Grundregeln
Das Verb meinen hat im Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen zwei Ahnen: mīan und měniti. Mīan hieß altirisch der Wunsch, das Verlangen. Měniti war das altslawische Wort für wähnen. Offensichtlich hat das Meinen mehr mit wünschen und wähnen als mit wissen zu tun. Auch das deutsche vermeintlich weist darauf hin, dass die Meinung eher beim Irrtum als bei der Erkenntnis liegt.
Meinungen haben wichtige Funktionen. Sie dienen sowohl der Orientierung im physikalischen und sozialen Umfeld als auch der Bestimmung der eigenen Identität. Während man seine körperliche Identität im Spiegel erkennt, bleibt die seelische der sinnlichen Wahrnehmung verborgen. Daraus resultiert für die Person das Problem, ihre seelische Identität durch geistige Akte zu bestimmen. Dazu stehen zwei Mittel zu Verfügung:
Bestandteile der seelischen Identität
Das Selbst | Das Ego |
Existenzielle Identität | Soziale Identität |
Was macht mich aus? Woraus besteht die innere Wirklichkeit, die mein Wesen bestimmt? | Wer bin ich im Kontext der Gemeinschaft? Was ist mein Rang und meine Rolle? Wo gehöre ich hin? |
Was nehme ich als wirklich wahr?
Wahrnehmbar sind die Elemente des relativen Selbst: seelische Gefühle, körperliche Empfindungen, Wissen, Erinnerungen, Impulse, Bestrebungen, Motive, Urteile und Gedanken. Wahrnehmbar ist die innere Dynamik der eigenen Person.
Wovon behaupte ich, dass es als wahr zu gelten hat?
Urteile sind als innerseelische Ereignisse wahrnehmbar. Zugleich sind sie das Werkzeug, das aus Gewusstem und ergänzenden Vermutungen Meinungen bildet, die davon ausgehen, dass man komplexe Sachverhalte richtig erkennt. Solche Meinungen dienen sowohl als Schnittmuster für zukünftige Entscheidungen, als auch als Indikator der persönlichen Identität im sozialen Umfeld. Meinungen zeigen anderen an, wer man ist und als was man gesehen werden will.
Verhaltenssteuerung und Identitätsfindung durch Meinungen
Wer meint, dass alle Pilze ungenießbar sind, wird sich gegen Pilzgerichte entscheiden.
Meinung oder Tatsache
Eine besondere Gefahr geht vom heimtückischen Hexenchamäleon aus. Dieser Pilz spürt an Vibrationen, die herannahende Sammler im Erdreich verursachen, was deren Lieblingspilz ist: Steinpilz, Pfifferling, Champignon, Trüffel oder Glücksröhrling. Bevor es ins Blickfeld des Sammlers gerät, nimmt das Hexenchamäleon das entsprechende Aussehen an. Einmal verzehrt, verursacht es eine Flatulenz, die akustisch nicht von Satansgelächter zu unterscheiden ist. Im Oberbayerischen ist die Mimikry des Pilzes so erfolgreich, dass viele Sammler auf Bucheckern umgestiegen sind. Dabei gibt es einen Trick, um den Schädling zu entlarven: Treten Sie beherzt auf das Fundstück. Wenn aus dem Matschhaufen ein Seufzer entweicht, war es das Hexenchamäleon. Wenn nicht, hätten Sie den Pilz essen können...Durch die Identifikation mit bestimmten Meinungen wird Zugehörigkeit begründet. Einer der wichtigsten Gründe, etwas zu meinen, liegt darin, dass das Umfeld, zu dem man gehören möchte, es ebenfalls tut. Meinungen sind sozialer Kitt. Wie die Pheromone der Bienen bestimmen sie, wer zum heimatlichen Bienenstock gehört.
Viele Meinungen befassen sich mit sozialen und politischen Fragen. Sie machen Aussagen darüber, welches Verhältnis zwischen Personen als richtig zu bezeichnen ist. Solche Meinungen beanspruchen das Recht, darüber zu entscheiden, wer wem wie viel schuldet.
Meinung und Masken
Indem man etwas meint, drückt man Wünsche aus. Hinter Wünschen steckt das Interesse am eigenen Vorteil. Wird das Eigeninteresse durch eine entsprechende Meinung maskiert, exponiert man sich beim Betreiben des eigenen Vorteils nur wenig. Man fordert ja nichts. Man meint ja nur. Wer seine Interessen aber nur verdeckt vertritt, hat damit meist wenig Erfolg; es sei denn, er schafft es, die Meinungen anderer großflächig mit dem eigenen Duftstoff zu imprägnieren. Damit das gelingt, wird Meinung im nächsten Schritt durch Medien aller Art als Information maskiert.
