Dynamik der Offenbarungsbehauptung


  1. Begriffe
  2. Psychodynamische Aspekte
  3. Soziodynamische Folgen
  4. Alternative
Die Offenbarungstheologie ist einer der folgenreichsten Faktoren, die das sozio-kulturelle Klima Europas bis heute bestimmen. Da alle Irrtümer und Verleugnungen der seelischen Gesundheit schaden, ist eine kritische Betrachtung solcher Theologien sinnvoll.

Die Offenbarungsbehauptung ist der theologische Ausgangspunkt einer jeden Glaubensgemeinschaft, die für sich in Anspruch nimmt, von Gott persönlich gestiftet zu sein. Sie besagt, die bestimmende Kraft des Universums beauftrage einzelne Personen, andere, in der Regel einzelne Völker oder die ganze Menschheit, in ihrem Sinne politisch zu führen.

Entweder festigt die Behauptung eine bereits bestehende interpersonelle Asymmetrie oder sie erzeugt eine neue. Sie begründet eine vorgebliche Auftragsreligion mit dem Vorsatz, Gesellschaftsstrukturen hierarchisch festzulegen. Da sich Auftragsreligionen wesentlich mit Gesellschaftsstrukturen befassen, sind sie politische Werkzeuge, die den religiösen Impuls für profane Zwecke benutzen.

1. Begriffe

Etwas zu offenbaren heißt, etwas bislang Verdecktes zu enthüllen und es dem Betrachter zu zeigen.

Das Verb offenbaren besteht aus zwei Teilen: offen und -bar.

Das Adjektiv offen gehört zur Wortgruppe von auf. Es ist mit oben und obere verwandt. Über die gemeinsamen indoeuropäischen Wurzeln up[o]- und uper[i]- besteht eine Verbindung zu über.

Die Nachsilbe -bar gehrt auf althochdeutsch beran = tragen, bringen zurück.

Etwas zu offenbaren heißt, einem Empfänger etwas von oben herab zu überbringen. Dabei kann es sich um Erkenntnisse handeln oder um Anweisungen, wie im Sinne der darlegenden Instanz weiter zu verfahren ist. Werden bloße Erkenntnisse offenbart, bleibt es dem Empfänger überlassen, sie zu deuten und im Weiteren so zu berücksichtigen, wie er es für richtig hält. Werden Aufträge erteilt, wird der Empfänger dem Willen des Senders untergeordnet. Wissen zu überbringen, befreit den Empfänger. Anweisungen zu überbringen, engt ihn ein.

Gefälle
Jeder ist in der Lage, etwas zu offenbaren.

Hier stehen Sender und Empfänger der Offenbarung im Grundsatz auf derselben Ebene. Sie sind einander ebenbürtig und befugt, ein gleichberechtigtes Verhältnis anzustreben. Zwar sind Leonie und Fabian durch ihr bis dahin verborgenes Wissen Daniel und Leni überlegen, die Asymmetrie wird durch die Offenlegung des Wissens aber ausgeglichen.

Anders sieht es aus, wenn der Absender der Offenbarung auf einer transzendenten Ebene verortet wird, die das irdische Dasein kategorisch überragt und es angeblich seinem Willen unterwerfen will. Sender und Empfänger bleiben dann in einem hierarchischen Verhältnis. Eine Gleichberechtigung ist nicht vorgesehen. Der Empfänger ist gehorsamspflichtig.

Die Behauptung, eine transzendente Allmacht wolle das Diesseits ihrem Willen unterwerfen, tue es aber nicht selbst, obwohl sie es dank Allmacht problemlos könnte, sondern ordne irdischen "Vertretern" Machtpositionen zu, damit von dort aus gewaltsam dafür gesorgt wird, dass ihr Wille geschehe, verhilft irdischen "Vertretern" zu Macht und Rang. Einen Beleg für die transzendente Herkunft des "göttlichen Willens" gibt es nicht.

Interpretationen

In der Meditation - und nicht nur dort - können sich vertiefte Einsichten öffnen, die als Offenbarung empfunden werden. Dann hängt es vom Weltbild des Betrachters ab, ob er diesen Einsichten einen transzendenten Absender zuordnet oder ob er sie als Erweiterungen jenes Geistes auffasst, der ihn selbst ausmacht.

