Alles was es gibt, ist nicht Es. Es ist nichts Gegebenes, sondern das Gebende. In allem, was Es gibt, ist aber enthalten, was es gegeben hat.
Im europäischen Sprachgebrauch bezeichnet sich Religion als achtsame Rückbindung, die sich bewusst für das Wesentliche entscheidet. So lassen sich die verschiedenen sprachgeschichtlichen Deutungen des Begriffs bezüglich seiner lateinischen Wurzeln zusammenfassen.
Religion befasst sich mit etwas. Das Etwas, mit dem sie sich befasst, sind Erkenntnisse, Mittel und Wege, die dazu geeignet sind, sich auf das Wesentliche auszurichten. Das Wort etwas erscheint aber ungeeignet, um auch als Fürwort (lateinisch: pro-nomen = Begriff, der anstelle des Namens steht) dessen zu dienen, was im religiösen Sinn als das Wesentliche gedacht werden kann; denn ein Etwas ist Teil einer größeren Menge... und wer wollte das Ziel religiöser Ausrichtung auf so ein Etwas herabsetzen?
Da unklar ist, ob das Göttliche überhaupt einen Namen hat, der mehr ist als Erfindung der Sprecher, sind im Grundsatz alle Bezeichnungen des Göttlichen Fürwörter. Zeichnen geht auf die indoeuropäische Wurzel deik-(-ĝ-) = zeigen zurück. Etwas zu bezeichnen heißt, ein Bild zu machen, das auf das Bezeichnete zeigt. Obwohl bei jedem Bild versucht wird, durch die Bezeichnung etwas von dem zu erfassen, was das Wesen des Gezeichneten ausmacht, ist klar, dass das wahre Wesen des Bezeichneten außerhalb des Bildes bleibt. Das gilt erst recht für Gottesbilder. Auch der Begriff unbedingt ist, wenn man damit auf Gott zeigt, ein Gottesbild, das das Bezeichnete unmöglich erfassen kann.
Dem Unbedingten ist weder Ding noch Bedingung zugeordnet, ohne die es nicht auskäme, durch die es bestimmt wird, durch die es begrenzt wäre oder von der es abhinge. Im Gegensatz dazu wird Bedingtes erst durch jene Bedingungen zur Existenz gebracht, die es bedingen. Das mögen Substanzen sein oder Dynamiken, die als physikalische, psychologische oder geistige Kräfte wirksam werden. Die Ursache des Bedingten liegt in den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das Bedingte in Erscheinung tritt.
Un- verkündet die Verneinung eines Sachverhalts. Das hat bei der Bestimmung des Unbedingten Bedeutung. Der Verstand nähert sich dem Unbedingten nicht im Zugriff. Er sagt nicht: Das Unbedingte ist dies oder das, was mit meinen Begriffen zu begreifen wäre. Der Verstand benennt das Unbedingte nicht. Er entnennt es. Er sagt: Es ist weder dies noch das. Er beseitigt Hindernisse, die den Blick verstellen, ohne Gewähr, dass sein Blick jenseits eines Hindernisses bis zum Unbedingten reicht.
Be- benennt als Vorsilbe eine Tätigkeit: etwas mit etwas auszustatten.
Das Unbedingte - so meint es das Wort - ist durch nichts Dingliches ausgestattet.
Der Begriff Ding wird heute sinngleich mit den Begriffen Gegenstand oder Sache verwendet. Bis ins Mittelalter hinein benannte er eine Gerichtsversammlung. Die Bezeichnung des dänischen Parlaments Folketing = Volksversammlung hat den alten Sinn bewahrt. Im Verb dingfest machen kommt die ursprüngliche Bedeutung ebenfalls zur Geltung. Ist der Übeltäter dingfest gemacht, wird er festgehalten, um vor Gericht Rede und Antwort zu stehen.
