Moment übersieht, ab dem ihm die Aneignung schadet. Auch bei anderen Süchten kann der ungebremste Eifer, sich durch Hilfsmittel angenehme Befindlichkeiten zu verschaffen, auf eine Überaktivität der Grundimpulse zurückgeführt werden:
Wie mächtig der Aneignungsimpuls nicht nur Individuen bestimmt, sondern ganze Gesellschaften, wird an der Aufmerksamkeit deutlich, mit der das jährliche Wirtschaftswachstum beobachtet wird. Verfehlt es die Erwartungen, schrillen allenthalben Glocken des Alarms; als sei ein ständiges Mehr an materiellen Gütern das Einzige, was die Welt vor dem Untergang und das Dasein vor der Sinnlosigkeit bewahren könnte.
Der Aneignungsimpuls ist ein uraltes Programm der Phylogenese. Während das Leben über Jahrmillionen hinweg kaum mehr zur Aneignung anbot, als das, was das Individuum für das Überleben unbedingt brauchte, liegen heute in jedem Supermarkt Berge von Gütern bereit, die man erwerben kann. Und selbst, wenn man alles erworben hat, was man beim besten Willen zu irgendetwas gebrauchen könnte, wird der Aneignungsimpuls kaum je arbeitslos. Wenn er nicht mehr weiß, was er sonst noch erwerben könnte, erwirbt er Geld; als Tauschmittel für Güter, die er später erwerben könnte. Die Summe nach oben ist offen.
Tanhā
Die ostasiatische Philosophie beschreibt als Ursache endlosen Leidens einen Durst (Pali: Tanhā तृष्णा), der ständig nach neuen Inhalten sucht, ohne je durch einen Inhalt gestillt werden zu können. Solange die Präsenz des unstillbaren Durstes unbewusst bleibt, bestimmt er aus dem Hintergrund der Person heraus deren Verhalten. Sie ist stets auf der Suche nach einer Erfüllung, die sie ohne Einsicht in die Unstillbarkeit dieses Durstes nie finden kann.
Der Impuls, sich etwas anzueignen, zielt nicht nur auf materielle Güter ab. Im Gegenteil: Wichtiger als Geld und Gegenstände sind für die meisten Menschen Liebe, Zuwendung, Lob und Bestätigung. Auch hier kann der Aneignungsimpuls so übermächtig sein, dass der Preis, den er fordert, den Gewinn überwiegt.
Wertschätzung, Bewahrung und Pflege erworbener oder vom Leben vorgegebener Güter macht Sinn. Vorgegeben ist der Körper mit all seinen Begabungen, aber auch das soziale Umfeld, in das der Einzelne von Geburt an eingebettet ist. Erwerbbar ist all das, was oben aufgelistet wurde.
Der Impuls, Werte zu bewahren, schießt oft über das hinaus, was angemessen erscheint. Vom klugen Wirtschaften geht es über notorische Sparsamkeit zu einem Geiz, der den Bewahrungsimpuls ad absurdum führen kann. Eigentlich ist der Impuls dafür da, Güter zur weiteren oder späteren Verwendung bereitzuhalten. Beim Geiz werden Güter aber nur noch bewahrt, statt tatsächlich verwendet; es sei denn für den psychologischen Zweck, sich durch ihren Besitz vor drohender Not geschützt zu fühlen.
Es stimmt schon: Wie man selbst sind andere Leute auch Egoisten. Wie bei einem selbst laufen auch in deren Köpfen drei Programme, die damit beschäftigt sind, ihren Bestand zu sichern; gegebenenfalls auf Kosten anderer. Ein gesundes Misstrauen gegen alle, die man nicht wirklich kennt, ist daher sinnvoll; und gegen solche, die man kennt, nicht selten auch.
Eine der einflussreichsten Verschwörungstheorien ist die, dass alle übrigen Verschwörungstheorien ausschließlich Verschwörungstheorien sind.
Blauäugig durchs Leben laufen nur Kindsköpfe, die so von ihrem Hunger nach Liebe besessen sind, dass sie es gar nicht erst wagen, anderen Leuten etwas anderes zu unterstellen, als voll bester Absichten zu sein. Die als eigennützig Verdächtigten könnten böse werden und gekränkt die erhoffte Liebe verweigern. Der Himmel bewahre uns davor, so böse zu sein, anderen etwas Böses zuzutrauen!
