Zwei Konzepte
Im Zeitalter von Informationstechnologie und globaler Vernetzung erweitert sich der Blick vieler über die Horizonte von früher hinaus. Da viele heute von vielem mehr wissen als früher, macht es Sinn, sie an Entscheidungen teilhaben zu lassen, die über alte Horizonte hinausreichen.
Das Wohlbefinden des Einzelnen wird wesentlich von sozialen Bedingungen mitbestimmt. Soziale Bedingungen sind mit politischen Strukturen verzahnt. Beide Faktoren beeinflussen das Selbstbild und die Einstellung gegenüber dem Umfeld. Sie entscheiden darüber mit, inwieweit man sich und andere bejaht.
Ebenbürtigkeit
Die uneingeschränkte Wertschätzung des Individuums ist der entscheidende Ausdruck seelischer Gesundheit. Das gilt für die Wertschätzung der eigenen Person ebenso wie für die eines jeden anderen. Wertschätzung ist nicht selbstverständlich, uneingeschränkte Wertschätzung eher Ausnahme als Regel. Die Fähigkeit, wertschätzend mit sich und anderen umzugehen, wird wesentlich von Erfahrungen gebahnt, die man selbst im sozialen Umfeld macht. Ein grundlegender Faktor ist die Anerkennung der Ebenbürtigkeit.
Wird die Ebenbürtigkeit des Einzelnen vom sozialen Umfeld nicht anerkannt, heißt das nicht, dass ihm uneingeschränkte Wertschätzung unmöglich ist. Der Weg dorthin ist jedoch erschwert.
Hierarchische Gesellschaftsstrukturen widersprechen im Grundsatz dem Prinzip der Ebenbürtigkeit. Sie fördern deshalb psychologische Entwicklungen, die die Aufrechterhaltung pathogener Verhaltensmuster begünstigen. Nur dort, wo Hierarchien auf sachlicher Notwendigkeit und fachlicher Kompetenz beruhen, sind sie angebracht. Die Hierarchien gesellschaftlicher Strukturen sollten daher flach gehalten werden.
Jedes politische System, das den Wert der Individualität missachtet, indem es die Ebenbürtigkeit aller einer festgesetzten Rangordnung unterstellt, fördert seelische Erkrankungen. Entscheidend dafür, ob eine politische Ordnung die seelische Gesundheit fördert oder schädigt, ist ihr Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Bejaht die Ordnung das Recht, ist sie förderlich. Ignoriert sie es, schadet sie.
Grundregel
Je mehr ein politisches System über den Kopf des Einzelnen hinweg entscheidet, desto mehr ignoriert es dessen Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Er greift in psychologische Gesetze ein, deren Beachtung für die seelische Gesundheit notwendig ist.Ein großer Teil des menschlichen Lebens und seiner Selbstbestimmung findet in sozialen Gemeinschaften statt. Den übergeordneten Rahmen aller übrigen sozialen Strukturen bildet der Staat. Deshalb gehört das Mitbestimmungsrecht bei der Regelung staatlicher Belange zum Selbstbestimmungsrecht des Individuums.
Politische Entmündigung und Selbstwert
Wer in einem Umfeld lebt, das ihm kein wesentliches Mitspracherecht bei der Regelung gemeinsamer Belange einräumt, unterliegt dem Risiko, die abwertende Botschaft zu verinnerlichen. Da seine Ebenbürtigkeit vom Umfeld verneint wird, identifiziert er sich mit einem Selbstbild, das seinen Wert nur unvollständig bejaht.
Wer im Alltag mehrheitlich Menschen begegnet, deren Eigenwert durch die soziale Hierarchie ebenso verneint wird wie der eigene, riskiert Individuen generell nicht als vollwertig zu betrachten. In der Regel wird eine solche Minderbewertung als normal angesehen und nicht bewusst erlebt. Sie äußert sich in wechselseitig respektlosem Umgang und egozentrischem Verhalten.
Wer die Gesellschaft aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus betrachtet, setzt pathogene Abwehrmechanismen ein:
Oft macht er beides gleichzeitig; indem er die einen verklärt und die anderen abwertet. Ist die Verklärung an die Illusion geknüpft, den Mächtigen gehe es tatsächlich um sein Wohl, werden kindliche Erwartungen auf politische Strukturen übertragen. Sobald die Illusion zerfällt, kippt die Verklärung in Abwertung und Aggressionen um. Strukturelle Hierarchien leisten spaltenden Weltbildern Vorschub. Sie stabilisieren kindliche Denkmuster und machen die Gesellschaft anfälliger für radikale Umbrüche. Im Gegensatz zu Entwicklungen richten Umbrüche oft schweren Schaden an.
