Verzicht


  1. Begriffe
  2. Religion und Verzicht
Es gibt keinen Verzicht, der nicht auf Wertvolles zeigt.

Um zu sein, was man ist, gibt man preis, was man hat.

Eine Religion, die nicht auf Herrschaft verzichtet, ist keine.

1. Begriffe

Das Verb verzichten besteht aus zwei Bestandteilen: der Vorsilbe ver- und dem Verb zeihen. Die Vorsilbe ver- zeigt an, dass über etwas hinaus gegangen wird, dass zu etwas hinübergeführt wird, dass ein Zustand verändert wird (siehe dazu auch hier und hier).

Verzicht und Anspruch
Meist ist Verzicht zugleich Anspruch. Man verzichtet auf etwas, weil man im Verzicht Anspruch auf Besseres erhebt. Dergestalt ist Verzicht unverzichtbares Werkzeug einer aktiven Lebensgestaltung. Man verzichtet heute auf den kleinen Vorteil, damit man morgen einen großen hat. Erst wenn Verzicht sich nicht mehr auf Erfolg bezieht, sondern auf das bloße Sein, wird er religiös.

Das gemeingermanische Verb zeihen, im Sinne von anschul­digen, entstammt der indo­germanischen Wurzel deik- = zeigen. Zeihen bedeutet ursprünglich anzeigen. Auf den Schuldigen wird mit dem Finger gezeigt. Gegen den Beschuldigten wird Anzeige erstattet. Zeigen ist urverwandt mit dem lateinischen Verb dicere = sagen und dem deutschen Hauptwort Zeichen.

Der eigentliche Sinngehalt des Verzichtens wird klar, sobald man den des Verzeihens versteht. Verzeihen heißt: nicht mehr auf etwas Ge- oder Verschuldetes zeigen. Wer verzeiht, geht über ein Schuldverhältnis hinaus. Er verzichtet auf den Anspruch, etwas zu bekommen. Er zeigt am bislang Beanspruchten vorbei.

Weltliche und überweltliche Vorteile
Verzicht kann auf weltliche oder überweltliche Vorteile zeigen. Zeigt er auf welt­liche Vorteile, ist er entweder profan oder dualistisch-religiös.

Zeigt Verzicht auf überweltliche Vorteile, ist er entweder dualistisch-religiös oder mystisch-spirituell.

Der Verzicht auf den Vorrang der eigenen Person zugunsten der Identität mit sich selbst ist überweltlich, weil das Selbst kein Teil der Welt ist.

2. Religion und Verzicht

Es gibt kaum eine Religion, die Verzicht nicht als Bestandteil religiöser Praxis benennt. Das Grundmotiv des Verzichtens liegt dabei im Vorsatz, Wertvolles zu erlangen, indem man an weniger Wertvollem vorbeizeigt: Ja, das ist gut. Aber schau mal, was da drüben liegt.

2.1. Ausdrucksformen

Die Ausdrucksformen des religiös motivierten Verzichts sind vielfältig. Dabei können zwei Pole unterschieden werden:

  1. egozentrischer Verzicht
  2. transzendierender Verzicht
2.1.1. Egozentrischer Verzicht

Egozentrische Varianten des religiösen Verzichts beruhen auf einem dualistischen Selbstbild. Das dualistische Selbstbild spaltet die Wirklichkeit in zwei gegensätzliche Pole: Ich und Nicht-Ich. Es definiert das Ich als separate Einheit, deren vorrangiges Ziel es ist, ihren Bestand gegen den zerstörerischen Einfluss des Nicht-Ich abzusich­ern. Das Zerstörerische kann dabei in dreierlei Form auftreten:

  1. als bedrohliche Kraft der Natur
  2. als Aggression vonseiten anderer
  3. als Straf- und Vernichtungswille eines missgünstigen Gottes

Kernidee des egozentrischen Verzichts ist die Stärkung der Person durch vorteilhafte Tauschgeschäfte. Beim egozentrischen Verzicht sind drei Varianten zu beschreiben:

  1. das Opfer
  2. die Askese
  3. der Gehorsam
2.1.1.1. Opfer

Eines der frühesten Werkzeuge des egozentrischen Verzichts war das Opfer. Dabei gibt der Gläubige etwas aus seinem Besitzstand preis; in der Hoffnung, der Himmel, die Ahnen oder die Geister werden das Angebot annehmen und im Tausch einen Vorteil gewähren, der dem Gläubigen wertvoller erscheint als das, was er im Opfer weggab. Der Opfernde zeigt nicht mehr auf das geopferte Gut und sagt: Das gehört mir. Er zeigt daran vorbei; auf das, was ihm als wertvoller erscheint.

