Vergeben, verzeihen und versöhnen befassen sich mit der Bereinigung gestörter Beziehungen. Der Mensch lebt stets in Beziehung. Sein Wohlbefinden hängt davon ab, ob der Bezug zu den anderen mit ihm selbst übereinstimmt.
Bei Störungen, die durch vergeben, verzeihen oder versöhnen behoben werden können, handelt es sich um Beziehungsstörungen, die durch eine bestimmte Form von Schuld hervorgerufen werden: jener, die nicht durch die Rückgabe eines geschuldeten Gegenstands beglichen werden kann.
Schuld, die beglichen werden kann
Anna schuldet Peter 300 Euro. Sobald sie ihm das Geld zurückgibt, ist die Schuld beglichen.
Schuld, die vergeben bzw. verziehen werden kann
Bevor Anna Peters Geld zurückgab, hat sie mehrfach Zusagen nicht eingehalten. Diese Schuld kann nur verziehen werden.
Aus Eifersucht hat Peter ein Foto zerrissen, das Anna mit Marvin zeigt und ihr am Herzen lag. Diese Schuld kann er nicht mehr begleichen. Auch sie könnte ihm nur verziehen werden.
Eine Betrachtung der Begriffe verdeutlicht die Vorgänge, die sie beschreiben.
Ver-
Alle drei Begriffe beginnen mit der Vorsilbe ver-. Ver- zeigt ein Hinüberführen bzw. eine Zustandsänderung an (siehe dazu auch hier und hier). Indem man vergibt, verzeiht und versöhnt wird die gestörte Beziehung in einen stimmigen Zustand überführt.
Vergeben
Beim Vergeben wird die Zustandsänderung erreicht, indem man etwas weggibt. Der Geschädigte gibt den Anspruch auf Ausgleich aus der Hand. Er bestätigt die Freiheit des Schuldners, indem er den Schuldschein verwirft. Sich selbst befreit er dadurch von der Notwendigkeit, etwas zu fordern.
Verzeihen
Das gemeingermanische Verb zeihen geht, wie das Verb zeigen, auf indogermanisch deik- = zeigen zurück. Zeihen heißt eigentlich: auf den Schuldigen zeigen, also jemanden beschuldigen. Heute kommt zeihen nur noch im Verb verzeihen vor. Verzeihen heißt: Den anderen nicht mehr als den Schuldigen anzeigen, sondern an ihm vorbeizeigen.
Versöhnen
Versöhnung geht auf mittelhochdeutsch süene bzw. suone = Schlichtung, Friede zurück. Das zugehörige Verb sühnen bezeichnet den Ausgleich einer Schuld durch Buße oder Wiedergutmachung. Es ist ablautend verwandt mit norwegisch svana = abnehmen, gestillt werden. Als Grundbedeutung der entsprechenden Wortfamilie wird beschwichtigen, still machen, beruhigen angenommen. Versöhnung kommt zustande, wenn der Groll, der durch die schuldhafte Handlung entstand, durch eine Sühneleistung beschwichtigt ist.
Buße
Eine Buße besteht aus der Übernahme einer ausgleichenden Last, die dem Schuldigen ein Leid aufbürdet, das dem Leid entspricht, das er verursacht hat. Sprachgeschichtlich geht das Verb büßen auf den veralteten Begriff baß = besser zurück. Die Buße verbessert das gestörte Verhältnis zwischen dem Schuldigen und dem Geschädigten bzw. der Gemeinschaft. Im Gegensatz zur Buße ist die Wiedergutmachung eine Ausgleichsleistung, die den Schaden des Geschädigten behebt. Das Verhältnis wird nicht nur verbessert, sondern in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt.
Vergebung und Verzeihung benennen vom Grundsatz her das Gleiche; aber nicht dasselbe. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Verb verzeihen auf die Bereinigung sozialer Schuld angewandt. In Analogie zum biblischen Vergib uns unsere Schuld, wird beim Verb vergeben an den Ausgleich existenzieller Schuld gedacht. Obwohl die Trennlinie unscharf ist und die Begriffe umgangssprachlich oft synonym verwendet werden, macht die Unterscheidung Sinn.
