Leere ist der Hintergrund von allem. Zugleich ist sie eine seelische Erfahrung. Leere wird unterschiedlich erlebt. Der eine schreckt vor ihr zurück, der andere empfindet sie als eine Befreiung aus jeder Angst. Die Qualität der Erfahrung hat sowohl für die seelische Gesundheit als auch für das spirituelle Erleben erhebliche Bedeutung.
Leere ist weder ein Etwas noch ein Nichts. Das Nichts ist eine intellektuelle Spekulation. Wenige Überlegungen machen klar, dass das Nichts nur als intellektuelle Spekulation existieren kann. Das Nichts setzt einen Intellekt voraus, der es sich vorstellt.
Nihilismus
Nichts (lateinisch nihil) taucht im Begriff Nihilismus auf. Üblicherweise wird damit kein philosophisches Konzept bezeichnet, das davon ausginge, dass es eigentlich nichts gibt. Auch der Nihilist glaubt, dass es etwas gibt. Er glaubt jedoch, dass all dem, was es gibt, kein Sinn inneliegt, sodass alles menschliche Tun zuletzt sinnlos und jeder Wert im Grunde Illusion ist. Tatsächlich setzt aber auch der Nihilist Sinn voraus. Wer der Wirklichkeit Sinn abspricht, geht davon aus, dass es Sinn macht, ihn ihr abzusprechen.
Nihilismus kann als Trotz verstanden werden. Der Nihilist spricht der Wirklichkeit Sinn ab, weil er sich darin gefangen fühlt. Indem er ihren Wert verneint, versucht er sich von ihr zu befreien. Man kann sich aber nicht von der Wirklichkeit befreien, sondern nur zur Wirklichkeit. Sinn ist die Verwirklichung von Freiheit.
Reine Leere ist die Abwesenheit von etwas. Ein Etwas ist ein Geformtes, das als Form erkennbar und von anderen Formen zu unterscheiden ist. Formen werden vor verschiedenen Hintergründen wahrgenommen:
Raum, Stille und Bewusstsein sind drei Erscheinungsfelder der Leere. Formen gehen aus ihnen hervor und lösen sich darin auf. Hinter allem, was es gibt, steht zugleich die Leere, die es enthält. Leere wird durch Inhalt nicht beseitigt, sondern nur gefüllt. Als spirituelle Schlüsselerfahrung gilt, der Leere ohne Inhalt gewahr zu werden. Inhalte können unterschieden werden. Wird Leere nicht mehr durch Inhalte verdeckt, wird nicht mehr unterschieden. Das Erfahrende erfährt, dass es vom Erfahrenen ungeschieden ist.
So wie Leere der eine Hintergrund ist, vor dem verschiedene Formen erkennbar werden, so bilden Formen Vordergründe, hinter denen die eine Leere liegt. Da Leere formlos ist, ist sie grenzenlos. Da sie keine Grenze hat, erstreckt sie sich in sämtliche Formen hinein und durch sämtliche Formen hindurch. Das persönliche Erleben der Wirklichkeit wird entscheidend davon mitbestimmt, wie man auf die Erfahrbarkeit der Leere reagiert. Die meisten Menschen fürchten die Leere. Nur wenige begegnen ihr gelassen. Noch weniger suchen danach.
Reife und Konkretismus
Je unsicherer eine Person ihrer selbst ist, desto zwingender erlebt sie das Bedürfnis, Sicherheit in festgefügter Zugehörigkeit zu finden. Die Angst vor der Leere wird durch konkrete (lateinisch: concrescere = zusammenwachsen) Identifikationen gebunden. Konkret sind die eigene Leiblichkeit, zwischenmenschliche Beziehungen sowie Gruppenzugehörigkeiten. Konkret sind aber auch unverrückbare Wertvorstellungen und Weltanschauungen.
Erst mit zunehmender Reife wird man fähig, sich von den Verwachsungen loszusagen, die Burg und Käfig in einem sind. Erst dann wird man vor der Leere nicht mehr flüchten; sondern sie als Befreier aus der Verlorenheit in die Welt zufälliger Formen feiern. Leere zeigt der Form, dass sie nicht nur anderen Teilen, sondern der Einheit angehört.
Ob man mit Angst oder Gelassenheit auf Leere reagiert, hängt von zweierlei ab:
Das Wofür und das Woran sind zwei Anker, durch die man sein Selbstbild festlegt.
Das Wofür begründet die primäre Identifikation. Beim Wofür handelt es sich um Teile der Wirklichkeit, die man innerhalb des eigenen Wesens lokalisiert und denen man Teile außerhalb des Wesens gegenüberstellt.
Das Woran begründet die sekundäre oder stützende Identifikation. Beim Woran handelt es sich um Urteile, die man für richtig hält.