Wer sein Selbst für ungenügend hält, überschätzt den Wert sozialer Ränge. Im Großen mögen das exponierte Positionen sein. Im Kleinen werden Ränge nicht selten durch Hubraum, PS oder Firmenlogos bestimmt.
Die Eroberung eines Rangs, der den Selbstwertzweifel zu heilen verspricht, wird zu einem überwertigen Ziel.
Ich bin nicht irgendwer von denen, die niemand wirklich nach der Meinung fragt, sondern diese spezielle Person, die durch dieses oder jenes Merkmal zu etwas Besonderem geworden ist.
Sobald man bereit ist, sich dem Ziel zu unterstellen, das Selbstwertgefühl durch Rang zu sichern, schürt man Selbstwertzweifel durch den Versuch, sie zu beheben.
Sowohl in der direkten Demokratie als auch in der repräsentativen hat die Stimme des Einzelnen keine große Bedeutung. Es gibt aber einen Unterschied. In der direkten Demokratie geht die Stimme des Einzelnen in der Vielzahl Gleichwertiger auf, in der repräsentativen prallt sie an einem Rangunterschied ab. Der Bundestag hat 631 Sitze. Mitbestimmen darf also einer von 130000. Alle anderen gehören zu einer Mehrheit, die reden kann, aber vier Jahre im Grunde nichts mehr zu sagen hat; es sei denn, sie haben eine Lobby.
Eine Lobby ist eine Instanz, die an der Mehrheit vorbei auf die bestimmende Minderheit Einfluss nimmt, und damit zur eigentlich bestimmenden Minderheit wird. Bestimmen im Grunde aber Minderheiten, ist das Prinzip der demokratischen Ordnung infrage gestellt.
Regelungsbedarf und Komplexität
Politik geht auf Griechisch polis [πολις] = Stadt zurück. Obwohl es politisches Handeln bereits im Dorf, im Kraal und sogar auf dem Affenfelsen gab, scheint die Verknüpfung der Politik mit der städtischen Struktur darauf hinzuweisen, dass der Regelungsbedarf öffentlicher Angelegenheiten umso bewusster wird, je komplexer soziale Strukturen werden. Während sich primäre Beziehungen zwischen einzelnen Menschen auch spontan gestalten, bedarf das Beziehungsgefüge größerer Einheiten der bewussten Reflexion, des Dialogs und der Entscheidung.
Regelungsbedarf ist dabei wohlgemerkt nicht mit Reglementierung gleichzusetzen. Die Reglementierung ist ein hierarchisches Herrschaftsprinzip, das den Dialog zwischen Regierung und Regierten übergeht und die Regierten von den Entscheidungen ausschließt. Reglementierung wird durch strukturelle Gewalt erzwungen. Regelungen werden umso eher gewaltfrei anerkannt, je mehr Personen mitentscheiden konnten.
Die Geschichte hat eine Vielzahl politischer Systeme hervorgebracht. Dabei sind zwei gegensätzliche Prinzipien auszumachen. Die überwiegende Zahl der Systeme sind als Mischformen zu erkennen, die dem einen oder dem anderen Prinzip jeweils näherstehen. Die gegensätzlichen Herrschaftsprinzipien unterscheiden sich darin, wie viele Personen befugt sind, politische Entscheidungen zu treffen.
Herrschaftsprinzipien
hierarchisch / autoritär | demokratisch / gleichberechtigt |
Einer entscheidet | Alle entscheiden |
Absolute Monarchie Führerdiktatur |
Direkte Demokratie |
Alle politischen Systeme können zwischen den genannten Polen eingeordnet werden. Die Entscheidungsbefugnis im Sinne des "letzten Wortes", liegt in autoritär-hierarchischen Systemen entweder in der Hand einer Person oder in der einer Gruppe, die sich zwecks Machterhalt gegen den Rest der Gemeinschaft verbündet.
Die repräsentative Demokratie, die vereinfachend als Demokratie bezeichnet wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als Zwischenform. Sie ist keineswegs so autoritär wie ein diktatorisches System. Trotzdem hat auch in einer repräsentativen Demokratie nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung das Recht, bei politischen Fragen tatsächlich mitzuentscheiden.
Dass der Mehrheit zugestanden wird, zu entscheiden, wer an ihrer Stelle entscheidet, kann nur mit Abstrich als demokratisch im vollgültigen Wortsinn bezeichnet werden. Geht Demokratie nicht über die Wahl von Repräsentanten hinaus, hat man nach der Stimmabgabe nur noch eine Stimme, die wirkungslos verhallt.
