Verzicht ist spirituell, wenn er auf nichts mehr zeigt, was außerhalb dessen liegt, der verzichtet.
Das Verb verzichten besteht aus zwei Bestandteilen: der Vorsilbe ver- und dem Verb zeihen. Die Vorsilbe ver- zeigt an, dass über etwas hinaus gegangen wird, dass zu etwas hinübergeführt wird, dass ein Zustand verändert wird (siehe dazu auch hier und hier).
Das gemeingermanische Verb zeihen, im Sinne von anschuldigen, entstammt der indogermanischen Wurzel deik- = zeigen. Zeihen bedeutet ursprünglich anzeigen. Auf den Schuldigen wird mit dem Finger gezeigt. Gegen den Beschuldigten wird Anzeige erstattet. Zeigen ist urverwandt mit dem lateinischen Verb dicere = sagen und dem deutschen Hauptwort Zeichen.
Der eigentliche Sinngehalt des Verzichtens wird klar, sobald man den des Verzeihens versteht. Verzeihen heißt: nicht mehr auf etwas Ge- oder Verschuldetes zeigen. Wer verzeiht, geht über ein Schuldverhältnis hinaus. Er verzichtet auf den Anspruch, etwas zu bekommen. Er zeigt am bislang Beanspruchten vorbei.
Profan
Max verzichtet auf die Party bei Ute. Stattdessen lernt er bis spät in die Nacht. Am Montag will er die Prüfung schaffen. Sein Ziel ist eine eigene Anwaltskanzlei. Dafür muss man Opfer bringen.
Richter 11, 30-40:*
Nun tat Jephte... ein Gelübde...: "Wenn du die Ammoniter in meine Hand auslieferst, so gehöre, wer immer aus der Tür meines Hauses heraus mir entgegenkommt... dem Herrn! Ich bringe ihn als Brandopfer dar!"... Der Herr überlieferte sie (die Ammoniter) seiner Hand... Jephte kehrte zu seinem Haus... zurück;... da kam ihm seine Tochter... entgegen.
Zeigt Verzicht auf überweltliche Vorteile, ist er entweder dualistisch-religiös oder mystisch-spirituell.
Dualistisch-religiös
Bernhard entscheidet sich für ein Leben im Kloster. Er hofft auf entsprechenden Lohn im Himmelreich.
Der Verzicht auf den Vorrang der eigenen Person zugunsten der Identität mit sich selbst ist überweltlich, weil das Selbst kein Teil der Welt ist.
Es gibt kaum eine Religion, die Verzicht nicht als Bestandteil religiöser Praxis benennt. Das Grundmotiv des Verzichtens liegt dabei im Vorsatz, Wertvolles zu erlangen, indem man an weniger Wertvollem vorbeizeigt: Ja, das ist gut. Aber schau mal, was da drüben liegt.
Die Ausdrucksformen des religiös motivierten Verzichts sind vielfältig. Dabei können zwei Pole unterschieden werden:
Egozentrische Varianten des religiösen Verzichts beruhen auf einem dualistischen Selbstbild. Das dualistische Selbstbild spaltet die Wirklichkeit in zwei gegensätzliche Pole: Ich und Nicht-Ich. Es definiert das Ich als separate Einheit, deren vorrangiges Ziel es ist, ihren Bestand gegen den zerstörerischen Einfluss des Nicht-Ich abzusichern. Das Zerstörerische kann dabei in dreierlei Form auftreten:
Kernidee des egozentrischen Verzichts ist die Stärkung der Person durch vorteilhafte Tauschgeschäfte. Beim egozentrischen Verzicht sind drei Varianten zu beschreiben:
Eines der frühesten Werkzeuge des egozentrischen Verzichts war das Opfer. Dabei gibt der Gläubige etwas aus seinem Besitzstand preis; in der Hoffnung, der Himmel, die Ahnen oder die Geister werden das Angebot annehmen und im Tausch einen Vorteil gewähren, der dem Gläubigen wertvoller erscheint als das, was er im Opfer weggab. Der Opfernde zeigt nicht mehr auf das geopferte Gut und sagt: Das gehört mir. Er zeigt daran vorbei; auf das, was ihm als wertvoller erscheint.