Als Meinungsträger geht man davon aus, dass man selbst, im Gegensatz zu anderen, am besten weiß, wie die Dinge laufen sollten. Die Meinung, dass die eigene Meinung allgemeingültig ist, liegt dem Meinen tendenziell bereits inne. Dass das so ist, liegt am Wünschen und Wähnen, das jedem Meinen zugrunde liegt.
Während sich das Wissen mit dem Wenigen begnügt, das man wissen kann, befassen sich Meinungen mit komplexen Strukturen. Was man als Meinungsvertreter nicht wissen kann, vermutet man zu dem Wenigen, was man weiß, dazu. Dadurch ist jedes Meinen ein Wähnen. Sobald man das Gewusste vom bloß Aufgefüllten nicht mehr unterscheidet, bekommt die Meinung wahnhafte Züge. In der Realität ist das die Regel; was oft nicht auffällt, weil man genügend Gleichgesinnte findet, deren Zustimmung den wahnhaften Zug des Meinens ummäntelt.
Die Ergänzung des Gewussten durch Elemente, die man bloß vermutet, erfolgt nicht zufällig. Sie wird von Wünschen gesteuert. Man hält durch die eigene Meinung meist das für richtig, was man als wünschenswert erachtet. Was man als wünschenswert erachtet, ist das, wovon man sich Vorteile verspricht.
Eine Meinung, die das scheinbar widerlegt
Die Welt ist schlecht.
Kann man sich wünschen, dass die Welt schlecht ist? Natürlich kann man das! Wenn die Welt schlecht ist, braucht man keine Verantwortung zu übernehmen. Man hat eine Erklärung dafür, warum man scheitert oder unzufrieden ist; und ein Argument, sich wenig Mühe zu geben.
Meinungen können entweder selbst entwickelt werden oder man übernimmt sie fertig aus dem Umfeld. Entwickelt man Meinungen selbst, folgt das einer logischen Sequenz in drei Schritten. Die ersten beiden Schritte sind unproblematisch:
Bleibt man nach einer ersten Urteilsbildung offen für neue Tatsachen, entwickeln sich Meinungen dynamisch weiter. Es liegt aber im Wesen von Meinungen, oder besser gesagt im Wesen des Menschen, der Meinungen zu psychologischen oder politischen Zwecken benutzt, sich abzusichern. Das führt zu einem dritten Schritt:
Von da ab wird das Denken postfaktisch, also tatsachenverleugnend. Postfaktisches Denken und Argumentieren beruht auf fixierten Meinungen, die nicht mehr zum Zweck einer gemeinsamen Wahrheitsfindung vorgetragen werden, sondern zum Zweck egozentrischer Vorteilsnahme. Bei der Diskussion politischer und gesellschaftlicher Themen ist postfaktisches Argumentieren weit verbreitet; vor allem in den Lagern derer, die sich parteipolitisch festgelegt haben. Im Rahmen konfessioneller Religion ist es oberstes Prinzip. Tatsachenverleugnung ist eine notwendige Zutat, die deren Zusammenhalt und Selbstverständnis begründet.
Die Zahl der Wahrheiten
Zeitgenossen, die das Recht auf eine eigene Meinung behalten und es konfliktfrei an andere vergeben wollen, meinen oft, es gebe nicht nur eine, sondern viele Wahrheiten, sodass jeder seine eigene habe. Wäre es so, gäbe es zwischen Meinung und Wahrheit keinen Unterschied. Tatsächlich ist Wahrheit das, wovon es keine Varianten gibt. Der Glaube, jeder könne eine eigene Wahrheit haben, ist Zeichen einer hedonistischen Gesinnung oder der Versuch, Einigkeit zu sichern, wo es Unterschiede gibt.
Hedonismus (griechisch hedone [ηδονη] = Freude, Vergnügen, Genuss) ist eine Einstellung zum Leben, die dessen Sinn im Streben nach sinnlichem und geistigem Genuss und der Vermeidung unangenehmer Erfahrungen zu erkennen glaubt. Zum Sinn des Lebens kann es jedoch gehören, dass man dem einzig Wahren auch dann die Treue hält, wenn es keinen Spaß macht. Hedonismus führt dazu, dass man das Echte dem Leichten preisgibt.
Tatsächlich hat nicht jeder eine eigene Wahrheit, sondern bloß eine eigene Wahrnehmung und eine eigene Deutung. Die kann von der Wahrheit ziemlich entfernt sein.
Zwischen dem normalpsychologischen Vorgang des Meinens und psychiatrisch relevantem Wahn gibt es Zusammenhänge; ebenso zwischen postfaktischem Meinen, Wahn und dogmatischen Glaubenslehren. Obwohl eindeutige Unterschiede theoretisch zu benennen sind...
... sind in der Praxis fließende Übergänge festzustellen. Bloßes Meinen kann unter dem Einfluss psychologischer Abwehrmechanismen in manifesten Wahn übergehen. Glaube und Wahn können zur Idee eines vermeintlich göttlichen Auftrags verschmelzen.