Demokratie ist ein politisches Prinzip, das zwischen den Interessen der Mitglieder einer Gemeinschaft so vermittelt, dass die Ebenbürtigkeit der Individuen dabei respektiert wird. Demokratie heißt Volksherrschaft; von griechisch: demos (δημος) = Volk und kratein (κρατειν) = herrschen. Grundprinzip jeder Volksherrschaft ist die rechtliche Gleichheit aller Individuen, aus denen sich das Volk zusammensetzt.
Wohlgemerkt: Der Begriff Volksherrschaft wurde und wird von Kräften missbraucht, die keineswegs meinen, wofür er steht. Gegner der Freiheit aller Art haben ihn benutzt, um ihr Unrecht zu bemänteln. Weder eine selbsternannte Avantgarde noch dröhnende Retter des Vaterlands wollen tatsächlich, dass das Volk etwas zu sagen hat. Dass man das Richtige verbiegen kann, heißt aber nicht, dass es unverbogen nicht richtig wäre.
In einer echten Demokratie ist das Volk der Souverän des Staates. Als Souverän stimmt es über politische Sachfragen ab. Da jeder Bürger das gleiche Stimmrecht hat, wird die Ebenbürtigkeit der Individuen beachtet. Eine Abwertung durch asymmetrische politische Strukturen kommt nicht zustande.
In der Demokratie sind Politiker und Parteien dem Volk unterstellt. Aufgabe demokratischer Politiker ist es, alternative Gesetzentwürfe zu verfassen, die sie dem Volk zur Entscheidung vorlegen.
In der Demokratie beschäftigen sich Politiker nicht nur mit dem, was sie selbst für wichtig halten. Vielmehr gibt es Wahlverfahren, durch die das Volk der Politik Aufträge verbindlich zuweisen kann.
Vielen fiele es leichter, Zumutungen hinzunehmen, wenn die Zumutungen von allen und nicht nur von der Interessensvertretung einer rivalisierenden Gruppe beschlossen würden. Wir muten uns etwas zu, wirkt anderes als Wir muten euch etwas zu.
Demokratische Wahlen und ihre Bedeutung
Worüber abgestimmt wird | Bedeutung |
Gesetzesvorlagen der Politiker | Das Volk entscheidet in Sachfragen, was es für richtig hält. |
Probleme, die zur Klärung zu bearbeiten sind | Das Volk als Souverän seiner selbst ist politisch aktiv. Es wird nicht regiert. Es regiert sich selbst. |
Inhaber politischer Ämter | Über die Besetzung wichtiger politischer Ämter entscheiden nicht die Parteien, sondern das Volk. |
Parteien | Auch in der direkten Demokratie werden Parteien gewählt. Ihr Einfluss ist aber geringer als in der repräsentativen. |
Zweierlei Wahlen der direkten Demokratie
Auch in der direkten Demokratie spielen Parteien eine Rolle. Als Vertreter gesellschaftlicher Flügel betonen sie in den Parlamenten potenziell mehrheitsfähige Positionen. Da in der direkten Demokratie aber nicht wechselnde Parteien herrschen, sondern immer nur das eine Volk, treten parteipolitische Prozesse in den Hintergrund.
Die Besetzung politischer Ämter hängt in der direkten Demokratie nicht von der Mitgliedschaft in Parteien ab. Sie wird durch fachliche Qualifikation und Verdienste bestimmt. Wenn das Volk ihm vertraut, kann ein Minister unabhängig vom Wahlerfolg seiner Partei dauerhaft im Amt bleiben.
In der direkten Demokratie werden wesentliche Entscheidungen gemeinsam getroffen. Da niemand, der dabei mitentscheidet, abwählbar ist, kann jeder gefahrlos zu dem stehen, was er denkt. Wenn wir nicht daran glauben, dass das die Chance zu mehr politischer Redlichkeit birgt, liegt unser Menschenbild grundsätzlich im Argen. Wären statt Personen Gesetze abwählbar, würden sich Personen weniger verbiegen.
Die seelische Gesundheit des Menschen hängt im Wesentlichen davon ab, ob es ihm gelingt, die widersprüchlichen Pole des psychologischen Grundkonflikts miteinander zu versöhnen.
Direkte Demokratie ist das einzige politische System, das weder dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit noch dem nach Selbstbestimmung grundsätzliche Hürden entgegensetzt.