Kriterien, an denen das Selbstbild verankert wird, vermitteln ein Gefühl der Sicherheit. Man weiß, was man ist und wo man hingehört. Die Festlegung der eigenen Identität spielt bei der Regulation des Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Konflikts eine wichtige Rolle.
Gestaltpsychologie
Die Formlosigkeit des Geistigen ist dem Geist nicht geheuer. Daher hat die Psyche den Drang, Formen zu entwickeln, anzunehmen, auszufüllen und zu vollenden. Statt von der Form spricht die Psychologie auch von der Gestalt. Aus der Angst vor der Leere begünstigt die Psyche Strukturen, die keiner Sache dienen, sondern zum Ausdruck bringen, wie sehr sie sich vor Freiheit fürchtet.
Deutsches Wesen
Die deutsche Politik steht im Ruf, mehr als die anderer Länder Regelwerke hervorzubringen, in deren Verästelungen sich selbst Entfesselungskünstler mit mehrfacher Navigationsgeräteausstattung unentrinnbar verheddern können. Auch das ist Ausdruck der German Angst. Sie will der Leere keinen Spielraum lassen, in dem sich erschreckende Freiheiten entwickeln könnten.Festlegung bedeutet, an bestimmten Formen festzuhalten. Dieser Form - und nicht etwa einer anderen - wird eine besondere Bedeutung zugewiesen. Da Leere formlos ist und somit den Bestand jeder Form übersteigt, wird sie umso mehr gefürchtet, je mehr man das Bild des eigenen Wesens an Formen festmacht.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und die Erfahrung der Leere
Zugehörigkeit vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Das Bedürfnis danach ist tief in der Psyche verankert. Das ist verständlich. Der Mensch kommt hilflos zur Welt. Ohne eine schützende Person kann ein Kind nicht überleben.
Das Bedürfnis, sich an eine Mutter zu binden, verschiebt sich im Laufe des Lebens auf verschiedene Objekte: Teddybären, Freunde, Partner, Besitz, Reichtum, Positionen, Meinungen, Mitgliedschaften, Glaubenssätze, Regeln, Ruhm, Erlebnisse, Erwartungen, Planungen, Projekte, Aufgaben, Ziele, Wertvorstellungen, Selbstbilder. Wir klammern uns an alles, was uns Sicherheit verspricht.
Wie sehr man sich an Erwartungen klammert, erkennt man, wenn die Dinge wieder einmal anders laufen, als man es erwartet hatte. Statt loszulassen und mit dem Strom des Lebens fortzugehen, verteidigt so mancher seine Erwartungen wie ein wildes Tier.
Leere ist die Abwesenheit von etwas, dem man angehören könnte. Weil er fürchtet, darin verlorenzugehen, schreckt der Mensch davor zurück. Wer aber erkennt, dass er selbst die Leere ist, findet in ihr die höchste Sicherheit.
Leere ist Hintergrund jeder geformten Wirklichkeit. Daher erfährt man sie auf Schritt und Tritt. Sie ist sowohl mittelbar, also durch sinnliche Wahrnehmung, als auch unmittelbar als freier Bewusstseinsraum erfahrbar. Man findet sie beim Blick nach außen ebenso wie beim Blick nach innen. Wir begegnen ihr als Raum, Himmel, Stille, Einsamkeit oder Langeweile.
Je beharrlicher wir nach der Form Ausschau halten, die wir jenseits bloßer Körperlichkeit sind, desto flüchtiger erscheinen uns die Inhalte des Bewusstseins. Gedanken tauchen auf und verschwinden. Gefühle und Stimmungen schwanken wie Gras im Wind. Bestimmte Impulse erscheinen uns heute bezwingend. Schon morgen sind die gleichen Impulse bedeutungslos. Wenn wir nach unserem Wesen fragen, ist der Hinweis auf Gedanken, Gefühle und Impulse keine Antwort, da nichts von dem, was nur erscheint, wesentlich sein kann. Wenn man sich beim Blick nach innen nicht vom Flüchtigen aufhalten lässt, kommt man bei einer Leere an, die alles enthalten kann, aber nichts davon ist.
Der Reifegrad einer Person bezüglich des psychologischen Grundkonflikts, bestimmt ihre Reaktion auf die Erfahrung der Leere. Viele dieser Reaktionen gehen fließend in Verhaltenssymptome über, die die Psychiatrie als Zeichen seelischer Erkrankungen beschreibt. Gemeinsamer Nenner dieser Symptome ist ihre Funktion: Der Erfahrung der Leere aus dem Wege zu gehen.
Kleine Fluchten...