Tatsachenverleugnende Denkweisen
Meinung | Wahn | Glaube | |
Verleugnung | optional selektiv ignorierend |
zwingend | zwingend dogmatisch |
Funktion im Grundkonflikt | Selbstbestimmung oder Zugehörigkeit | Selbstbestimmung | Zugehörigkeit |
Inhalt | individuell oder kollektiv | individuell | kollektiv |
Meinungsträger gehen in Diskussionen aufeinander los. Es fällt ihnen schwer, dem Anderen eine abweichende Meinung zu lassen. Es interessiert sie nicht, wie der Andere die Dinge sieht, sondern nur, wie man ihn zur eigenen Sichtweise bekehren kann.
Das hat mit den Interessen zu tun, die hinter Meinungen stehen und mit Spannungen, die dem psychologischen Grundkonflikt entspringen.
Wer seine Interessen durch die Verbreitung von Meinungen vertritt, fühlt sich von abweichenden Meinungen bedroht. Theoretisch hat er damit recht. Oft macht er aus Mücken aber Elefanten.
Wer gut verdient, kann über die Meinung, dass Steuern zu erhöhen sind, erschrecken. Ob es der Mühe wert ist, mit einem Nachbarn zu streiten, der sich für Steuererhöhungen ausspricht, sei dahingestellt. Von der Meinung des Einzelnen geht kaum eine echte Bedrohung aus.
Eine tiefere Ebene des Meinungsstreits hängt mit dem psychologischen Grundkonflikt zusammen. Wenn jemand etwas anderes meint als ich, ist er mir, zumindest darin, nicht mehr zugehörig. Das aktiviert eine uralte Angst aus der Savanne: alleine unter Löwen dazustehen. Um die schützende Gemeinsamkeit wiederherzustellen, gibt es zwei Wege:
Meinungsstreit und Bedürfnisse
Entscheidung | Bedürfnis | |
Zugehörigkeit | Selbstbestimmung | |
Ich teile die Meinung des Anderen. | erfüllt | nicht erfüllt |
Ich überzeuge ihn. | erfüllt | erfüllt |
Zum Grundkonflikt gehört aber nicht nur das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, sondern auch das nach Selbstbestimmung. Deshalb ist klar: Nur wenn ich den Anderen überzeuge, kann ich beide Bedürfnisse erfüllen.
Identifikation mit dem Aggressor
Eine pathogene Variante zur Befriedigung beider Grundbedürfnisse bildet die Identifikation mit dem Aggressor. Persönlichkeiten mit abhängiger Grundstruktur neigen dazu, die Sichtweisen ihrer mächtigen Beschützer als die eigenen anzusehen. So bleiben sie in der Zugehörigkeit geschützt und glauben zugleich, selbstbestimmt zu sein. Als psychiatrisches Syndrom ist hier die sogenannte Folie à deux (ICD-10 F24: Induzierte wahnhafte Störung) zu nennen, also die Übernahme einer wahnhaften Vorstellung durch den regressiven Partner innerhalb einer Beziehung. In der Politik verschafft dieser Abwehrmechanismus Diktatoren die Hälfte ihrer jubelnden Anhängerschaft.
Was sollen die Nachbarn...
... von uns denken? An diese Frage ihrer Eltern erinnern sich Millionen. Das zeigt, wie weit der Glaube verbreitet ist, zum Glück gehöre vor allen Dingen, im Meinungsbild anderer gut dazustehen. Obwohl es gewiss wünschenswert ist, dass andere Gutes von uns meinen, verhindert die Meinung, es sei unerlässlich, dass sie es tatsächlich tun. Denn wer meint wirklich etwas Gutes von jemandem, dem das Rückgrat fehlt, sich ohne die Zustimmung anderer treu zu sein?
Vielen fällt es schwer, abweichende Meinungen gelassen hinzunehmen. Instinktiv fürchten sie sich vor einer Vielfalt der Sichtweisen.
Zum einen unterbricht jeder Meinungsunterschied die Homogenität des sozialen Zusammenhalts. Das stellt die Zugehörigkeit in Frage. Resultat ist Trennungsangst.
Je weniger man abweichende Meinungen hinnimmt, desto mehr verstrickt man sich in Streit. Im Streit versucht man, Zugehörigkeit durch Zwist zu sichern. Logisch: Hat man den Anderen überzeugt, ist man wieder einig. Und überhaupt: Streiten verbindet und der Begriff Konflikt hebt mit der Vorsilbe con = zusammen an. Das Resultat des Streits ist aber oft das Gegenteil vertiefter Einigkeit. Im Eifer der Diskussion zerschlägt man das Porzellan, das beim gemeinsamen Mahl die Speisen hätte tragen können. Zu allem Überfluss kosten Diskussionen Kraft.
Deshalb ist es sinnvoll, die Fähigkeit zu steigern, abweichende Meinungen stehen zu lassen.
Was können Sie dafür tun?