Parallel zur Unterscheidung zwischen sozialer und existenzieller Schuld, kann Schuld auch in leichte und schwere Schuld aufgeteilt werden. Dabei ist soziale Schuld vergleichsweise leicht. Existenzielle Schuld gilt grundsätzlich als schwer.
Die Tilgung sozialer Schuld, die nicht beglichen werden kann, ist Aufgabe des Verzeihens. Soziale Schuld resultiert aus der Missachtung der Ebenbürtigkeit des anderen. Der Wert des anderen wird nicht beachtet.
Die schuldhafte Missachtung des anderen führt bei rein sozialer Schuld zu einer Kränkung bzw. Befremdung, jedoch nicht zu einem nachhaltigen Schaden. Die Schuld kann verziehen werden.
Die Tilgung existenzieller Schuld ist Aufgabe des Vergebens. Existenzielle Schuld entsteht durch eine Schädigung des anderen, die nicht mehr gutzumachen ist.
Theoretisch ist die Einteilung in soziale und existenzielle Schuld klar. Bei der ersten entsteht eine Kränkung, die im Grundsatz spurlos zu beheben ist oder eine Befremdung, die durch vertrauensbildende Maßnahmen rückgängig gemacht werden kann. Bei der zweiten entsteht ein Schaden, der schwer oder gar nicht mehr gutgemacht werden kann.
In der Praxis ist die Unterteilung jedoch unklar. Von der sozialen zur existenziellen Schuld gibt es Übergänge. Wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, das sich über abwertende Urteile anderer hinwegsetzt, können durch dauerhafte Missachtung seiner Gleichwertigkeit schwere psychologische und biographische Schäden entstehen.
Kinder...
können sich einem Klima ständiger Missachtung ihres Eigenwerts kaum entziehen. Tausend Kränkungen ihres Selbstwertgefühls summieren sich zu einem psychologischen Schaden, der ihr Leben überschattet. Die Täter können sich so in einer Weise schuldig machen, die nicht mehr zu verzeihen ist, sondern nur noch vergeben werden kann.
Die Bereinigung schuldbedingter Störungen führt zur Versöhnung. Je nach Art der Schuld ist die Erfüllung unterschiedlicher Bedingungen erforderlich.
Materielle Schuld wird durch Rückgabe des geschuldeten Gegenstands getilgt. Alternativ kann die Schuld durch Schenkung erlassen werden.
Die Tilgung sozialer Schuld erfordert die Anerkennung der Schuld und die ausdrückliche Bestätigung des Eigenwerts des Geschädigten.
Die Tilgung existenzieller Schuld erfordert die Bereitschaft zu einer Wiedergutmachung, die die Lebensführung des Schuldigen verändert.
Jan hat Heike angelogen. Zwischen ihm und Britta war mehr gewesen. Das hat sich jüngst herausgestellt.
Indem Jan Heike die Wahrheit vorenthielt, hat er sich über sie gesetzt und versucht, ihre Entscheidungen in seinem Interesse zu manipulieren. Damit hat er Heikes Ebenbürtigkeit missachtet. Eine Lüge wertet den anderen ab, wenn sie dazu dient, dem Lügner auf Kosten des anderen Vorteile zu verschaffen. Falls er ihr außerdem die Treue versprach, ist sein Techtelmechtel mit Britta eine zweite Quelle sozialer Schuld.
Heike kann Jan verzeihen, wenn er ihr die uneingeschränkte Wahrheit zur Verfügung stellt und die Schuldhaftigkeit seiner Lüge eindeutig benennt. Mit beidem bestätigt Jan, dass er Heike nun als ebenbürtig anerkennt. Er setzt sich nicht mehr über sie, indem er ihre Entscheidungen durch Lügen steuern will.
Benjamin hat sein Leben nach dem Unfall umgekrempelt. Er hat keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Er hat nichts getan, um sich vor der Wucht der Justiz zu schützen. Er hat keine Ausreden erfunden, um das Ausmaß seiner Schuld kleinzurechnen. Er hat das Kind und seine Eltern unter Tränen um Vergebung gebeten. Er engagiert sich ehrenamtlich für Behinderte. Er ist bereit, Schuld solange zu empfinden, wie das Leben es für richtig hält.