Der tiefere Ursprung des Begriffs liegt wahrscheinlich in der indoeuropäischen Wurzel ten- = dehnen, ziehen, spannen. Zum Prozess werden die Mitglieder der Gerichtsversammlung zusammengezogen. Der Ruf zur Versammlung umspannt all jene, aus denen sich die Versammlung zusammensetzt.
Dieser Sinnzusammenhang macht eine wesentliche Eigenschaft des Dinglichen deutlich. Dingliches ist zusammengesetzt. Dingliches ist Konkretes (lateinisch con-crescere = zusammenwachsen), das aus Teilen besteht, die sich zur jeweils spezifischen Qualität des Dings vereinen. Da Konkretes zusammengesetzt ist, hängt sein Bestand von Bedingungen ab:
Damit Dinosaurier existieren, müssen neben Millionen anderer folgende Bedingungen erfüllt sein:
Was Bedingungen instabil macht
Zwei Faktoren führen dazu, dass nichts Weltliches bleibt, wie es ist:
Das Kaffeeholen hat länger gedauert. Warum: Weil in dem Moment, als das Wasser im Kocher sprudelte, ein Dachziegel vom Haus des Nachbarn fiel. Ohne erkennbaren Anlass! Zum Glück leben wir in einer Zeit, in der wir uns der Behauptung entschlagen, der Absturz des Ziegels sei das Werk übernatürlicher Kräfte. Daher schließen wir unmittelbare Eingriffe von jenseits als dritte Ursache der Unbeständigkeit innerweltlicher Bedingungen aus. Da der Nachbar den Ziegel nicht willentlich vom Dach gestoßen hat, stehen physikalische Prozesse oder Termiten in Verdacht. Die Nachbarin vermutet, Tauben oder Krähen hätten den Ziegel im Vorfeld gelockert. Okay: Nicht jede Theorie ist plausibel, bloß weil sie naturwissenschaftlich klingt. Termiten auf dem 51. Breitengrad? Na ja...
Gewiss: Es gibt Argumente, die der Existenz eines freien Willens widersprechen und davon ausgehen, dass alles letztlich physikalisch bedingt ist. Denkbar ist das. Denkbar ist aber auch, dass das Unbedingte, das man hinter dem Bedingten vermuten kann, dem Bewusstsein ein Stück seiner Freiheit verleiht. Diese Freiheit sei hier verwendet, um an ihren Spielraum im Menschen zu glauben.
Konkrete Sachverhalte setzen die Existenz von mindestens zwei Komponenten voraus, die ihren Bestand bedingen. In der Regel sind es nicht zwei, sondern Tausende. Damit Sie als die konkrete Person, als die Sie in der Wirklichkeit erscheinen, jetzt diesen Satz lesen, mussten seit dem Urknall unfassbar viele Bedingungen erfüllt werden.
Kein Bedingungsgefüge, das Dingliches zusammensetzt, bleibt auf Dauer stabil. Das führt dazu, dass Dingliches, sobald es entstanden ist, seinem Untergang entgegengeht.
Achtung des Bedingten
Es gibt kaum eine Religion, die die Bindung an Bedingtes nicht als Hindernis der Religiosität beschreibt. Viele Konfessionen haben daraus die Behauptung abgeleitet, der wahrhaft Gläubige habe das Bedingte zu verachten.
Selbst der Buddhismus geht zuweilen solche Wege; wenn er Novizen dazu anhält, sich kontemplativ "klarzumachen", dass Haare, Zähne, Haut und Fingernägel hässlich sind. Wir können sicher sein, dass die angebliche Hässlichkeit der genannten Elemente einem planenden Urteil, aber keiner objektiv wahrnehmbaren Tatsache entspricht. Der Novize soll tendenziös urteilen, um die gefürchtete Attraktion des Bewusstseins durch Frauenkörper zu bannen, die die Evolution mit den vermeintlich verachtenswerten Attributen ausgestattet hat. Wäre aber je ein Novize so weit gekommen, sich einer überwertigen Attraktion durch Frauenkörper zu entziehen, wenn die gleiche Attraktion ihn nicht einst in die Welt gesetzt hätte?