Wird das Misstrauen zum Schutz vor schädlichen Einflüssen aber überwertig, kommt es zu einer Grundhaltung, die man als latent paranoid bezeichnen könnte. Zu allem, was von außen kommt, sagt der Paranoide grundsätzlich nein. Der Paranoide traut anderen durchaus Böses zu: nicht nur das, wozu sie aus eigenem Antrieb bereit sein mögen, sondern durch Projektion zusätzlich das, was zu seinem eigenen Repertoire gehört. Durch die Überaktivität seines Abwehrprogramms schneidet er sich vom Leben ab; mit allen Folgen, die das für ihn haben kann.
Verliert das Programm zur Abwehr schädlicher Einflüsse den Kontakt zur Realität, erfindet es sich zum Ersatz eine neue. Darin komponiert es Versatzstücke der Wirklichkeit so geschickt zu scheinbar logischen Konstrukten, dass es auch jeden heilsamen Einfluss von außen als vermeintlich üble Machenschaft abwehrt. Nichts, was von außen kommt, kann den Paranoiden aus dem Burgverlies seines Misstrauens befreien. Auch Engel mit tausend guten Gaben nicht.
Kooperationen
Am Beispiel der Sucht wurde bereits dargelegt, dass die Selbsterhaltungsprogramme des individuellen Ichs miteinander kooperieren. Der Einsatz von Alkohol, Drogen oder süchtiger Verhaltensweisen dient in einem Zuge der Aneignung und Bewahrung erwünschter sowie der Vermeidung unerwünschter Befindlichkeiten. Sobald die Wirkung der Droge nachlässt, macht sich das Bewahrungsprogramm ans Werk, um den Verlust des angenehmen Zustands zu verhindern. Es meldet der Abteilung Aneignung, dass die Zeit gekommen ist, die nächste Dosis einzunehmen.
Auch bei anderer Gelegenheit arbeiten Bewahrungs- und Abwehrprogramm Hand in Hand: Wer vorsorglich seine Holzterrasse ölt, um sie vor der Witterung zu schützen, tut das, um die unerfreuliche Erfahrung abzuwehren, die er machen müsste, wenn die Terrasse unter ihm zusammenbricht. Um ihre Gemeinschaftsaktion gegen die Vergänglichkeit durchzuführen, brauchen sie Hilfe von Programm Nummer 1. Die Abteilung Aneignung erteilt dem Ich einen Auftrag: Kaufe ÖL!
Auch bei der Aneignung weiterer Vermögenswerte oder dem Erwerb sozialer Anerkennung leistet das Bewahrungsprogramm Beihilfe. Weder Reichtum noch die Anerkennung durch das Umfeld sind Güter, die den dauerhaften Fortbestand einer sorgenfreien Daseinsweise garantieren. Um den einmal erzielten Zustand vor dem Verfall zu bewahren, schlägt das Bewahrungsprogramm den Kollegen im Aneignungsministerium vor, ihre Aktivitäten zu überprüfen. Deren Gutachten ergibt einmal mehr, dass Mehr die beste Lösung zur Abwendung des drohenden Unheils ist.
Im Alltag ist die Sache noch komplexer. Die drei Grundimpulse spitzen sich aus lauter Angst vor dem Untergang nicht nur zu. Und sie kooperieren bei Übertreibungen nicht nur miteinander. Zu allem Überfluss kommen sich die Programme durch Konkurrenz um die Vorherrschaft auch noch in die Quere. Dadurch verheddern sich rivalisierende Impulse in scheinbar unlösbare Konflikte. Oft ruft es in der Seele sowohl Hü als auch Hott. Stillstand und chronischer Unfrieden sind quälende Folgen.
Im Falle des oben erwähnten Säuglings, dessen schwindende Behaglichkeit durch Muttermilch gerettet wurde, ist eine bestimmte Variante erkennbar: Alle drei Grundsatzimpulse ziehen an einem Strang. Bei dem, was der Säugling tut, leidet er nicht unter Zielkonflikten. In seinem weiteren Leben werden die Dinge schwieriger sein. Impulse ziehen nicht immer am gleichen Strang. Oft ringen sie um die Entscheidung, in welche Richtung das Leben weitergeht. Eine Handvoll zufälliger Konstellation, wie sie im Leben alltäglich sind, genügt, um die Vielfalt der Varianten anzudeuten.