Entmündigung und Selbstbestimmungsrecht
In der repräsentativen Demokratie ist der Wähler auf die Fresspakete weniger Großhändler angewiesen. Dank der Fünf-Prozent-Hürde, bekommt er für seine Stimme im Tante-Emma-Laden nichts. Das fördert das Geschäft der Großhändler, führt aber dazu, dass der Wähler nur die Möglichkeit hat, zu wählen, was seinen Interessen im gleichen Zuge zum Teil widerspricht. Wählt er eine Partei, ist er gezwungen, sich auch für Ziele einzusetzen, die er für falsch hält. So schließt die repräsentative Demokratie Menschen entweder ganz von politischen Entscheidungen aus oder nötigt sie, dem eigenen Urteil zuwiderzuhandeln.
Sich durch Wahlverzicht selbst auszuschließen, verstößt gegen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Gegen den eigenen Verstand zuzustimmen, mutet dem Selbstbestimmungsrecht Kompromisse zu, die nicht guttun.
In der direkten Demokratie kann man ja sagen, wenn man ja meint und nein, wenn man dagegen ist. In der repräsentativen gibt es meist nur jein und naja. Niemand steht vollständig hinter dem, wozu eine Partei sich zusammenrauft.
Unklare Positionen fördern Irrationalität. Indem die repräsentative Demokratie die Wähler dazu zwingt, an der Urne Entscheidungen zu treffen, hinter denen sie nur zähneknirschend stehen, riskiert sie eine Unzufriedenheit, die frustrierte Wähler im schlimmsten Fall in die Hände Radikaler treibt.
Die repräsentative Demokratie, die uns heute regiert, ist ein Etappenziel. Sie ist aber nicht demokratisch genug. Anstatt dass die Wähler durch Abstimmungen Sachfragen entscheiden, wird ihnen bloß zugestanden, zu entscheiden, welche Partei für vier Jahre über sie bestimmen wird. Das Recht des Volkes wird an Lobbyisten abgetreten.
In der repräsentativen Demokratie sind verschiedene Ebenen des Lobbyismus miteinander verzahnt. Nicht nur dass sich die Parteipolitiker mit Lobbyisten verschiedener Interessengruppen absprechen; sie selbst sind Lobbyisten ihrer Wähler. Allerdings vertreten sie deren Interessen nur mit gebrochener Treue, da sie einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf das eigene Fortkommen verwenden. Die Wahrung gemeinschaftlicher Interessen wird durch die persönlichen Interessen ihrer Bewahrer gefährdet.
Der Begriff repräsentative Demokratie verschleiert, was tatsächlich geschieht. Er unterstellt, dass ein Herrscher sich in Sachen Herrschaft vertreten lassen kann. Das ist widersinnig. Niemand herrscht, wenn er die Herrschaft an andere abtritt. Herr im Haus ist, wer bestimmt, nicht wer andere über sich bestimmen lässt.
In der repräsentativen Demokratie gibt der Einzelne bei den Wahlen tatsächlich seine Stimme ab. Mit der Stimmabgabe stimmt er seiner politischen Entmündigung zu. Herrschaft übt das Volk nach der Wahl nicht mehr aus. Vielmehr wird es von oben herab regiert. Die repräsentative Demokratie erfüllt wesentliche Kriterien des Begriffs Demokratie nur zum Teil.
Res publica
Die Republik ist das Feld öffentlicher Angelegenheiten. Indem die repräsentative Demokratie Politiker dazu zwingt, persönliche und öffentliche Interessen miteinander zu verzahnen, behindert sie das republikanische Prinzip. Für Karrieren werden Entscheidungen getroffen, die dem Gemeinwohl nicht selten abträglich sind. Viele Menschen werden dadurch der Idee einer solidarischen Gemeinschaft entfremdet. Eine öffentliche Ordnung, die parteiliche Interessen betont, schwört den Zeitgeist auf egozentrisches Konkurrenzdenken ein. Mehr als er es sowieso schon ist, wird jeder zur Partei der eigenen Person. Nur die direkte Demokratie stellt das öffentliche Interesse in den Vordergrund.
Während direkte Demokratie jeden Einzelnen vollgültig zur Teilnahme an der Gemeinschaft einlädt und damit die Tür zur Zugehörigkeit ebenso offenhält wie die zur Selbstbestimmung, entmündigt die Parteienherrschaft den Wähler in sämtlichen Fragen zur Sache. Damit bedingt sie ein gesellschaftliches Klima latenter Entwertung und chronischer Unzufriedenheit. Viele haben das Gefühl, dass sie von denen da oben nicht ernst genommen werden. Sie müssen zwar nicht zu Kreuze kriechen, sie werden aber als bloße Kreuzchenmacher angesehen.