Nicht nur der Schuldige hat einen Vorteil, wenn ihm vergeben wird. Auch das Wohlbefinden des Gläubigers hängt davon ab, ob er vergibt oder nicht.
Der Anspruch auf Begleichung einer Schuld setzt auch die Freiheit dessen herab, der den Anspruch erhebt. Ein Anspruch, der nicht aufgegeben wird, bindet die Achtsamkeit des Gläubigers an die Person, gegen die er Vorwürfe erhebt. Das mindert seine Freiheit, anderweitig Gutes zu genießen. Zum Schaden, den er durch den Schuldigen erlitten hat, kommt der Schaden, den er sich durch Unversöhnlichkeit selbst einbrockt. Schuld nicht vergeben zu können, kann mehr Schaden anrichten, als die ursprünglich schuldhafte Tat.
Auch Jahre nach der Trennung von Jan geht Heike dessen Unehrlichkeit nicht aus dem Kopf. Sie wirft ihm vor, an allem schuld zu sein, was sie seither erlitt. Oft liegt sie ganze Nächte wach. Im Geiste wirft sie Jan das immer Gleiche vor. Dadurch übersieht sie den eigenen Anteil an dem, was sie seither erlitten hat.
Gelegentlich ist es aber so, dass der Lärm nach menschlichem Ermessen (noch!) erträglich ist. Dann kann es die aufgestaute Unzufriedenheit des Lärmgeplagten sein, die die Lärmenden zu Sündenböcken macht, um sich über diese zu empören. Der Begriff gelegentlich kann dabei nach übereinstimmender Aussage aller Sprachwissenschaftler des Abendlands punktgenau definiert werden. Gelegentlich heißt: zweimal im Jahr bis maximal 22 Uhr 30.
Wenn die Schuld lärmender Nachbarn nicht mehr wiegt als der Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt, kann es sein, dass das Fass den Tropfen nicht verzeihen kann und bis tief in die Nacht vorwurfsvoll durchs Schlafzimmer rollt. In solchen Fällen trifft zu, dass die Unversöhnlichkeit des Geschädigten ihn mehr plagt als der durch fremde Schuld erlittene Schaden.
Das Bedürfnis nach Vorwurf und Empörung ist weit verbreitet. Wie es im Wort Empörung des bereits anklingt, hebt Empörung den Empörten empor. Darin enthalten ist die indoeuropäische Wurzel bher- = heben, tragen. Empörung ist die Zuweisung quasi unverzeihlicher Schuld. Sie ist ein psychologisches Manöver, das zweierlei Wirkungen hat:
Es hebt das Selbstwertempfinden des Empörten; in der Regel über seine verdrängten Minderwertigkeitsgefühle hinweg.
In religiösen Fragen, aber auch im öffentlichen Raum, wo über die Rechtmäßigkeit politisch vorgetragener Ansprüche gestritten wird, ist die Empörung stets bereit, Empörte nach oben und ihre Zielscheiben nach unten zu befördern. Wegen den allfälligen Minderwertigkeitsgefühlen, die die Gesellschaft durchsetzen, sind geeignete Zielscheiben heiß begehrt. Viele moralisch Empörte verlören kostbares Selbstwertgefühl, wenn es keine Zielscheiben mehr gäbe, deren Beschuss sie in der Rangordnung der anerkannt Guten nach oben brächte.
Vergeben und Verzeihen sind Beziehungsakte. Sie bedürfen einer Instanz, die Vergebung erteilt und einer zweiten, die sie empfängt. Ihre Dynamik spielt sich zunächst zwischen Personen ab. Diese Sicht greift jedoch zu kurz. Vergebung und Verzeihung sind keine ausschließlich zwischenmenschlichen Ereignisse. Sie erfordern innerseelische Vorgänge. Zuweilen gründen sie ausschließlich darauf.
Die Grundlage echter Vergebung ist die Läuterung des Schuldigen. Dazu gehören vier Schritte, die von Fall zu Fall aufeinander auszurichten sind.