Die Verachtung des Bedingten ist dabei als Hilfsmittel zu erkennen, um die Vereinnahmung des Gläubigen durch Bedingtes zu verhindern. Verachtung ist jedoch ein Hilfsmittel mit unerwünschten Nebenwirkungen. Verachtung hat paradoxe Effekte.
Wenn der Fuchs süße Trauben zu sauren erklärt, entwickelt er Neid und Missgunst gegenüber jenen, die sich an den vermeintlich sauren Trauben gütlich tun, ohne darunter erkennbar zu leiden.
Das Unvermögen, erkennbar süße Trauben zu genießen, ist eine grundlegende Erfahrung der menschlichen Existenz. Sie ist in den Beschränkungen der Individualität begründet. Die Erkenntnis der Begrenzung des persönlichen Erlebnishorizonts mag erschreckend sein und die Akzeptanz der Begrenzung eine schwierige Übung. Statt sich selbst als Begrenztes anzunehmen, gute Trauben zu schlechten zu erklären, ist jedoch eine unredliche Lösung. Sie bindet den, der sie betreibt, in die Identifikation mit einer egozentrischen Größenphantasie. So blickt man nicht zum Unbedingten, sondern zum bedingten Trugbild, das man aus sich selber macht. Das Bild wird durch das Motiv bedingt, das hinter der Verachtung steht.
Durch die Verachtung des Bedingten löst man sich nicht davon ab. Man bindet sich vielmehr daran, weil man es für narzisstische Zwecke missbraucht. Man macht sich vom Verachteten abhängig, wenn man es dazu verwendet, sich durch Verachtung über das Verachtete zu erheben. Versuchte Abkehr durch Verachtung schafft neue Bindung.
Statt kontemplativ vermeintlich hässliche Attribute zu verachten, kann der Novize Erleuchtung in der Erkenntnis finden, dass das Licht der Sonne einer übergeordneten Lichtheit der Welt entspricht und der Reiz der Frauen durch das Unbedingte bedingt wird.
Wer die Wirklichkeit mutwillig anders zu deuten versucht, als er sie empfindet, will Macht über die Dinge. Erleuchtung heißt nicht Macht über Dinge, sondern Hingabe ans Leben. In jedem Ding kommt das zum Ausdruck, was das Unbedingte von sich darin zum Ausdruck bringt.
Bedingung, Realität und Wirklichkeit
Bedingtes ist austauschbar. Es kann durch Änderung von Bedingungen geschaffen oder beseitigt werden. Bedingtes erscheint als Folge von Ursachen. Ihm ist das Bedingungsgefüge gegenwärtig, aus dem das Jetzt besteht. Bedingtes ist zwar absolut real (lateinisch res = Sache), aber nur bedingt wirklich. Seine Gegenwart ist relativ.
Das Unbedingte ist absolut wirklich. Es ist überreal, nicht austauschbar und mit sich selbst identisch. Ihm ist alles gegenwärtig, weil es von den Bedingungen jedes Jetzt entbunden ist. Das Unbedingte ist absolute Gegenwart.
Stellt man über das Unbedingte Vermutungen an, steht man vor der Frage, welche Merkmale oder Qualitäten man ihm zuordnen könnte....
Hat das Unbedingte feste Eigenschaften? Vermutlich nicht; denn feste Eigenschaften sind das, was etwas Konkretes spezifisch charakterisiert. Das Unbedingte kann aber nicht konkret sein, weil es dann die Bedingung erfüllen müsste, sich aus diesem und jenem zusammenzusetzen.
Um das Wesen der Eigenschaft besser zu verstehen, lohnt es, die Bestandteile des Begriffs zu betrachten.