Nachteile der repräsentativen Demokratie
Die Parteienherrschaft erfindet künstliche Grenzen. Statt die spontane Pluralität der Sichtweisen gewähren zu lassen, fördert sie die Spaltung der Gemeinschaft in rivalisierende Lager.
Je vielschichtiger der Einzelne denkt, desto weniger kann er sich widerspruchslos mit den Zielen einer Partei identifizieren. Wer für eine Partei stimmt, weil er einige Programmpunkte bejaht, muss Ziele befürworten, deren Sinn er verneint.
Wer gegen militärische Einsätze in Afghanistan stimmt, wird unversehens zu einem Gefolgsmann von Karl Marx. Wer bei der Wahl den Einfluss des Islam für bedenklich erklärt, sitzt mit Rassisten in einem Boot. Die repräsentative Demokratie bringt absurde Koalitionen hervor.
Je differenzierter man über politische Fragen denkt, desto mehr reibt man sich an den Strukturen einer repräsentativen Demokratie. Die Strukturen der repräsentativen Demokratie fördern aus ihrer Eigendynamik heraus eine Entdifferenzierung des politischen Denkens.
Die Herrschaft der Parteien verengt die Abwägung komplexer Sachfragen aktiv, indem sie einseitigen Sichtweisen Medienpräsenz verschafft. Parteikonforme Sichtweisen sind die kleinsten gemeinsamen Nenner der jeweiligen Partei. Sie vergröbern den Blick auf Sachverhalte, da differenzierte Betrachtungen die Bildung gemeinsamer Nenner erschwert.
In der repräsentativen Demokratie sind Politiker gezwungen, einen großen Teil ihrer Kraft für innerparteiliche und zwischenparteiliche Machtkämpfe zu verwenden. Das lenkt den Blick von Sachfragen ab.
Beim ständigen Kampf um Positionen sind im Parteiensystem Persönlichkeiten im Vorteil, deren Kompetenz vorwiegend im Bereich taktischer Gruppendynamik liegt. Nur selten haben solche Persönlichkeiten Sachverstand auf den politischen Feldern, die sie im nächsten Schritt verwalten. Die Bereitschaft, in Sachfragen korrumpierbar zu sein, ist eine Mitgift auf dem Weg nach oben. Die Parteienherrschaft fördert Opportunismus.
Da die Meinung der Bürger nur soweit zählt, wie es gilt, der eigenen Partei bei den Wahlen Sitze zu sichern, verliert der Abgeordnete das Interesse an dem, was der Wähler in der Zwischenzeit will. Er richtet seine Entscheidungen an denen aus, denen er tatsächlich begegnet: Repräsentanten partieller Interessen und anderer Staaten.
Die repräsentative Demokratie verwebt die persönlichen Interessen der Volksvertreter mit notwendigen Entscheidungen der Gemeinschaft. Der Begriff Volksvertreter ist bereits irreführend. Tatsächlich gibt es im Parteiensystem keine Volksvertreter, sondern Vertreter rivalisierender Gruppen.
Der Abgeordnete ist formal zwar frei, nach bestem Wissen zu entscheiden, oft aber nur zu dem Preis, dass er dadurch seinen Arbeitsplatz riskiert. Da der Arbeitsplatz des Politikers ständig durch Wahlerfolge seiner Partei gesichert werden muss, werden in der repräsentativen Demokratie große Summen in den Kauf von Wählerstimmen investiert. Statt beim Geldausgeben das Gemeinwohl ungetrübt im Blick zu halten, verführt das System dazu, zum Nachteil der Gemeinschaft Wahlgeschenke zu verteilen.
Bedenklich
Das Volk begegnet Lobbyisten nicht. Stattdessen begegnet es der eigenen Realität. Aus deren Kenntnis heraus kann es besser als ein Abgeordneter entscheiden, was wirklich ansteht.
Innerhalb ihrer Partei stehen Politiker unter hohem Druck. Stets müssen sie ihre Sichtweisen der Parteilinie anpassen. Wer authentisch ist und unverstellt zu dem steht, was er tatsächlich denkt, wird Außenseiter.
