Das Ich


  1. Ich und Nicht-Ich
  2. Unterscheidungen
  3. Egozentrisches Selbstbild
  4. Befreiung
Das Selbst sieht die Person. Die Person sieht die Welt. Weil ihr die Welt gefährlich werden kann, hält die Person sie im Auge und verliert sich dabei selbst aus dem Blick.

Das Ego ist Dienst an sich selbst. Wer das Selbst in dem sieht, was über sich hinausgeht, wird aus dem Dienst entlassen.

Aufgabe des Egos ist es, partikuläre Interessen zu vertreten, die den Bestand der Person sichern.

1. Ich und Nicht-Ich

Das persönliche Ich entsteht aus dem Nicht-Ich. Jedes persönliche Ich ist Ausdrucksart und Erscheinungsform eines bereits vor ihm bestehenden Nicht-Ichs. Ein persönliches Ich, das unabhängig vom Nicht-Ich existiert, ist nicht bekannt.

Selbstbezug
Das Ich ist eine untergeordnete Struktur, die sich im eigenen Interesse auf sich selbst bezieht. Das Ich fragt:

Die ersten fünf Fragen sind egozentrisch. Sie dienen dem Ego. Die letzten drei Fragen sind spirituell. Sie suchen nach einer Möglichkeit, über den Dienst am Ego hinauszugehen. Antworten darauf könnten sein:

Oben hieß es: Das Ich entsteht. Was bedeutet entstehen? Der Begriff entstehen besteht aus zwei Teilen: der Vorsilbe ent- und dem Verb stehen. Die Vorsilbe ent- benennt einen Gegensatz und somit eine Trennung. Sie ist aus der germanischen Wurzel and[a]- = entgegen, von etwas weg abgeleitet. Den Sinn der Silbe erkennen wir in vielen Begriffen:

Sobald das Ich aus dem Nicht-Ich entsteht, steht es ihm als Pol gegenüber. Daraus entsteht im nächsten Schritt alles Leid, das das Ich als etwas Existierendes, also als etwas ins Nicht-Ich Hinausragendes, zu erdulden hat; denn Pole koexistieren nicht nur, sondern wirken einander entgegen. Bei Ich und Nicht-Ich ist das der Fall. Das Nicht-Ich wirkt dem Ich zumindest als Hindernis entgegen, wenn nicht gar als ein Prinzip, das darauf hinwirkt, die Abspaltung des Ich wieder aufzuheben und somit das Ich auszulöschen. Das Ich wirkt dem Nicht-Ich entgegen, indem es versucht, den spontanen Ablauf des Nicht-Ich zu seinen Gunsten zu verändern.

Existenz und Insistenz
Man spricht von der Existenz des Individuums. Der Begriff Existenz besagt, dass das Existierende ins Feld dessen hinausragt, was es selbst nicht ist (griechisch existemi [εξιστημι] = herausstehen). Dabei wird schnell übersehen, dass das Existierende zwar als unterscheidbares Etwas ins Feld hinausragt, nicht aber als etwas Abtrennbares. Seine Existenz ist mit der Insistenz dessen verwoben, was es selbst nicht ist und was doch konstitutionell in es hineinragt. Es kann nicht aus dem Umfeld herausgelöst werden, weil die Grenze zwischen ihm und dem Umfeld nicht nur Grenze, sondern zugleich Brücke ist. Das Individuum geht ins Feld über und das Feld ins Individuum. Man existiert nicht nur. Es insistiert zugleich. Das macht einen Teil des Leides aus.

Insistieren heißt bestehen auf, auf etwas beharren. Das Nicht-Ich, das ins Ich hineinragt, besteht auf dem Einfluss, den es durch seine Präsenz im Ich ausübt. Oder: Es besteht aus dem Einfluss...

Dass das persönliche Ich dem Nicht-Ich gegenübersteht und von diesem infrage gestellt wird, hat weitreichende Folgen für seine Struktur, sein Wesen und die grundsätzlichen Tendenzen aus denen heraus es sein Dasein gestaltet.

Es gibt kein Ich, das sich selbst gehört. Es gibt ein Selbst, das sich in jedem Ich zum Ausdruck bringt. Wer Ich und absolutes Selbst nicht unterscheidet, verwechselt Raum und Inhalt.

Das Absolute ist frei von Eigenschaften, weil Eigenschaften es begrenzen würden. Aber es hat das Potenzial, Eigenschaften zu entwerfen, die als Objekte so lange in Erscheinung treten, wie das Absolute sie als existent entscheidet.