Eigen geht auf ein gemeingermanisches Verb zurück, dessen ursprünglicher Sinn in seiner englischen Variante to own = besitzen zum Ausdruck kommt. Eigen heißt eigentlich besessen, in Besitz genommen sein. Mein Eigentum ist das, was ich besitze. Der eigentliche Sinn kehrt auch im Wort eigentlich wieder. Mittelhochdeutsch wurde das Wort zur Benennung der Leibeigenschaft verwendet. Der Leibeigene wird von einer anderen Person besessen.
Fügen wir beide Bestandteile zusammen, ergibt sich der Sinn des Wortes Eigenschaft: Eine Eigenschaft richtet ein Besitzverhältnis ein. Bleibt zu fragen, wer dabei wen besitzt: der Eigenschaftsträger die Eigenschaft oder die Eigenschaft ihren Träger?
Eigenschaften von Eigenschaften
Statische Eigenschaften, deren Besitz man ist
Eigenschaften, deren Herrschaft man abschütteln kann
Dynamische Eigenschaften, über die man verfügen kann
Besitzverhältnisse können aus der aktiven oder passiven Perspektive heraus betrachtet werden. Reine Objekte sind kaum je Besitzer ihrer Eigenschaften. Sie werden durch Eigenschaften unentrinnbar festgelegt.
Die Kugel ist rund. Ihr Schicksal auf einer schiefen Ebene ist festgelegt. Sie wird durch ihre Eigenschaft besessen. Sie hat keinerlei Freiheit, etwas anderes zu tun, als was Gesetze erzwingen.
Individuen werden, insofern sie Personen sind und damit Objektcharakter haben, ebenfalls durch Eigenschaften festgelegt. Sie können Eigenschaften jedoch auch aktiv für sich nutzen und gezielt neue entwickeln, über die sie dann verfügen.
Bärbel hat blaue Augen, spricht Aschaffenburger Dialekt und lernt Italienisch.>
Der Farbe ihrer Augen ist Bärbel ebenso ausgeliefert wie ihrem chromosomalen Geschlecht. Den Konsequenzen, die ihre Augenfarbe hat, ist sie passiv ausgesetzt. Von dieser Eigenschaft wird sie in Besitz genommen.
Julian ist ein Dummkopf sondergleichen. Aus Gründen, die er selbst nicht versteht, hat er sich in den Kopf gesetzt, seine Traumfrau habe braune Augen. Als Bärbel ihm tief in die seinen schaut, nützt ihr ganzer Liebreiz nichts. Für blau ist Julian farbenblind. Bärbels Schicksal wird von ihrer Augenfarbe in die Hand genommen. Von der Eigenschaft blaue Augen ist sie in Besitz genommen. Sie kann nicht darüber verfügen.
Etwas anders sieht es bei den Sprachen aus. Auch Muttersprache und angelerntes Italienisch kann man als Eigenschaften Bärbels definieren. Sie hat die Eigenschaft, sich mittels beider kundzutun. Es sind aber Eigenschaften besonderer Art, nämlich solche, die zugleich Fähigkeiten bzw. Vermögen sind.
Bei der Fähigkeit ist das Besitzverhältnis nicht in vollem Umfang asymmetrisch. Sobald Bärbel Aschaffenburgisch spricht, wird sie von dieser Eigenschaft zwar ebenfalls besessen, aber immerhin: Sie muss es ja nicht tun. Sie kann Besitzen und Besessensein ein Stück weit modulieren.
Wenn Jean-Marcel, der charmante Austauschfranzose aus Angoulème, zwar passabel Hochdeutsch spricht, Aschaffenburgisch in seinen Ohren jedoch unverstehbar klingt, sitzt Bärbels Hoffnung auf die große Liebe diesmal im Gefängnis ihres Heimatdialekts.
Was passiert nun, wenn Bärbel eine neue Eigenschaft erwirbt: Italienisch sprechen zu können? Sie kommt in den Besitz von Möglichkeiten, die ihr In-Besitz-genommen-sein durch die Eigenschaft Aschaffenburger Dialekt zu sprechen mindern.
Nachdem Jean-Marcel mit Hannelore aus Hannover angebändelt hat, war Bärbels Kummer zunächst unermesslich; bis Luigi auftauchte, ein Mädchenschwarm aus Sesto San Giovanni di Lombardia...