Die erste Variante ist dualistisch, weil sie Absender und Empfänger der Erkenntnis als separate Einheiten vorstellt. Bei der zweiten Variante bleibt offen, ob Geist überhaupt als separate Einheit existiert, die irgendwo an eine Grenze stößt, hinter der sich ein zweiter Geist befindet, der mit dem ersten nicht identisch ist.

2. Psychodynamische Aspekte

Von je her ist der Einzelne widrigen Kräften ausgesetzt, durch deren Wirken schwerer Schaden droht. Das Problem beginnt mit der Geburt und durchzieht das ganze Leben. Das Kind reagiert darauf mit zweierlei:

  1. Es hält nach Beschützern Ausschau.
  2. Es versucht, in den Augen der Beschützer als schützenswert zu gelten.

Um diese Ziele zu erreichen...

Gelingt es ihm, das Wohlwollen der Beschützer zu erlangen, senkt das seine Lebensangst und steigert zugleich sein Selbstwertgefühl. Wer von oben als wertvoll, und damit als etwas Besonderes, bestätigt wird, wird von unten nach oben angehoben. Es ist klar, dass Kinder nach potenziellen Beschützern nicht lange suchen müssen. Auch wenn sie die Rolle oft schlecht erfüllen und manchmal gar nicht, fällt sie den Eltern des Kindes zu. Tatsächlich ist es sogar so, dass Säuglinge von ihren elterlichen Beschützern umhergetragen und damit den Widrigkeiten des Daseins herausgehoben werden.

Wird das Kind erwachsen und aus der Obhut der Eltern entlassen, sind widrige Kräfte nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Oft kommt es noch schlimmer. Was liegt also näher, als nach weiteren Beschützern zu suchen? Das können mächtige Menschen sein oder die personifizierte Allmacht des Guten im Himmel.

Was moralisch gut ist, erkennt man intuitiv, sobald man sich die Frage ernsthaft stellt.

An das Gute im Himmel zu glauben, das seine schützende Hand über jeden hält, der gute Taten vollbringt, macht Sinn und steht jedem offen, ohne dass er zugleich glauben müsste, er bedürfe eines Propheten, der ihm mitteilt, welche Taten im Konkreten zu erbringen sind.

Der Hunger nach Anerkennung mancher Menschen geht jedoch so weit, dass sie nicht nur glauben, eines Propheten zu bedürfen, sondern selbst einer zu sein. Gelingt es Ihnen, Gläubige zu finden, glauben die, dank ihres Glaubens werde ein Funke der prophetischen Besonderheit auf sie ausgestreut. So entwickelt sich im Gefolge der Propheten eine Gemeinschaft, die ihre Lebensangst über den bloßen Glauben an das Gute hinaus durch eine narzisstische Selbsterhöhung zu beseitigen versucht.

Aufmerksamkeit zu bekommen - noch dazu durch eine Allmacht - ist ein mächtiges Mittel, um das Selbstwertgefühl zu erhöhen; denn, wer Aufmerksamkeit bekommt, ist bemerkenswert.

Gott

Analog zur Null in der Mathematik ist der Begriff Gott in der Ontologie ein Platzhalter, der genutzt wird, um Bilder der Wirklichkeit zu entwerfen, die ohne ihn nicht möglich wären. Dabei besteht das Risiko, dass der Nutzer des Begriffs glaubt, er wisse, wofür der Platzhalter jenseits der Denkfigur tatsächlich steht. Sobald das passiert, wird Ontologie zur Mythologie.

Primär wird der Begriff Gott von konfessionellen Religionen verwendet. Konfessionen sind mythologische Welterklärungsmodelle. Sie geben vor, etwas über Gott zu wissen; zum Beispiel:

Was in konfessionellen Religionen Gott genannt wird, kann in der Ontologie als bestimmende Kraft des Universums bezeichnet werden. Tatsächlich wissen wir nichts über die bestimmende Kraft des Universums; weil, wer etwas weiß, über dem steht, worüber er etwas weiß. Das Verhältnis zwischen der bestimmenden Kraft des Universums und einem Inhalt des Universums kann nichts enthalten, was sich der Inhalt als eigenes Wissen vorstellt.