Im Kontakt mit dem politischen Gegner findet man das Gegenteil. Hier wird Kompromissunfähigkeit zur Regel. Zu beobachten ist das Phänomen bei Diskussionsrunden im Fernsehen. Echte Kommunikation (lateinisch communicare = gemeinschaftlich tun, mitteilen) findet dort kaum statt. Statt zu versuchen, die Sichtweise des Gegners zu verstehen und einen Mittelweg zu finden, betreibt man Diskussion. Der Begriff entspringt dem lateinischen Verb discutere = zerschlagen, zerlegen. Discutere geht seinerseits auf quatere = schütteln, stoßen, beschädigen zurück.
Bei der Diskussion wird nicht zugehört, sondern auf ein passendes Stichwort gewartet, um die eigene Sichtweise als einzig richtig darzustellen und die des Gegners vom Tisch zu fegen. In der Diskussion wird nichts Gemeinsames getan. Der Diskutant nimmt nichts Neues auf. Andere Sichtweisen werden nicht abgewogen und ausprobiert. Sie werden als irrelevant abgetan. Der Gegner wird zurückgeschlagen.
Zwischen dem innerparteilichen Druck zur Konformität und der mangelnden Kompromissfähigkeit nach außen besteht eine kausale Wechselwirkung. Sie ist politisch und psychologisch begründet.
Der politische Grund liegt im Machtkampf der Lager. Für den Wahlsieg scheint es nützlich, innerparteilich mehr Einigkeit vorzutäuschen, als tatsächlich besteht und im Umgang mit anderen Sichtweisen so zu tun, als sei die eigene über jeden Zweifel erhaben.
Politische Parteilichkeit ist eine Sozialisierung der Egozentrizität. Maßstab des Egos ist Vorteil, nicht Wahrheit. Für Wahrheit interessiert sich das Ego zwar durchaus, aber nicht um der Wahrheit, sondern um des Nutzens willen, den es aus ihrer Kenntnis ziehen könnte. Daher ist das Ego stets bereit, Wahrheiten, die seinem Vorteil nichts nützen, zu ignorieren, zu verleugnen oder zu verfälschen.
Der zur politischen Partei sozialisierte Egoismus einer Gruppe behandelt Wahrheit in gleicher Weise. In der Folge sind Selbstbetrug, Lüge und Vertuschung umso mehr Bestandteile eines politischen Systems, je mehr es Parteien zu den dominierenden Kräften der Gesellschaft macht. Am meisten vertuscht wird im Einparteiensystem. Im Mehrparteiensystem können sich die Gegner immerhin widersprechen.
Strenggenommen hat Deutschland keine demokratisch legitimierte Regierung. Das geltende Grundgesetz ist ein großer Entwurf. Seine Qualität stellt alles in den Schatten, was bis dahin da war.
Das Grundgesetz wurde aber nicht vom Volk, also demokratisch beschlossen, sondern vom Parlamentarischen Rat. Dieser bestand aus Mitgliedern 1949 bereits bestimmender Parteien. Das vom Rat erlassene Grundgesetz schließt Volksentscheide weitgehend aus. Vorgesehen ist ein Volksentscheid eigentlich nur für den Fall einer Neuaufteilung der Bundesländer. Stattdessen legt es jene Machtstrukturen fest, aus denen heraus es entstand. Es ist darauf zugeschnitten, die Strukturen des Parteiensystems festzuschreiben.
Volksentscheide oder Bürgerbegehren sind in den Landesverfassungen vorgesehen. Ihre politische Wirksamkeit ist jedoch entscheidend beschnitten. Zum einen gibt es für die Initiatoren eines Volksentscheids erhebliche organisatorische, bürokratische und finanzielle Hürden. Zum anderen sind Volksentscheide über wirklich wichtige Themen gar nicht zulässig. So darf ein Volksentscheid nicht das Grundgesetz selbst verändern; und damit genau jene Ordnung, die den Parteien das alleinige Beschlussrecht über alle wichtigen Fragen des Staates zuweist.
Wie unbedeutend die Sichtweisen des Volkes für die derzeitige Grundordnung sind, zeigt die Auswirkung der Wahlbeteiligung auf die Besetzung der Parlamente. Ob das Volk wählt oder nicht, hat keine Bedeutung. Für ein gültiges Wahlergebnis reicht es aus, wenn sich die Abgeordneten selber wählen. Auch wenn niemand sonst den Kandidaten das Vertrauen ausspricht, kann das Volk sie nicht daran hindern, alle verfügbaren Sitze in den Parlamenten mit sich selbst zu besetzen.
Das Grundgesetz ist so konzipiert, dass es für zukünftige Generationen nur schwer zu verändern ist. Dadurch liegt die Gegenwart im Korsett vergangener Sichtweisen. Die heute Lebenden werden durch Verstorbene fremdbestimmt.