Paul hat im Kindergarten Bauklötze in seinen Besitz gebracht. Da kommt Florian daher und will sie ebenfalls. Paul gerät in Konflikt. Einerseits würde er gerne Florians Sympathien erwerben, andererseits will er das, was er hat, nicht verlieren. Soll er sich als neues Gut die Freundschaft Florians erwerben, oder die Bauklötze für sich behalten?
Katrin wird von der Chefin abkommandiert, neue Mitarbeiter durch die Firma zu führen. Dazu hat sie keine Lust. Zumal sie noch die Präsentation für Donnerstag fertigstellen muss. Nimmt sie den Auftrag an, hat sie noch mehr Stress als sowieso. Sträubt sie sich, kostet das Sympathien. Beugt sie sich, bringt es welche ein.
Noch begehrenswerter ist Yasmin. Wenn Phillip um sie anhält, könnte er einen Korb erhalten. Was soll er tun? Sich um Yasmin bemühen? Oder durch vorgespieltes Desinteresse vorsichtshalber dafür sorgen, dass ihm der Korb auf jeden Fall erspart bleibt?
Bei diesen Konstellationen wird zweierlei deutlich:
Bei der Gestaltung einer jeden sind drei Grundimpulse aktiv. Es geht jeweils um die Aneignung bzw. den Erwerb neuer Vorteile, um das Festhalten an Gütern, die man nicht hergeben will und um die Abwehr von Erfahrungen, die schmerzhaft oder schädlich sind. Jede Konstellation kann durch die drei Grundfunktionen des Egos beschrieben werden.
Wir erinnern uns: Was der Buddhismus als Nirvana bezeichnet, ist ein befreites Bewusstsein. Das Bewusstsein befreit sich, indem es seine Fesseln erkennt und durch die Einsicht in deren Wirkweise fähig wird, sich ihrem Zugriff zu entziehen. Die Untersuchung des Ichs hat gezeigt, woraus die Fesseln bestehen. Sie bestehen aus drei Programmen, die das Verhalten einer jeden Person im Alltag automatisch steuern. Automatisch heißt: Sie steuern auch dann, wenn man sich ihrer Funktion nicht bewusst ist. Der erste Schritt auf dem Weg zum befreiten Bewusstsein besteht daraus, sich die Ursachen der Unfreiheit bewusst zu machen.
Die Programme sind angeboren. Sie dienen dem Schutz des Lebens und sind so tief damit verbunden, dass sie unverzichtbar sind.
Wie Dienstprogramme eines Computers starten die Schutzprogramme des Lebens mit der Zeugung. Zumindest im Hintergrund laufen sie rund um die Uhr. Auch im Tiefschlaf eignet sich der Organismus Sauerstoff an, bewahrt sein physiologisches Gleichgewicht und schützt sich unbewusst gegen Kälte. Bei verdächtigen Geräuschen wacht er auf, um sich abzusichern.
In jedem Organismus, der eine Überlebenschance hat, sind die Programme in variabler Stärke angelegt. Über die angeborene Variabilität hinaus, wird die Programmaktivität durch Erfahrungen moduliert, die der Einzelne im Leben macht. Manche Erfahrungen schwächen die Impulse ab. Andere steigern sie. All das geschieht kaum je bewusst.
Bis vor kurzem hatte es die Evolution nur mit den Exemplaren unzähliger Spezies zu tun, die außerstande waren, das Leid des Daseins mit jener Intensität zu erleben, zu der der Mensch durch die bewusste Reflektion seines persönlichen Schicksals imstande ist. Die Exemplare pflanzlicher und tierischer Spezies sind Sklaven der Evolution, die sie willkürlich benutzt und verbraucht, um Baupläne auszuprobieren. Die Evolution steuert ihre Sklaven mithilfe der Programme; ohne Rücksicht, wie es dem einzelnen Exemplar dabei ergeht.
Der Mensch wird von den gleichen Programmen gesteuert. Er wird von Programmen gesteuert, die so simpel sind, dass sie selbst Maulwürfen, Motten und Mäusen genügen. Er wird von Programmen gesteuert, die blind nach etwas greifen, das er sich einverleiben kann, damit er mehr Gewicht bekommt. Im Gegensatz zur Motte ist sich der Mensch jedoch seiner individuellen Existenz bewusst. Er ist Person. Die Aktivität der Programme wird bei ihm in ein egozentrisches Projekt eingespeist, das über die Intelligenz verfügt, den Zugriff der Programme auf ein Spektrum von Bezügen zu erweitern, von deren Vielschichtigkeit die Motte nicht einmal träumen kann.