Glaube ersetzt Nicht-Wissen durch vermeintliche Kenntnis, die er durch die Offenbarungsbehauptung als absolut sicher etikettiert. Nicht-Wissen macht Angst. Die Verleugnung des Nicht-Wissens durch den Glauben, verlässliches Wissen sei offenbart, vermindert die Lebensangst des Egos.

Die psychologische Funktion der Theologien tritt bei Offenbarungsmythologien deutlich zutage. Einerseits bewirkt der Glaube, die bestimmende Kraft des Universums wende sich auserwählten Personen und deren Gefolgschaft persönlich zu, eine narzisstische Stärkung der entsprechenden Egos. Zur Logik dieser kosmischen Bedeutungsbeimessung gehört andererseits eine kompensatorische Demutshaltung, die den Gläubigen aller Offenbarungsmythologien gemeinsam ist. Die allfälligen Demutsgesten gegenüber der idealisierten Allmacht entsprechen der Selbsterhöhung, die sich als Auserwähltheitsphantasie zum Ausdruck bringt.

Da sich Offenbarungstheologien nicht an überprüfbarer Wahrheit zu orientieren versuchen, sondern Ausdruck unerkannter, verdrängter oder gar verleugneter Ansprüche sind, die ihre Egozentrik dogmatisch maskieren, bleibt die Demut, die die programmatische Selbsterhöhung verdeckt, in egozentrischen Ansprüchen gefangen. Wer sich vor Gott niederwirft, weil er glaubt, die bestimmende Kraft des Universums sei daran interessiert, dass er es tut, ordnet sich eine kosmische Bedeutung zu. Indem er sich demonstrativ unterwirft, versucht er den Hochmut vor Gott zu verbergen, den er sich selbst nicht eingestehen will.

3. Soziodynamische Folgen

Wissen ist Macht. Wer etwas weiß, was ein anderer nicht weiß, ist ihm überlegen, weil er allein das Wissen für seine Zwecke verwenden kann. Wird das Wissen auf den anderen übertragen, gleicht sich die Asymmetrie aus. Die Beteiligten kommunizieren auf gleicher Ebene.

Wird jedoch nicht Wissen offengelegt, sondern die Absicht des Überbringers, den Empfänger mit der Ausführung von Anweisungen zu beauftragen, wird die Asymmetrie nicht ausgeglichen, sondern genutzt, um über den Schwächeren Macht auszuüben.

Im Rahmen der Offenbarungsreligionen geben einzelne Personen vor, ihrerseits zwar der Macht Gottes zu unterstehen, andererseits vom selben Gott jedoch in eine auserwählte Position erhöht worden zu sein und damit beauftragt, von dort aus Macht über andere auszuüben. Da im Menschen das Bedürfnis angelegt ist, über sich selbst zu bestimmen, entsteht durch den Machtanspruch ein interpersoneller Konflikt. Er kann auf zweierlei Art gelöst werden:

Das Schamgefühl tut weniger weh, wenn sich jeder zu schämen hat.

Beide Lösungsstrategien fördern Gewalt und Unterdrückung. Wehrt sich der Angegriffene, wird direkt Gewalt ausgeübt. Unterwirft er sich, ist der Konflikt nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Wer das eigene Selbstbestimmungsbedürfnis unterdrückt, lehnt zum Ausgleich seiner Demütigung auch die Freiheit anderer ab. Er neigt selbst dazu, andere zu unterwerfen; oft seinerseits mit Gewalt.

So führt jede Behauptung, von Gott zur Machtausübung beauftragt zu sein, sobald sie von anderen geglaubt wird, zu Spaltungen innerhalb der Gesellschaft. Jeder Prophet setzt durch seinen Anspruch eine Kette gewalttätiger Konflikte in Gang, die sich solange fortsetzt, bis ihm niemand mehr folgt. Das kann Jahrtausende dauern oder niemals zu Ende gehen; besonders dort, wo Anhänger verschiedener Propheten aufeinandertreffen.