Schritte zur Vergebung
Schritt | Bedeutung |
Erkennen der Schuld | Leugnet der Schuldige die Schuld, ist Läuterung nicht möglich. |
Anerkennen der Schuld | Erkennt der Schuldige die Schuld, behält er aber seine Erkenntnis für sich, reicht das nicht aus. Zumindest auf Nachfrage hat er die Schuld dem anderen gegenüber anzuerkennen. |
Durchleben des Schuldgefühls | Gefühle sind Wirkfaktoren innerseelischer Entwicklungen. Sie wirken nur dann ungehindert, wenn man ihre Einwirkung nicht steuert. Nur wenn ich mich dem Schuldgefühl vollständig überlasse, kann ich es vollständig durchleben. Nur dann bewirkt es das, wozu es gut ist. Nur dann kann es vollständig überwunden werden. Ansonsten wird es verdrängt. |
Tätige Wiedergutmachung | Bei Schuld, die nur vergeben werden kann, ist der faktische Schaden nicht mehr gutzumachen. Alternativ kann im Sinne tätiger Reue jedoch etwas anderes zum Ausgleich gut gemacht werden. |
Hat der Schuldige alle vier Schritte durchlaufen, kann Vergebung durch zwei Instanzen erteilt werden:
Ist der Geschädigte aus eigenem Verschulden unversöhnlich, bleibt dem Schuldigen die Vergebung durch das eigene Gewissen.
Die Wirklichkeit neigt dazu, sich nicht an den theoretischen Verlauf zu halten, den der Betrachter ihr zuschreibt. Neben dem idealtypischen Verlauf, der über die Läuterung des Schuldigen zu dessen Freispruch durch beide Instanzen führt, gibt es Varianten. Je nachdem, welche Wege dabei beschritten werden, wird Vergebung im eigentlichen Sinn verwirklicht oder nicht.
Wie gesagt: Im idealen Fall wird die schuldbedingte Beziehungsstörung bereinigt, indem die Schuld von beiden Instanzen vergeben wird. Es gibt jedoch Fälle, in denen nur eine der beiden Instanzen vergibt.
Heike hat ein großes Herz. Ihr Selbstwertgefühl ruht in der Treue zu sich selbst. Da Jan eine Menge guter Eigenschaften hat, verzeiht sie ihm; unabhängig davon, wie er mit sich selbst verfährt...
Fall A: Jan hat ein strenges Gewissen. Obwohl Heike ihm verziehen hat, wirft er sich den Fehler weiter vor.
Fall B: Jan ist ein eitler Bursche. Er verdrängt sein Schuldgefühl und bildet sich ein, dass er nichts zu bereuen hat. Er umgeht die fällige Läuterung. Sein Gewissen hat keine Gelegenheit, ihm etwas zu verzeihen.
Heike hat wenig Selbstwertgefühl. In Vielem ist sie mit sich selbst nicht im Reinen. Jans Schuld ist für sie Gelegenheit, sich von eigenen Schuldgefühlen zu entlasten oder Aggressionen auszuleben, die aus anderen Bezügen stammen. Sie kann ihm nicht vergeben; da sie seinen Fehler dazu missbraucht, eigene Missstände vor sich selbst zu verbergen.
Vergebung kann auch trügerisch sein. Ist der Geschädigte so harmoniebedürftig, dass er die Spannung einer Beziehungsstörung nicht aushält, kann es sein, dass ihn seine Verlustangst dazu verleitet, vorgeblich zu vergeben, obwohl er im Herzen nicht wirklich vergeben kann.
Wir erinnern uns: Jan hatte Heike angelogen. Damit hatte er versucht, Heikes Entscheidungen von oben herab in seinem Sinn zu steuern. Wenn Heike ihren Groll nun aus Angst, ihn zu verschrecken, durch vorauseilende Vergebung aus der Wirklichkeit herausretuschiert, mogelt auch sie. Dann dient ihre Harmoniebereitschaft ihrerseits dazu, Jans Entscheidungen zu steuern. Wer einen anderen aber steuert, stellt sich über ihn. Harmoniebereitschaft kann ein Werkzeug sein, um sich anderer zu bemächtigen.