In der Askese wird das Opfer generalisiert. Der Asket ist bereit, auf alles zu verzichten, was ihm als weltliche Person vorteilhaft erscheint. Stattdessen zeigt er auf einen Platz im Jenseits oder auf einen privilegierten Bewusstseinszustand im Diesseits, der ihn aller Leiden enthebt. Askese negiert vordergründig die Person. Indem sie ihren Verzicht aber vollständig am Nachteil der Person ausrichtet, zentriert sie die Person in ihr Bemühen. Askese ist keine Bescheidenheit. Askese ist Ehrgeiz. Sie zeigt auf das, was man unbedingt haben will. Askese ist daher egozentrisch.
Indem er Gehorsam zur größten Tugend erklärt, opfert der Gläubige sein Selbstbestimmungsrecht. Der Gläubige verzichtet darauf, nach eigenem Urteil zu handeln; und vertraut darauf, dass der, dem er sich willenlos überlässt, gerade deshalb seinen Vorteil besorgt. Da sich der Gehorsam der Ohnmächtigen in der Hand ihrer Führer zur Waffe bündelt, haben Glaubensformen, die Gehorsam an oberste Stelle setzen, Kontinente erobert. Glaube, der Gehorsam fordert, ist als Religion getarnte Militanz. Er kämpft sich nach oben, indem er sich die Welt untertan macht.
Ich und Selbst
Gehorsam ist ein Bezugsverhältnis zwischen zwei Personen; in der dualistischen Religion faktisch zwischen Laie und Priester, theoretisch zwischen Mensch und Gott. In der mystischen Religion macht Gehorsam keinen Sinn. Das Ich gehorcht nicht dem Selbst. Die Verbindung zwischen Selbst und Person ist sein Weg. Das Ich erkennt sich als Selbst. Es gehorcht nicht sich selbst, sondern bestimmt sich als Selbst.
Auch Gehorsam ist als egozentrische Verzichtsform zu erkennen. Der Gehorsame verzichtet nicht auf einen Besitz, einen Genuss oder ein Vergnügen, sondern auf ein wesentliches Vermögen seiner selbst. Das tut er, um im Austausch etwas zu bekommen, was er nicht als sein eigenes Wesen, sondern als vorteilhafte Position im Nicht-Ich sieht: den sicheren Platz in einer schützenden Gruppe oder Einlass in einen Garten, den er selbst nicht angelegt hat. Im Gehorsam opfert der Gläubige das Stück seiner selbst, das er für weniger wertvoll erachtet, als das, worauf er als Lohn des Gehorsams Anspruch erhebt.
Während egozentrischer Verzicht die Position der Person in der Wirklichkeit zu stärken versucht, lockert transzendierender Verzicht die Identifikation des Ich mit der Person; oder löst sie auf. Transzendierender Verzicht verzichtet auf konkrete Vorteile der Person. Er zeigt an der Person vorbei. Auch der transzendierende Verzicht tritt in Varianten auf:
Man könnte meinen, Anspruchslosigkeit sei die kleine Schwester der Askese. Das ist sie nicht. Der Asket reduziert sein weltliches Erscheinungsbild mutwillig auf eine Hungergestalt; und beansprucht gerade dadurch, die Hungergestalt und den, der sie sieht, zu beherrschen. Das ist Verzicht, aber einer, der auf die Macht des Egos zeigt und auf den Lohn, den die Person für absichtliches Leid bekommt. Askese ist Geschäft. Sie bietet Leid gegen Gewinn. Fehlender Anspruch ist Vertrauen und Zuversicht. Er lässt sich beschenken und dankt dafür.