Was ihr Italienisch betrifft, ist das Besitzverhältnis aktiv und passiv zugleich. Bärbel kann über ihre Sprachkenntnisse verfügen. Zugleich liefert die Fähigkeit sie aber auch an die Konsequenzen des neuen Merkmals aus.
Falls es sich herausstellt, dass Bärbels Luigi derselbe ist, der als Kopf des Sesto-Syndikats Limousinen unbescholtener Bürger Waldaschaffs über Bari nach Beirut verschifft und Bärbel ihm ein falsches Alibi verschaffte, dann möchte ich nicht ihr Vater sein. Hätte Bärbel bloß kein Italienisch gelernt! Dann wäre sie auf Luigis Ciao bella, amore mio, ah, che occhi azzurri magnifici gar nicht erst hereingefallen.
Was schließen wir daraus? Italienisch zu lernen kann gefährlich sein. Nach Deutschland zu fahren aber auch: falls Luigi ein so reines Herz hat wie die Jungfrau auf Tizians Meisterwerk Flora, Bärbel aber ein Luder ist, das den edlen Jüngling mit ihren blauen Augen vom rechten Weg abbringt.
Fähigkeiten können als Eigenschaften angesehen werden: Der Mensch hat die Eigenschaft, aufrecht zu gehen. Zugleich ist er dazu fähig. Fähigkeiten sind Eigenschaften besonderer Art, weil sie durch ihren Träger dynamisch einsetzbar sind.
Während eine statische Eigenschaft mit ihrer Konsequenz unauflösbar verkoppelt ist und ihren Träger damit einseitig in Besitz nimmt, sind dynamische Eigenschaften so zu modulieren, dass der Träger über ihre Wirkung mitbestimmt. Trotzdem leben wir als Personen dergestalt, dass auch dynamische Eigenschaften, sobald sie angewendet werden, neue Bedingungen schaffen, denen wir in der Zukunft unterworfen sind. Das liegt daran, dass allem, was wir als Personen tun, nur eine perspektivisch verzerrte Kenntnis der Wirklichkeit zugrundeliegt.
Besitzverhältnisse im Überblick
Eigenschaften treten in zwei Varianten auf...
Statische Eigenschaften können durch ihren Träger nicht verändert werden. Der Träger wird von seiner Eigenschaft einseitig in Besitz genommen. Sie setzen seiner Freiheit eine klare Grenze.
Statische Eigenschaft | Fähigkeit | |
Der Träger ist in Besitz genommen. | + | + |
Der Träger kann verfügen. | - | + |
Die Wirklichkeit lässt sich in drei Kategorien aufteilen:
Man sagt zwar: Die Kugel hat drei Eigenschaften. Sie ist rund, besteht aus Eisen und hat einen Radius von zehn Zentimetern. Man kann jedoch kaum sagen, dass die Kugel im Besitz irgendwelcher Eigenschaften wäre. Vielmehr ist es umgekehrt. Durch statische Eigenschaften wird sie vollständig bedingt. Also besitzt sie nichts, sondern wird durch ihr Sosein besessen. Ihr Besitzer ist das, was die Naturgesetze bestimmt.
Soweit Personen mit statischen Eigenschaften behaftet sind, werden auch sie einseitig bedingt. Da Personen aber über dynamische Eigenschaften verfügen, haben sie über ihr Schicksal Mitbestimmungsrecht. Sobald eine Person eine Fähigkeit ausübt, wird ihre Zukunft durch deren Qualität jedoch erneut bedingt. Die Ursache dafür liegt im Umstand, dass der Einsatz von Fähigkeiten meist durch bedingte Reflexe gesteuert wird.
Durch bedingte Refelxe wird die dynamische Fähigkeit quasi zu einer statischen Eigenschaft. Die Person folgt festgelegten Verhaltensmustern. Sie hat einen bestimmten Charakter, der sie neuer Fremdbestimmung unterwirft.