Bei der echten Vergebung sind nur zwei Instanzen im Spiel: Der Geschädigte und das Gewissen des Schuldigen. Im Kulturkreis der konfessionellen Religionsauffassung hat die stellvertretende Vergebung echter, eingeredeter und eingebildeter Schuld Tradition. Sie ist eine Existenzgrundlage des konfessionellen Priestertums.
Aus der Vorgeschichte eines Patienten
Was antwortete eine schlagfertige Nonne auf die Frage, wie sie die Misshandlungen, die sie an ihm als Schüler eines Internats verübte, mit dem Gebot der Nächstenliebe in Einklang bringt? Das wird alles abgebeichtet.Beim stellvertretenden Schulderlass werden die eigentlichen Instanzen der Vergebung umgangen. Statt durch den Geschädigten oder das Gewissen des Schuldigen wird Vergebung verbal durch einen Dritten erteilt. Das ist ein Hilfskonstrukt, das unter Umständen sinnvoll ist.
Vom Nutzen stellvertretender Vergebung
Stellvertretende Vergebung macht Sinn, wenn der Schuldige...
unter Schuldgefühlen leidet, die sein weiteres Wohlergehen gefährden, und wenn er...
intellektuell nicht in der Lage ist, das Schulderlebnis so zu verarbeiten, dass er durch einen eigenständigen Gewissensentscheid vom Schuldgefühl befreit werden kann.
So nutzlos sie theoretisch erscheinen mag, ist die stellvertretende Vergebung im Beichtstuhl nicht immer. Immerhin wird erlebte Schuld einem anderen mitgeteilt. Das ist einer der vier genannten Schritte auf dem Weg zur Vergebung. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Büßer das Ritual nicht soweit missbraucht, als dass sie damit eine Auseinandersetzung mit dem Gewissen umgeht.
Es ist für Jan allerdings leichter, seine Untreue statt Heike einem Priester zu beichten. Wenn er mit ein paar Rosenkränzen davonkommt, macht sein Ego ein Geschäft, von dem sein Selbst nicht profitiert. Der Umweg über den Priester kann ein Kurzschluss sein, der echte Läuterung verhindert. Was juckt mich mein Gewissen, wenn mir bloßer Glaube Absolution erteilt?
Vergebung macht nur Sinn, wo tatsächliche Schuld entsteht. Schuld, die auf Illusion beruht, kann nicht vergeben werden, da sie nie zustande kam. Schuldgefühle, die auf einer wahnhaften Verkennung der Realität beruhen, werden nicht durch Vergebung getilgt, sondern durch Einsicht beseitigt; oder im Falle produktiver Psychosen durch Medikamente gedämpft.
Ideologisch geschlossene Weltanschauungen entwerfen regelhaft Moralvorstellungen, deren Missachtung eine vermeintliche Schuld erzeugt, die angeblich nur durch die Repräsentanten der Gemeinschaft und die Bereitschaft zur Unterwerfung vergeben werden kann. Solcherlei Moralvorstellungen dienen zwar dem Zusammenhalt der Gruppe, nicht aber dem Wohl des Einzelnen. Die Vergebung, die sie nach erfolgter Unterwerfung erteilen, ist absurd, weil die Übertretung des Moralgesetzes niemanden real geschädigt hat.
Wenn Bernhards Beichtvater, nach erfolgter Buße, die Schuld an dessen erotischem Interesse an Rosamunde "vergibt", wird eine Illusion durch eine andere ersetzt. Das kann Bernhards Schuldgefühle zwar beseitigen, tatsächlich wird aber keine Schuld vergeben, sondern ein entsprechendes Gefühl wird durch ein rituelles Ungeschehenmachen seiner weltanschaulichen Begründung beraubt. Immerhin: Wenn Bernhard dadurch erleichtert wird, hat er Glück im Unglück gehabt.
Vergebung beseitigt Leid. Dem entspringt ihr Wert. Sie entlastet den, dem vergeben wird, aber auch den, der vergibt. Daher hat sie zwei wesentliche Wirkungen:
Oft sind Menschen nicht in der Lage, anderen etwas zu verzeihen; obwohl es auch für sie selbst das Beste wäre. Folge ist eine Störung ihres Glücksempfindens durch unbewussten oder manifesten Groll. Das Unvermögen, tatsächliche oder vermeintliche Schuld zu erlassen, wird durch kognitive Muster verursacht, die das Welt- und Selbstbild pathogen verzerren.