Wer nicht alles zurückweist, was gefallen könnte, sondern Gutes annimmt, wenn es geschenkt wird, ohne ständig nach Geschenk und Gut zu trachten, zeigt mehr vorbei als der, der auf alles Gefällige verzichtet, um das Höchste für sich zu fordern. Erst der Verzicht auf Askese ist wahrer Verzicht.
2.1.1.2. Askese

In der Askese wird das Opfer generalisiert. Der Asket ist bereit, auf alles zu verzichten, was ihm als weltliche Person vorteilhaft erscheint. Stattdessen zeigt er auf einen Platz im Jenseits oder auf einen privilegierten Bewusstseinszustand im Diesseits, der ihn aller Leiden enthebt. Askese negiert vordergründig die Person. Indem sie ihren Verzicht aber vollständig am Nachteil der Person ausrichtet, zentriert sie die Person in ihr Bemühen. Askese ist keine Bescheidenheit. Askese ist Ehrgeiz. Sie zeigt auf das, was man unbedingt haben will. Askese ist daher egozentrisch.

2.1.1.3. Gehorsam

Indem er Gehorsam zur größten Tugend erklärt, opfert der Gläubige sein Selbstbestimmungsrecht. Der Gläubige verzichtet darauf, nach eigenem Urteil zu handeln; und vertraut darauf, dass der, dem er sich willenlos überlässt, gerade deshalb seinen Vorteil besorgt. Da sich der Gehorsam der Ohnmächtigen in der Hand ihrer Führer zur Waffe bündelt, haben Glaubensformen, die Gehorsam an oberste Stelle setzen, Kontinente erobert. Glaube, der Gehorsam fordert, ist als Religion getarnte Militanz. Er kämpft sich nach oben, indem er sich die Welt untertan macht.

Ich und Selbst

Gehorsam ist ein Bezugsverhältnis zwischen zwei Personen; in der dualistischen Religion faktisch zwischen Laie und Priester, theoretisch zwischen Mensch und Gott. In der mystischen Religion macht Gehorsam keinen Sinn. Das Ich gehorcht nicht dem Selbst. Die Verbindung zwischen Selbst und Person ist sein Weg. Das Ich erkennt sich als Selbst. Es gehorcht nicht sich selbst, sondern bestimmt sich als Selbst.

Auch Gehorsam ist als egozentrische Verzichtsform zu erkennen. Der Gehorsame verzichtet nicht auf einen Besitz, einen Genuss oder ein Vergnügen, sondern auf ein wesentliches Vermögen seiner selbst. Das tut er, um im Austausch etwas zu bekommen, was er nicht als sein eigenes Wesen, sondern als vorteilhafte Position im Nicht-Ich sieht: den sicheren Platz in einer schützenden Gruppe oder Einlass in einen Garten, den er selbst nicht angelegt hat. Im Gehorsam opfert der Gläubige das Stück seiner selbst, das er für weniger wertvoll erachtet, als das, worauf er als Lohn des Gehorsams Anspruch erhebt.

2.1.2. Transzendierender Verzicht

Während egozentrischer Verzicht die Position der Person in der Wirklichkeit zu stärken versucht, lockert transzendierender Verzicht die Identifikation des Ich mit der Person; oder löst sie auf. Transzendierender Verzicht verzichtet auf konkrete Vorteile der Person. Er zeigt an der Person vorbei. Auch der transzendierende Verzicht tritt in Varianten auf:

  1. Anspruchslosigkeit
  2. Authentizität
  3. Selbstverwirklichung
2.1.2.1. Anspruchslosigkeit

Man könnte meinen, Anspruchslosigkeit sei die kleine Schwester der Askese. Das ist sie nicht. Der Asket reduziert sein weltliches Erschei­nungsbild mutwillig auf eine Hungergestalt; und beansprucht gerade dadurch, die Hungergestalt und den, der sie sieht, zu beherrschen. Das ist Verzicht, aber einer, der auf die Macht des Egos zeigt und auf den Lohn, den die Person für absichtliches Leid bekommt. Askese ist Geschäft. Sie bietet Leid gegen Gewinn. Fehlender Anspruch ist Vertrauen und Zuversicht. Er lässt sich beschenken und dankt dafür.