Demokratische Grundregel
Es gibt eine demokratische Grundregel. Sie drückt das Wesen der Demokratie aus:
Der Zugang zur Neubestimmung aller übrigen Rechtsordnungen ist dem Volk offen zu halten.
Die Befürworter der repräsentativen Demokratie begründen ihren Widerstand gegen die direkte Demokratie mit der Sorge, ein sich selbst bestimmendes Volk wähle Diktatur, Krieg und Barbarei. Sie behaupten, das Volk werde Demagogen folgen, gäbe man ihm das Recht, politische Entscheidungen inhaltlich selbst zu treffen. Nur die repräsentative Demokratie könne uns davor bewahren, dass das Volk in seiner Blindheit das Böse an die Macht versetzt. Repräsentative Demokraten verweisen auf das Dritte Reich und übersehen dabei Entscheidendes:
Die repräsentative Demokratie entzieht dem Volk den größten Teil seines Mitspracherechts. Sie ermutigt es damit nicht zur Verantwortlichkeit. Die Gefahr, dass sich als Folge der Entmündigung des Einzelnen Wut zusammenbraut, die radikale Positionen an die Hebel der Macht versetzt, ist in der repräsentativen Demokratie größer als in der direkten. Wir wissen aus der Geschichte, dass genau das bereits geschehen ist.
Das Dritte Reich ist nicht aus einer direkten Demokratie heraus entstanden, sondern aus einer repräsentativen. Die Ermächtigung erfolgte nicht durch das Volk, sondern durch Parteien. Durch ein System, in dem die Bürger über wichtige Fragen selbst entscheiden, wird die Vorbereitung eines Krieges ebenso erschwert wie die Abschaffung von Freiheitsrechten oder die Planung eines Völkermords; weil beides überhaupt erst nach öffentlicher Diskussion und Volksentscheid betrieben werden könnte.
Demagogie geht auf Griechisch demos (δημος) = Volk und agein (αγειν) = führen zurück. Der Begriff bezeichnet das Bestreben, das Volk davon abzuhalten, politisch für sich selbst zu stehen und sich stattdessen Führern anzuvertrauen. Erfolgreiche Demagogen sitzen heute im Parteivorstand und warnen das Volk vor sich selbst. Haltet den Dieb! ruft der Dieb und zeigt in die Menge der Bestohlenen.
Dabei weiß jeder, der die Geschichte kennt, dass sich kaum ein Land je so wenig politisch verirrt hat, wie die einzige direkte Demokratie, die es seit Jahrhunderten gibt: die Schweiz.
Die Blindheit scheint also eher bei den Verfechtern der repräsentativen Demokratie zu liegen. Das System, in dem Hitlers Aufstieg stattfand, wurde nach seinem Untergang im Grundsatz wiedereingesetzt. Dabei wurde die Chance verpasst, einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und die Entscheidung über sein politisches Schicksal vollgültig in die Hände des Volkes zu legen.
Ein gesellschaftliches Klima, das die seelische Gesundheit der Bürger fördert, ist ohne Garantie der individuellen Grundrechte nicht denkbar. Zu diesen Rechten zählen:
Obwohl diese Rechte per Volksentscheid abgeschafft werden könnten, gibt es nur wenig Grund zur Sorge, dass dies in einer direkten Demokratie wahrscheinlicher als in einer repräsentativen ist. In einer repräsentativen Demokratie braucht das Volk nur rechts- oder linksradikal zu wählen. Schon sind die Grundrechte in Gefahr.
Wohlgemerkt
Radikale Sichtweisen sind Frühindikatoren gesellschaftlicher Spannungen. Es ist klug, sie ernst zu nehmen. Auch wenn sie perspektivisch verzerrt sein mögen und in ihrer Verzerrung gefährlich, macht es Sinn herauszuhören, welches Problem die Radikalität benennt. Nur dumme Menschen meinen, dass der politische Gegner völlig im Unrecht ist. Die klugen nehmen Radikalismen rechtzeitig den Wind aus den Segeln; indem sie anerkennen, was hinter der Verzerrung berechtigtes Anliegen ist.
So grundlegend Bürger- und Menschenrechte auch sind, sie sind nicht zwingend demokratisch. Auch eine Diktatur könnte diese Rechte gewähren, wenn sie auf dem staatlichen Gewaltmonopol beharrt und es keine juristischen Mittel gibt, den Diktator friedlich zu stürzen. Wie man weiß, ist der Respekt vor den Menschenrechten aber umso größer, je demokratischer es zugeht.