Glaube an sich ist keineswegs immer nur Tugend. Beim Totschlag ist der Glaube, ihn im Auftrag Gottes zu begehen, ein wirksames Mittel, um ein schlechtes Gewissen zu entkräften.

Politik und Religion

Machtausübung ist der Versuch, über andere zu bestimmen. Machtansprüche richten sich auf diesseitige Elemente aus; regelmäßig auf andere Personen oder ganze Völker. Machtansprüche sind grundsätzlich politisch. Tatsächliche Religion ist spirituell. Spiritualität befasst sich nicht mit diesseitigen Strukturen, sondern mit der jenseitigen Einheit, also dem, was der polaren Erscheinungswelt jenseits ihrer selbst zugrunde liegt. "Religion", die Macht ausübt, ist keine Religion. Sie ist pseudoreligiös maskierte Politik. Jeder, der sich schwach fühlt, will über andere bestimmen, solange er seine Schwäche nicht als Teil des eigenen Wesens akzeptiert.

Pseudoreligiös maskierte Politik markiert sich mit dem Gottesetikett. Sie behauptet, ihr Anspruch, über andere zu bestimmen, sei ein göttlicher Auftrag. Einen Beweis für ihre Behauptung legt sie niemals vor.

Die Behauptung, von einem "Propheten" verkündet und folglich von Gott legitimiert worden zu sein, gilt üblicherweise als Berechtigung dafür, die jeweilige Wirklichkeitsdeutung des Glaubens und seinen Machtanspruch als Religion zu bezeichnen. Das kann ontologisch nur inkorrekt sein. Lässt man die Berechtigung gelten, muss man in der Folge jeden politischen Anspruch, deren Anhänger sich ohne Beweis auf Gott berufen als religiös anerkennen... und ihm das Privileg der Religionsfreiheit zugestehen.

Bestimmten Glaubensbekenntnisse das Privileg zuzuordnen, sich als religiös zu bezeichnen, anderen aber nicht, ist eine politische Konvention, die genau den Machtstrukturen entspringt, die durch die Machtansprüche der Glaubensbekenntnisse mitbestimmt werden.

Wie legitimiert eine Konfession ihren Machtanspruch? Indem sie sagt: Dass mein Machtanspruch berechtigt ist, wird durch die Tatsache bewiesen, dass ich daran glaube, dass er berechtigt ist. Die Rechtmäßigkeit einer Behauptung wird angeblich durch die Tatsache belegt, dass die Behauptung überhaupt erhoben wird.

4. Alternative

Jeder Mensch kann seinen eigenen Weg gehen. Das Eine hat die Vielfalt nicht geschaffen, damit der Mensch sie zu einer Marschkolonne reduziert. Das gilt für das ganze Leben. In religiösen Dingen gilt es erst recht. Jeder Fluss fließt durch sein eigenes Tal.

Es gehört zur Freiheit des Individuums, sich einer Marschkolonne anzuschließen; oder ihr treu zu bleiben, wenn es von anderen darin eingegliedert wurde. Ein Individuum, das seiner Individualität tatsächlich entsprechen will, tut jedoch gut daran, über jedes Denksystem hinauszugehen, das ihm vorschreiben will, welchen Weg es zu gehen hat.

Der Weg des Einzelnen zum Einen ist ein individuelles Abenteuer. Bloß weil man sich zu einer Mythologie bekennt, die eine Gemeinschaft definiert, kommt man am Ziel nicht an. Zur Wirklichkeit gelangt, wer die Wirklichkeit anerkennt, statt im Schutz eines Glaubens zu bleiben, der sie durch ein Narrativ ersetzt. Da es immer genügend Menschen gibt, die vorgebliche Sicherheit ihrem eigenen Weg vorziehen, brauchen die Mythologien nicht zu fürchten, dass ihnen die Anhänger ausgehen. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft vergibt so viel soziale Sicherheit, dass viele damit zufrieden sind. Religiöse Sicherheit vergibt sie nicht.