Groll geht auf mittelhochdeutsch grellen = laut anschreien, vor Zorn brüllen zurück. Wie soll jemand glücklich sein, wenn er schreit?
Der Begriff pathogen meint: leiderzeugend; abgeleitet von griechisch pathos [παθος] = Leid und gignesthai [γιγνεσθαι] = entstehen, werden, geboren werden.
Grundlegend ist dabei die Identifikation des Ich mit der Person und deren stetem Geltungsdrang. Die Identifikation des Ich mit der Person entspricht zwar dem normalpsychologischen Selbstbild, sie ist jedoch eine Deutung der Wirklichkeit, die das Ich in zweierlei Hinsicht in die Irre führt.
Zum einen begründet sie ein grundsätzliches Selbstwertproblem. Wer sich nicht für sich selbst hält, sondern bloß für eine Person, setzt sich herab. Er übersieht die Majestät des Selbst, also dessen Erhabenheit über das Bedingte.
Weg zum Glück
Sie wollen glücklich werden? Dann müssen Sie eine Bedingung erfüllen:Gehen Sie systematisch davon aus, dass Ihr Unglück nicht durch äußere Umstände verursacht wird, sondern durch Ihr eigenes Unvermögen. Machen Sie sich klar: Die Welt mag Ihnen Leid aufbürden. Sie ist aber nicht daran schuld, dass Sie unglücklich sind. Sie sind nicht glücklich, weil Ihnen der Mut dazu fehlt.
Tatsächlich wird das meiste Leid nicht erlitten, weil die Person wenig Bedeutung hat, sondern weil sie zu viel davon haben will.
Offensiv abgewehrte Selbstwertzweifel führen zum Versuch, der eigenen Person mehr Bedeutung zu verschaffen, als sie faktisch hat. Da die schuldhafte Missachtung der Person deren Bedeutung grundsätzlich in Frage stellt, erscheint die Schuld eines anderen daher unverzeihlicher, als sie es in den meisten Fällen ist. Für den, der den Wert seiner selbst bezweifelt, ist die Missachtung seiner Person nicht nur missachtend. Sie ist eine Majestätsbeleidigung. Genau die soll durch Unversöhnlichkeit zurückgewiesen werden. Die wahre Majestät des Ich - sein Selbst - kann nicht beleidigt werden, da es sich über jedes Leid erhebt.
Die Schuld eines anderen ist Auslöser von persönlichem Leid. Sonst wäre sie keine. Wie viel Leid eine Schuld verursacht, hängt aber nicht nur vom äußeren Faktor ab, sondern auch von der Reaktion des Geschädigten. Da der Mensch zuerst die Welt sieht, und dann gegebenenfalls sich selbst, betrachtet er als alleinige Ursache seines Leids meist den äußeren Faktor. Er projiziert: Der, dies oder das ist an all meinem Unglück schuld.
Da kaum ein Mensch so in sich ruht, als dass er nichts erlitte und da man problemlos Zustände als Missstände betrachten kann, mangelt es Menschen kaum je an Sündenböcken, bei denen sie die Schuld an jenem Unglück auszumachen glauben, das ihrer irrigen Identifikation mit der Person entspringt. Sie schreiben äußeren Ursachen auch das Leid zu, das nicht vom Ereignis, sondern durch die pathogene Reaktion darauf verursacht wird. Leid ist oft nicht mehr als Wichtigtuerei.
Da die leidende Person es für einen Vorteil hält, zumindest einen Schuldigen an ihrem Unglück ausgemacht zu haben, wagt sie es nicht, an ihm vorbei zu zeigen und ihm das Maß an Schuld zu vergeben, das ihm möglicherweise zukommt. Bevor sie bereit ist, zu vergeben, verlangt sie von ihm Unmögliches: Wiedergutmachung für bislang entbehrtes Glück. Indem sie die eigene Schuld an ihrem Unglück übersieht, übersieht sie auch die Möglichkeit, es zu beheben. Dabei gilt: Niemand, der nicht allen alles vergeben hat, kann ohne Abstrich glücklich sein.