Neben dem politischen System spielen wirtschaftliche Faktoren eine große Rolle bei der Frage, wie der Einzelne seine Position in der Gesellschaft erlebt. Da die gesellschaftliche Position bei den meisten Menschen nachhaltigen Einfluss auf das psychische Befinden hat, ist Wirtschaftspolitik ein Thema, dass auch die Psychiatrie angeht. Immer mehr Patienten leiden unter psychischen Störungen, die als Folgen einer Entwicklung zu erkennen sind, die Menschen wirtschaftlichen Kräften aussetzt, denen sie nichts entgegenzusetzen haben. Viele bleiben schiere Opfer dieser Kräfte. Sie finden keine kreative Antwort. Dabei sind zwei polare Muster zu erkennen, die sich wechselseitig verstärken:
Drei Faktoren sind für diese Entwicklung ausschlaggebend:
Die globalisierte Wirtschaft nutzt Lohn- und Preisgefälle konsequent. Komplette Branchen werden dorthin verlagert, wo minimaler Lohn zu zahlen ist. Verkauft werden die Waren, wo der höchste Preis bezahlt werden kann. Die Gewinner der Globalisierung machen gute Geschäfte. Wer nicht mithalten kann, geht pleite.
Prekariat ist ein moderner Begriff. Er geht auf das lateinische precari = bitten, betteln zurück. Er benennt eine gesellschaftliche Schicht, deren soziale Position als prekär, also als misslich, heikel und schwierig angesehen wird. Das Prekariat ist jener Teil der Gesellschaft, deren ökonomische Absicherung dauerhaft infrage steht.
Die Soziologie (Robert Castel 1995) ordnet dieser Schicht nicht nur reine Empfänger von Sozialleistungen zu, sondern auch Menschen, die ihr Mindesteinkommen nur gerade mal so, unter laufender Ausnutzung kurzzeitiger Gelegenheiten, aus eigener Kraft erwirtschaften. Viele prekär Beschäftigte schwanken zwischen Job und Stütze hin- und her. Oder sie sind trotz Job auf zusätzliche Unterstützung angewiesen.
Zum Prekariat gehören vor allem Menschen, die aus sozialen, intellektuellen, psychologischen oder gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind, beim Wettlauf um bürgerliche Existenzen mitzuhalten. Eine wesentliche Ursache für das stete Anwachsen des Prekariats ist der Export geeigneter Arbeitsplätze in Billiglohnländer.
Am anderen Pol der Gesellschaft stehen die komplex Leistungsfähigen. Sie erwirtschaften den überwiegenden Teil des Sozialprodukts. Während das vor dem Siegeszug der Wirtschaftsglobalisierung zu bewerkstelligen war, ohne dass die Work-Life-Balance aus den Fugen geriet, wird das Dabeisein seitdem energetisch immer kostspieliger.
Der Begriff Work-Life-Balance ist vielsagend. Eigentlich gehört Arbeit zum Leben dazu. Der Begriff formuliert beides jedoch als Gegensatz. Er tut das, weil Arbeit immer mehr zu einer Zumutung wird, vor der man den Rest des Lebens schützen muss.
Ein weiterer Anglizismus verdeutlicht das Problem: Human Resources. Ressourcen (lateinisch resurgere = hervorquellen) sind Grundstoffe, die beim Wirtschaftsprozess zu höherwertigen Gütern verarbeitet werden. Der Gebrauch des Begriffs belegt, dass der Mensch im Zeitalter der Just-in-time-Produktion als Grundstoff betrachtet wird, der durch den Prozess ebenso aufzubrauchen ist wie Öl, Holz- oder Siliziumvorkommen.
Während das Prekariat Ausgrenzung erlebt, weil es für die Wirtschaft nicht mehr verwendbar ist, erlebt die Schicht der Leistungsfähigen eine zunehmend bedrückende Vereinnahmung durch die Maximierungsdynamik der Wirtschaft. Sie werden für zwei Zwecke missbraucht:
Der Prozess der Globalisierung ist unumkehrbar. Er bietet große Chancen für die Menschheit. Den Chancen stehen jedoch Gefahren gegenüber. Die Globalisierung führt zu Machtstrukturen und technologischen Möglichkeiten, die die Bedeutung des Einzelnen noch weiter in den Hintergrund zu drängen drohen, als sie es von jeher schon war. Direkte Demokratie ist eine Möglichkeit, einseitige Entwicklungen auszugleichen.