Religiöse Impulse
Weil der Mensch ein Zwitter ist, der sich aus der Seinsart des vollständig Bedingten teilweise gelöst hat, sucht er nach dem Unbedingten, um in diesem völlig frei zu sein. Dem Unbedingten gegenüber will er nicht bloß in der Rolle des Bedingten bleiben, also in der eines willkürlich geschaffenen Objekts, das einst wie alle Objekte untergeht. Er will sich im Unbedingten selbst erkennen und durch die Erkenntnis in ihm aufgehen.
Politisch-konfessionelle Glaubensformen beschreiben den Menschen als bloßes Objekt. Weil die Politik Mächtiger Untertanen braucht, verkünden sie, dass der Mensch auf Gottes Geheiß bedingt, also fremdbestimmt, bleiben soll. Mehr noch: Sie behaupten, dass der Versuch, sich aus der Bedingtheit zu befreien, die ursprünglichste aller Sünden ist.
1 Moses 3, 22:*
Dann sprach er:" Ja, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, daß er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baum des Lebens vergreife, davon esse und ewig lebe."
Sterben zu müssen, ist der abschließende Ausdruck des Bedingtseins. Die Behauptung, Gott habe den Menschen aus seiner Nähe verbannt, um zu verhindern, dass er nach dem Baum des Lebens greift, ist eine metaphorische Botschaft. Sie spricht dem Einzelnen das Recht ab, seine Bedingtheit zu vermindern. Deshalb ist Gehorsam das oberste Gebot politisch-konfessioneller Glaubensformen. Sie drohen bei Ungehorsam mit dem Verlust der Zugehörigkeit.
Im Gegensatz zur politisch-konfessionellen Auffassung erfüllt sich mystische Religion in Selbstbestimmung. Zugehörigkeit ist in ihren Augen unverlierbar. Gehorsam passt Gegebenes Vorgaben an. Selbstbestimmung fürchtet, sich selbst zu verfehlen. Mystik versucht nicht, Gläubige unter Bilder und Vorgaben zu beugen. Sie verhilft ihnen dazu, sich selbst zu entdecken.
Stellt man über das Unbedingte Vermutungen an, steht man auch vor der Frage eines geeigneten Artikels. Sollte man Das Unbedingte sagen? Ist das Unbedingte ein Der oder eine Die? Es fällt nicht schwer, sich für das Das zu entscheiden.
Würde man dem Unbedingten ein Geschlecht zuordnen, das mehr auf es zuträfe als sein Gegenpol, schriebe man ihm eine statische Eigenschaft zu. Wenn man das bisher Gesagte berücksichtigt, wird man das nicht tun.
Der Artikel zeigt generell an, dass es sich beim Unbedingten um ein umfassend Ganzes handelt. Spräche man nur von Unbedingtem und ließe den Artikel weg, entstünde der Eindruck, dass es Unbedingtes mehrfach geben könnte. Wäre es so, würde das eine Unbedingte jedoch das andere mitbedingen. Wirklich unbedingt wäre dann keines mehr.
Männlichkeit ist der Gegenpol des Weiblichen. Behauptet man Männlichkeit als Eigenschaft des Unbedingten, bleibt als Merkmalsträger des Weiblichen Bedingtes übrig. Dualistische Religionen neigen dazu, ihre Götterbilder mit Geschlechtsmerkmalen auszustatten. Im patriarchalischen Horizont abrahamitischer Kulturen führt das zur Abwertung des Weiblichen. Götterbilder, die geschlechtlich sind, führen zu Spaltung, Entwertung und Asymmetrie.
Da das Unbedingte durch keine Bedingungen eingeschränkt wird, hat es zwar keine festen Eigenschaften, es ist aber zu Umfassendem fähig. Es ist in der Lage, Bedingtes vollständig zu verstehen und in die Abläufe bedingter Ereignisfolgen steuernd einzugreifen. Das Unbedingte kann sehen und frei entscheiden, was es tut.