Während der Geist des Menschen versucht, sich in den Himmel zu heben, zwingt ihn die Macht blinder Programme dazu, sich an Erde zu mästen. Obwohl er sich erheben will und nach Erhabenheit sehnt, beugt ihn der Zwang in den Horizont seines Egos. Um das beenden, gilt es, aus Blindheit und Verblendung aufzuwachen. Buddha heißt der Erwachte. Buddhismus ist der Weg des Erwachens. Buddhisten sind Leute, die aus dem Joch blinder Begierden erwachen wollen.
Der Weg in die Freiheit ist das Ende der Knechtschaft. Knechtschaft heißt, von Kräften bestimmt zu werden, über die man nicht bestimmen kann, weil man sie nicht erkennt. Das normale Bewusstsein steht unter der Herrschaft blinder Begierden, das erwachte hat die Blindheit der Begierden erkannt.
Die Methode ist problematisch. Meist bewirkt sie das Gegenteil von dem, was sie bewirken soll. Statt das Ego zu zähmen, stärkt sie es. Die Ursache ist klar: Der Vorsatz, sich durch Selbsterniedrigung ans Glück zu putschen, ist seinerseits ein egozentrischer Plan, bei dem der Aneignungsimpuls bis zum Anschlag aktiviert wird. Wie soll das gehen? Mit aller Macht ein Glück zu begehren, das nur erlebt, wer nichts begehrt?
Weise Menschen scheuen Extreme. Sie gehen den Mittelweg. Zu Recht! Der Himmel hat dem Menschen das Ego nicht eingepflanzt, damit der es in seiner Gier wieder ausreißt. Der Himmel hat dem Menschen neben dem Ego aber die Möglichkeit gegeben, durch Einsicht in dessen begrenztes Potenzial, über es hinauszugehen.
Auf dem Weg ins Nirvana gilt es keineswegs, das Ego auszumerzen. Es gilt, ihm geduldig aufzuzeigen, dass es Besseres gibt, als immer nur flüchtige Teile der Welt zu erwerben. Wenn das Ego sieht, dass es besser ist, im Zentrum seiner selbst zu sein, als bei dem, was vergeht, hört es auf, zu begehren, was es zum Glück nicht braucht. Das Glück ist nichts, was der Person gehören könnte. Sie erlebt es, sobald sie versteht, wie sie es verhindert.
Nachdem uns klar geworden ist, wodurch die Verstrickung in Verblendung, Gier und Angst verursacht wird, gilt es nun, die Fesseln zu lösen. Die rein intellektuelle Erkenntnis der psychodynamischen Zusammenhänge reicht dazu nicht aus. Man muss sich mehr Mühe geben. Viel mehr! Im Grunde ist die Lösung aber gar nicht so schwer.
Üben Sie, die Komponenten, aus denen sie bestehen, den jeweiligen Grundprogrammen zuzuordnen.
Legen Sie den Schwerpunkt zunächst auf die Analyse der jeweiligen Erfahrung. Um etwas sinnvoll zu verändern, muss man es zuerst verstehen. Es macht wenig Sinn, einen Weg einzuschlagen, wenn man den Falschen nicht erkennt.
Machen Sie dadurch neue Erfahrungen, die Ihr bisheriges Bild von sich selbst und der Wirklichkeit verändern.
Eine Möglichkeit, um die Übermacht der Impulse zu verhindern, ist es, der Vergänglichkeit so lange ins Auge zu schauen, bis sie ihre Schrecken verliert. Passiert das, lässt die Aktivität der Schutzprogramme nach, weil die Angst vor der Vergänglichkeit ihre Triebfeder ist. Eine andere Möglichkeit beruht darauf, das Spiel der Impulse so gut zu verstehen, dass nicht sie das Leben kontrollieren, sondern man selbst die Impulse.