Gewinn und Verlust
Der Anspruchslose kann Erotik ge­nießen, ohne dass er etwas verliert. Der Asket kann auf Erotik verzichten, ohne dass er etwas gewinnt.

Anspruchslosigkeit mag Armut nach sich ziehen. Dann ähnelt sie Askese. Während Armut jedoch Zwangsmittel des Asketen ist, um Reichtum zu erzwingen, ist sie beim Anspruchslosen ein Effekt, dem er nur wenig Bedeutung schenkt. Wenn das Schicksal es fügt, lebt der Anspruchslose ebenso gut in einem Palast.

Das Wesen der Anspruchslosigkeit liegt nicht in einer erzwungenen Reduktion des Daseins auf das Unverzichtbare. Es liegt im Verzicht, auf Verzichtbares zu zeigen und dem Erwerb von Verzichtbarem besondere Mühe zu widmen. Fällt dem Anspruchslosen Verzichtbares jedoch zu, weist er es nicht im Anspruch auf Besseres von sich, sondern erlebt das Verzichtbare als die jeweils spezifische Erfahrung, die es vermittelt.

Wer sich treu bleibt, kann nicht alles haben.
2.1.2.2. Authentizität

Man kann durch die Welt gehen, um etwas zu erwerben; oder darin leben, um man selbst zu sein. Es ist zwar so, dass das Erstere das Letztere nicht ausschließt, legt man den Schwerpunkt aber darauf, man selbst zu sein, muss man beim Erwerb auf manches verzichten.

Authentizität besteht in der Treue zum eigenen Charakter und zu dessen Grundsätzen. Ihr Preis ist ein Verzicht auf Teile der Welt. Im Versuch, sich treu zu bleiben, stellt das Individuum seinen Wert über den Gewinn.

2.1.2.3. Selbstverwirklichung

Wird das Vorhaben der Authentizität konsequent zu Ende gedacht, zeigt es zuletzt vollständig an der Person vorbei. Es verweist auf das absolute Selbst als höchstes Gut, das der Mensch zwar nicht erwerben, das er aber zu sein versuchen kann.

Das Ziel mystischer Religion ist die Zulassung Gottes im Einzelnen.

Der einzige Gott, über dessen Existenz Sie jemals Gewissheit erlangen könnten, ist Ihr Selbst. Falls es niemals dazu kommt, leben Sie in der Ungewissheit, ob es Sie oder Ihn überhaupt gibt.

Der Preis der Selbstverwirklichung ist ein Vorbeizeigen an all dem, womit man sich identifizieren könnte. Der Selbstverwirklichte sagt: Alles, was ich erkennen und beschreiben kann, ist nicht das Wesen meiner selbst.

All das mag meine Person beschreiben. Am Kern meiner selbst geht die Beschreibung aber vorbei.

Formen des Verzichts

egozentrisch transzendierend
Opfer
Askese
Gehorsam
Anspruchslosigkeit
Authentizität
Selbstverwirklichung
Zeigt an Besitz vorbei, der der Person weniger wertvoll erscheint. Zeigt an der Person vorbei, die den Wert ihres Besitzes über sich stellt.
Das eine will das zweite. Das Eine ist es selbst.

Nichts, was Sie erwerben könnten, kann Ihrem Wert etwas hinzufügen. Vieles, was Sie tun könnten, kann verhindern, dass Sie Ihren Wert erkennen. Unterlassen Sie, was Ihren Wert unkenntlich macht.

2.2. Paradoxie

Zur Paradoxie des egozentrischen Verzichts gehört, dass der Verzicht nicht eigentlich verzichten, sondern etwas haben will.

Transzendierender Verzicht hebt solche Widersprüche auf. Beim transzendierenden Verzicht soll nichts erworben werden. Transzendierender Verzicht zeigt auf echten Wert, der bereits gegeben ist und der aus dem Blick verlorengeht, wenn man auf den falschen zeigt.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.