Im Gegensatz zu einer menschlichen Person kann das Unbedingte Fähigkeiten so zur Anwendung bringen, dass es von den Folgen der Anwendung nicht seinerseits bedingt wird. Das Unbedingte kann sehen und tun, ohne dass es durch das, was es sieht oder tut, verändert wird.
Religion befasst sich mit Techniken der Annäherung ans Unbedingte. Dabei kann mit Annäherung nicht gemeint sein, dass man den topografischen Abstand verringert. Annäherung kann zweierlei sein:
Die erste Variante ist der Vorsatz der dualistischen Religion. Unterwirft man sich dem Unbedingten, findet eine Annäherung aber nur in begrenztem Maße statt. In einem System aus Unterwerfungsanspruch und Unterwerfungstat bleibt notwendigerweise der Abstand bestehen, der beide Pole trennt. Niemand, der sich zu unterwerfen versucht, ist Gott tatsächlich nah.
Die zweite Variante ist der Vorsatz der mystischen Religion. Die Mystik versucht, das Unbedingte als eigentliches Selbst des teilweise Bedingten zu sehen. Dabei helfen drei Methoden.
Meditation ist vor allem Selbsterkenntnis. Wer meditiert, versucht die Muster seiner seelischen Prozesse aus einem Abstand zu verstehen, der unbedingte Erkenntnis möglich macht. Unbedingt kann Erkenntnis sein, wenn ihr Horizont nicht von Absichten eingeschränkt wird, die durch das persönliche Vorteilsstreben bedingt sind.
Das soziale Rollenspiel, das unseren Alltag oft vollständig beherrscht, fußt auf einem bedingten Repertoire weitgehend unerkannter Reaktionsmuster. Wir nehmen Konstellationen wahr und reagieren darauf. Das momentan Wahrgenommene bestimmt im Verein mit unbewussten Zielen fast vollständig, was wir dabei tun.
Eigentlich wünscht Bärbel, gesehen zu werden und bejaht zu sein. Da sie kaum nach innen schaut, ist ihr weder ihr Motiv bewusst noch ist sie in der Lage, sich durch Selbstbeachtung zu bejahen. Als Luigi Italienerklänge von sich gibt, wird das, was Bärbel in der Folge tut, fast unausweichlich durch innere und äußere Bedingungen bestimmt. Statt ins Licht fliegt die Motte ins Feuer; weil sie nicht dorthin schaut, wo sie erkennen kann, dass sie ein Schmetterling ist.
Um solche Muster zu umgehen, übt der Meditierende, wahrzunehmen ohne zeitgleich auf das Wahrgenommene zu reagieren. So wird er in die Lage versetzt, seine persönlichen Muster als bedingte Objekte zu erkennen und sich durch Erkenntnis dem Bedingtsein zu entziehen. Entzieht er sich dem Bedingtsein durch persönliche Muster, verwirklicht er das Wesen des Unbedingten in sich selbst.
Das Grundprinzip des religiösen Opferns besteht in der Lockerung der Bindung an Bedingtes. Wer wahrhaft religiös opfert, opfert nicht, um dadurch schlechte Bedingungen gegen bessere einzutauschen. Er opfert Bindung an Bedingtes, weil er sich ins Unbedingte freizusetzen versucht.
Ethisch handelt, wer in Übereinstimmung mit sich selbst handelt. Im üblichen Rollenspiel des egozentrischen Lebens richtet man Taten an persönlichen Vor- und Nachteilen aus. Dadurch wird das Handeln in einen Rahmen bestimmter und damit bestimmender Bedingungen gebunden, in dem es gefangen liegt.
Wer davon ausgeht, dass sich sein Wesenskern als unbedingt erweisen wird, kann sich dazu entscheiden, nicht das zu tun, worin er von Bedingungen diktiert seinen persönlichen Vorteil sieht, sondern das, was er aus freier Kenntnis der Dinge für richtig hält.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.