Anspruchslosigkeit mag Armut nach sich ziehen. Dann ähnelt sie Askese. Während Armut jedoch Zwangsmittel des Asketen ist, um Reichtum zu erzwingen, ist sie beim Anspruchslosen ein Effekt, dem er nur wenig Bedeutung schenkt. Wenn das Schicksal es fügt, lebt der Anspruchslose ebenso gut in einem Palast.
Das Wesen der Anspruchslosigkeit liegt nicht in einer erzwungenen Reduktion des Daseins auf das Unverzichtbare. Es liegt im Verzicht, auf Verzichtbares zu zeigen und dem Erwerb von Verzichtbarem besondere Mühe zu widmen. Fällt dem Anspruchslosen Verzichtbares jedoch zu, weist er es nicht im Anspruch auf Besseres von sich, sondern erlebt das Verzichtbare als die jeweils spezifische Erfahrung, die es vermittelt.
Man kann durch die Welt gehen, um etwas zu erwerben; oder darin leben, um man selbst zu sein. Es ist zwar so, dass das Erstere das Letztere nicht ausschließt, legt man den Schwerpunkt aber darauf, man selbst zu sein, muss man beim Erwerb auf manches verzichten.
Evelyns Lächeln findet Gunnar absolut entzückend. Dafür, dass es nur noch ihm gilt, müsste er aber Ansprüche erfüllen, die ihn von sich selbst entfremden.
Verbrächte Silke das Wochenende mit dem Juniorchef am See, könnte ihr Gehalt um Stufen steigen. Sie beschließt, ihr gutes altes Möhrchen erneut über den TÜV zu bringen.
Zur Clique um den feschen Marian gehört, wer hip ist in der Klasse. Das Gehabe Marians geht Timo aber derart auf die Nerven, dass er lieber Außenseiter bleibt.
Authentizität besteht in der Treue zum eigenen Charakter und zu dessen Grundsätzen. Ihr Preis ist ein Verzicht auf Teile der Welt. Im Versuch, sich treu zu bleiben, stellt das Individuum seinen Wert über den Gewinn.
Wird das Vorhaben der Authentizität konsequent zu Ende gedacht, zeigt es zuletzt vollständig an der Person vorbei. Es verweist auf das absolute Selbst als höchstes Gut, das der Mensch zwar nicht erwerben, das er aber zu sein versuchen kann.
Der Preis der Selbstverwirklichung ist ein Vorbeizeigen an all dem, womit man sich identifizieren könnte. Der Selbstverwirklichte sagt: Alles, was ich erkennen und beschreiben kann, ist nicht das Wesen meiner selbst.
All das mag meine Person beschreiben. Am Kern meiner selbst geht die Beschreibung aber vorbei.
Formen des Verzichts
egozentrisch | transzendierend |
Opfer Askese Gehorsam |
Anspruchslosigkeit Authentizität Selbstverwirklichung |
Zeigt an Besitz vorbei, der der Person weniger wertvoll erscheint. | Zeigt an der Person vorbei, die den Wert ihres Besitzes über sich stellt. |
Das eine will das zweite. | Das Eine ist es selbst. |
Nichts, was Sie erwerben könnten, kann Ihrem Wert etwas hinzufügen. Vieles, was Sie tun könnten, kann verhindern, dass Sie Ihren Wert erkennen. Unterlassen Sie, was Ihren Wert unkenntlich macht.
Zur Paradoxie des egozentrischen Verzichts gehört, dass der Verzicht nicht eigentlich verzichten, sondern etwas haben will.
Transzendierender Verzicht hebt solche Widersprüche auf. Beim transzendierenden Verzicht soll nichts erworben werden. Transzendierender Verzicht zeigt auf echten Wert, der bereits gegeben ist und der aus dem Blick verlorengeht, wenn man auf den falschen zeigt.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.