...und schwere Leiden
Ein häufiges Abwehrmuster gegen die Erfahrung der Leere ist ständige Geschäftigkeit. Indem man immer etwas angeht, etwas zu erledigen hat, mit Zielen und Projekten beschäftigt ist, bindet man die Aufmerksamkeit an eine Folge unterschiedlicher Formen. Durch Geschäftigkeit weist man beliebigen Formen eine besondere Bedeutung zu: mit der eigenen Person in Beziehung zu stehen. Den wechselnden Formen ist dabei eins gemeinsam. Die Bedeutung, die man ihnen heute beimisst, hat man morgen vergessen.
Hektisches Fieber
So nannte man früher ein Symptom der Schwindsucht. Heute hat man den Eindruck, dass das öffentliche Leben vom hektischen Fieber befallen ist. Es wimmelt von unvollendeten Baustellen, unausgegorenen Reformprojekten, unnützen Verwaltungsvorschriften und unermüdlichen Wachstumsbemühungen. Ob hinter all dem nicht auch ein Mangel an echtem Inhalt wirkt, der das Leben in einen Sinn zentriert?
Statt den Verfall der Form zu Leere zuzulassen und damit die Rückkehr aus dem Bedingten ins Absolute, schlüpft man aus Furcht vor der Entbindung in immer neue Kleider.
Motive der Geschäftigkeit
Geschäftigkeit ist eine Maske der Angst. Bloß nicht ausgesetzt sein in der Leere! Sich lieber in die nächste Form ergießen, in der man ein Weilchen Deckung findet! Wer sich von Geschäftigkeit in immer neue Häfen treiben lässt, in denen er nicht zuhause ist, kann nicht lernen, frei zu sein.
Je mehr Dinge der Mensch zu produzieren im Stande ist, desto mehr führt die Flucht aus der Leere in den Überfluss. Je schneller es geht, aufkommende Bedürfnisse zu erfüllen, desto kürzer befriedigt ihre Erfüllung ein grundsätzliches Unbehagen, das durch stets wachsenden Wohlstand nicht zu beseitigen ist. Das Unbehagen ist Resultat einer Verkennung.
Das Selbst ist Raum, die Person ist sein Inhalt. Je einseitiger man sich für den Inhalt hält, desto mehr ist man von der Idee besessen, das Glück liege darin, Inhalte zu vermehren und Räume zu füllen. Statt durch immer neue Inhalte aber satt zu werden, führt Überfülle in den Überdruss. Nicht dass Inhalte bedeutungslos wären und dass man sich nicht an ihnen erfreuen könnte. Die Freude am Inhalt ist aber nur zu erleben, wenn der Inhalt nicht überhandnimmt, und er aus der Leere heraus erkannt werden kann. So kommt es, dass Äpfel, die man täglich zu essen bekommt, schwerer zu genießen sind als ein einziger, den man mühsam ergattert.
Ein großer Teil der Unzufriedenheit, die den modernen Menschen dazu antreibt, immer mehr Inhalte vom Leben zu verlangen, ist der Überdruss an genau dem Überfluss, den er als untaugliches Heilmittel gegen jedwede Unzufriedenheit hervorbringt. Im Begriff Überdruss steckt die indoeuropäische Wurzel treu-d = quetschen, stoßen, drücken. Das Viele, das das Unbehagen beseitigen soll, beseitigt stattdessen den Raum, in dem die Leichtigkeit des Glücks zu spüren wäre. Glück kann nur erscheinen, wenn man den Raum nicht vollstopft, in dem es erscheinen könnte.
Leere ist formlos, zeitlos, unzerstörbar. Viele spirituelle Traditionen betrachten sie als unerschöpflichen Ursprung aller Formen und Erscheinungen der Welt. Da sie formlos ist, kann man kaum über ihr Wesen streiten. Traditionen, die Leere als Urgrund der Wirklichkeit sehen, geraten nur selten aneinander. Solche, die dem Urgrund Formen zuordnen, tun es ständig.
Traditionen, die die Leere als grundlegend betrachten, sind in der Minderzahl. Die meisten wenden sich nicht der Leere zu, sondern Bildern, die sie stattdessen zu Göttern erklären. Das Bedürfnis nach Sicherheit verleitet sie, sich das Heilige als mächtige Person zu denken, die Schutz verheißt, Erwartungen hat, Lohn verspricht und mit Strafen droht. Solche Bilder sind konkretistisch. Sie entsprechen dem Umstand, sich selbst als ein Etwas zu sehen und dem Bedürfnis, den Bestand dieses Etwas um jeden Preis zu sichern.
Der Glaube an eine Gottesperson ist nicht nur Suche nach dem Absoluten. Sie ist auch Flucht davor. Weil sich das Ego in der Unendlichkeit zu verlieren droht, klammert es sich an die begreifbare Vorstellung eines mächtigen Ebenbilds und erklärt die Unbeirrbarkeit, genau das zu tun, zum Garanten seines Überlebens. In Wirklichkeit ist alles, was bestimmte Eigenschaften hat - so auch ein Gottesbild - aber nur ein Etwas, das wie jedes andere Etwas kommt und geht. Ein echter Anker ist es nicht.