Der nächste Schritt könnte eine grundsätzliche Veränderung des Selbstbilds sein, die Sie, statt der Welt, in den Mittelpunkt Ihres Lebens rückt. Wenn Sie der Mittelpunkt Ihres Lebens sind, und nicht die Welt, nach der Sie greifen könnten, sind Sie an der Schwelle zum Nirvana angekommen. Planen Sie für den Weg dorthin lange Zeiträume ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie zu den wenigen gehören, bei denen es schnell geht, ist klein. Ob an der Schwelle zum Nirvana der letzte Schritt geschieht, müssen Sie dem Schicksal überlassen. Es liegt nicht in Ihrer Hand. Die Wahrscheinlichkeit, dass es geschieht, steigt mit jedem Schritt, den Sie in die richtige Richtung tun.
Viele Wege führen nach Rom. Viele andere führen zum Nirvana. Der aufgezeigte Weg ist einfach und gut planbar. Im Grundsatz kann ihn jeder gehen. Wie alle Wege, die in die Freiheit führen, verlangt aber auch er Beharrlichkeit. Ab und zu eine Erfahrung zuzuordnen, reicht nicht aus, um sich in einem überschaubaren Zeitraum so viel Klarheit über die Funktionsweise des Egos zu verschaffen, dass man über die Schwelle der Person hinweg zu sich selbst findet. Trotzdem zählt jeder Schritt. Jeder Schritt wird durch ein Stück Freiheit belohnt, selbst wenn das endgültige Ziel in weiter Ferne bleibt.
Ein Sprung oder viele Schritte
Der Weg in die Freiheit wurde schon oft beschrieben. Manche berichten von einem alles entscheidenden Sprung, andere von der Taktik der vielen Schritte. Es gibt keinen Grund, am Wahrheitsgehalt beider Varianten zu zweifeln.
Beim Sprung handelt es sich um einen plötzlichen Wechsel der Perspektive. Wie bei der Betrachtung einer Kippfigur, wird mit einem Mal ein Aspekt der Wirklichkeit erkannt, der bislang im Bild verborgen lag.
In einer Kippfigur erst einen Hasen und dann eine Ente zu sehen, ist in einer Minute erledigt, wenn man darauf hingewiesen wird. Die Wirklichkeit ist aber komplexer als eine einfache Kippfigur. Um tatsächlich die Einheit im Vielen zu sehen und aus der Illusion befreit zu werden, nur einer der vielen vergänglichen Teile zu sein, bedarf es einer inneren Bereitschaft. Diese Bereitschaft kann in der Regel nur durch sehr viele Schritte gebahnt werden.
Darüber hinaus ist der Wunsch, sich etwas anzueignen, schier unausrottbar. Er kann zwar verleugnet und geknebelt, aber nicht besiegt, sondern nur erfüllt werden. Endgültig erfüllt werden kann er nur durch das, was der Vergänglichkeit nicht unterliegt. Wodurch sonst?
Je nachdem, wovon man sich das Heil verspricht, wechseln im Laufe der biographischen Entwicklung die Objekte, nach denen man greift. Der diesseitsgläubige Mensch erhofft sich das Glück von Reichtum und materiellen Objekten, deren Besitz er für erstrebenswert hält. Hat er das Glück, seinen Irrtum zu durchschauen, macht sich sein Aneignungsimpuls über subtilere Güter her: Er wünscht, bestätigt, geliebt und anerkannt zu werden. Sein Denken kreist nicht mehr um das nächstbessere Produkt der Elektronikindustrie, sondern um die Frage, wie er andere dazu bringen kann, sich ihm wertschätzend zuzuwenden.
Wer genügend Anerkennung geerntet hat oder wem sie nicht so wichtig erscheint, begehrt im nächsten Schritt Wissen über allerlei, die Fähigkeit, Japanisch zu sprechen, die Vermutung von Eremenko zu beweisen oder die Gnossienne No.1 von Satie auf dem Piano zu spielen; obwohl er die Anerkennung, die er für derlei Künste einstreichen kann, auch nicht verschmäht.
Bloß, weil man sich selbst von der Einbuchung solchen Leistungen auf dem persönlichen Konto kein dauerhaftes Glück mehr verspricht, hat man den Aneignungsimpuls nicht zufrieden gestellt. Er verengt den Blick auch weiterhin auf den winzigen Horizont im Universum, den man für sich selber hält: die Person, die glaubt, ihr eigenes Ich zu sein.
Wenn der Hunger nun einem Punkt erreicht, wo nur noch der Griff nach transzendentalen Gütern Sättigung verspricht, mag der Aneignungsimpuls auf der Zielgeraden sein. Er ist aber noch lange nicht erfüllt.