Geformte Gottesbilder verfehlen das Wesen des Unbedingten, weil jede Form eine Bedingung ist, die das Geformte zu erfüllen hat, um das zu sein, was es ist. Wer glaubt, eine Gottesperson stehe dem Menschen gegenüber und verlange von ihm dies oder das, hat das Unbedingte missverstanden. Er hat ihm objektive Eigenschaften zugeordnet und es damit auf den Rang einer bloßen Erscheinung herabgesetzt. Auch wenn man das Absolute ausdrücklich als Subjektivität betrachtet, geht man in die Irre, sobald man es als ein Subjekt beschreibt, dem andere Subjekte gegenüberstehen.
Ichlosigkeit
Der Begriff Leere (Sanskrit शून्यता = ⇗Shunyata) ist in der buddhistischen Religionspraxis von zentraler Bedeutung. Shunyata verweist auf die Auffassung, dass keinem der zusammengesetzten Erscheinungen der Wirklichkeit ein eigenständiges, also separates Selbst innewohnt. Da auch die Person eine Erscheinung ist, die aus Bestandteilen besteht, ist sie, was ein Ich betrifft, eigentlich leer.
Der Begriff Ich verweist auf ein Muster bestimmter Eigenschaften, die es unterscheidbar machen. Eigenschaften sind objektive Kriterien. Da das Absolute kaum als ein Etwas mit objektiven Eigenschaften aufgefasst werden kann, ist der Begriff der Leere besser als der des Ich geeignet, auf jenen Urgrund der Wirklichkeit zu verweisen, der der Person zugrundeliegt. Das Selbst kann nur als ein Ich verstanden werden, das das Du nicht aus sich ausschließt.
Leere ist formlos, zeitlos, unzerstörbar. Sie ist unerschöpfliche Möglichkeit. Die Flucht vor der Leere ist eine Quelle seelischen Leids, das sich bei Unzähligen zu psychischer Krankheit verdichtet.
Während die Flucht vor der Leere krank macht, ermöglicht Hinwendung das normale psychische Befinden in seelische Gesundheit umzuwandeln. Seelische Gesundheit geht weit über psychische Normalität hinaus. Während Normalität ein Rollenspiel ist, in dem man mehr oder weniger Erfolg hat, öffnet seelische Gesundheit den Zugang zum vollständigen Potenzial des Lebens. Die Hinwendung zur Leere kann in zwei Stufen erfolgen: durch Wahrnehmung und Des-Identifikation.
Nehmen Sie die Leere wahr, die Ihnen im Alltag begegnet. Wenn nichts zu hören ist, achten Sie auf die Stille. Beobachten Sie, wie Geräusche aus der Stille auftauchen und wieder verschwinden. Nehmen Sie wahr, dass die Stille nach jedem Geräusch unverändert ist.
Beachten Sie den Raum, der zwischen den Dingen liegt. Entfernen Sie Überflüssiges. Weisen Sie Dingen den Raum zu, der es ihnen ermöglicht, unverdeckt zu erscheinen.
Achten Sie darauf, ob beim Alleinsein Impulse aufkommen, hastig nach Bindung zu suchen. Nehmen Sie solche Impulse wahr, ohne ihnen sofort zu folgen.
Nehmen Sie beim Gehen nicht nur das Ziel wahr, auf das Sie zusteuern, sondern den Raum, den Sie durchschreiten.
Nehmen Sie Langeweile wahr, ohne nach Ablenkung zu jagen. Langeweile ist fehlende Zentrierung ins Selbst ohne dass wirksame Ablenkung verfügbar wäre.
Schenken Sie Formen im Alltag mehr Beachtung. Betrachten Sie eingehend die Strukturen der Welt: Steine, Baumrinde, Blätter, Ihren Körper, beliebige Gegenstände, Gesichter, Stoffe, Wolken... Wenn Sie der Form die Beachtung schenken, die ihr gebührt, spüren Sie die Leere, die das Wesen aller Formen ausmacht. Während Form verfällt, bleibt Leere bestehen.
Nehmen Sie Ihre Gedanken und Gefühle wahr. Denken Sie nicht nur, sondern nehmen Sie die Gedanken als Objekte wahr. Schauen Sie zu, wie Gedanken kommen und gehen. Erkennen Sie, dass das, das sie wahrnimmt, immer dasselbe ist. Spüren Sie in sich die Leere, die jedes Ereignis ermöglicht, ohne davon bestimmt zu werden. Leere ist frei von dem, was sie füllt.