Das persönliche Ich ist stets Teil eines Ganzen, dem es untergeordnet und weitgehend ausgeliefert ist. Identifiziert sich das Ich mit der Person, wird es sich zumindest unterschwellig immer unbehaglich fühlen. Es kann sich seiner selbst nie sicher sein, weil es als relatives Selbst nicht autonom über sich bestimmen kann. Aus diesem Gefühl der Unzufriedenheit heraus versucht es, sich eines wachsenden Teils des Nicht-Ichs zu bemächtigen. Seine Grundtendenz heißt: Ich will mehr sein. Dazu muss ich mehr haben.

Zu dem Mehr, das es haben will, können gehören:

Haben und sein
Haben ist ein asymmetrisches Bezugsverhältnis zwischen Objekten. Wer etwas hat, bestimmt über das Gehabte. Er vereinnahmt das Gehabte für sich selbst. Wer seinen Vorteil im Haben sieht, definiert sich als abgetrenntes Objekt, das sich durch Einverleibung anderer Objekte vergrößert. Das Ziel der Selbstvergrößerung ist es, das Ich vom Nicht-Ich zu befreien. Da das Muster des Habens voraussetzt, als besitzendes Objekt vom besessenen Objekt getrennt zu sein, führt Besitz nie dazu, sich der Macht des Nicht-Ich zu entziehen.

Sein ist bereits gegeben. Es muss nicht erst als Objekt vereinnahmt werden. Das Sein ist dem Seienden als es selbst anvertraut. Versteht sich das Ich als Subjekt, versucht es nicht, sich selbst zu vergrößern, indem es sich anderes einverleibt. In dem, was es erkennt, erkennt es das Selbst, das ihm selbst zugrunde liegt. Da ihm alles zugrunde liegt, genügt es sich selbst.

Wer hat, bleibt gefangen.
Wer erkennt, ist befreit.

2. Unterscheidungen

Nicht nur das Ich kann vom Nicht-Ich unterschieden werden, sondern auch verschiedene Ausdrucksarten bzw. Erscheinungsformen des Ich. Zu unterscheiden sind...

Individuelles und persönliches Ich bilden zusammen das relative Selbst.

2.1. Das individuelle Ich

Das individuelle Ich entsteht mit dem Leben. Anders ausgedrückt: Leben ist Individualität. Eine Spezies besteht aus einander ähnelnden Individuen. Die Biologie ist die Wissenschaft der Individualität im Allgemeinen und individueller Unterschiede im Besonderen.

Neurotisches Leid entsteht durch die Verengung des Selbstbilds auf das individuelle Ich. Das Ich ist die Illusion, sich selbst zu gehören. Es ist die Illusion, sein eigener Besitz zu sein. Alles Ich ist Haben. Alles Selbst ist Sein. Alles Sein ist Raum, in dem Erkennbares zutage tritt.

Individuen sind Partikel, also abgesonderte Strukturen, die sich in einem Feld befinden. Zwischen Partikel und Feld besteht eine Grenze, die wie ein Filter wirkt. Filter wählen. Für manches sind sie offen, für anderes nicht.

Nicht jeder Partikel ist ein Individuum. Steine sind Partikel, aber keine Individuen; jedenfalls nicht im hier definierten Sinn. Gewiss: Man könnte sagen, jeder Stein unterscheidet sich von anderen durch seine individuelle Größe, Farbe, Form und Beschaffenheit. Trotzdem lebt der Stein nicht. Individuen im biologischen Sinn tun es. Nur was lebt, ist ein echtes Individuum.

Was den lebenden Partikel vom toten unterscheidet, ist sein individuelles Eigeninteresse. Lebende Partikel sind so strukturiert, dass sie ihren Fortbestand durch zielgerichtete Prozesse fördern. Sie verhalten sich so, als ob sie selbst ein Interesse daran hätten, ihren Bestand zu sichern oder durch Fortpflanzung neue Individuen hervorzurufen, die ihrer eigenen Struktur gleichen. Was lebt, ist so strukturiert, dass es sich selbst erhält und/oder Kopien von sich herstellt. Was lebt, wirkt selbsterhaltend.

Der Selbsterhaltungsimpuls, also das Eigeninteresse des biologischen Individuums, das seinem Fortbestand dient, kann als individuelles Ich aufgefasst werden. Das individuelle Ich ist eine Kraft, die dem Bestand des Individuums selektiv eine größere Bedeutung zuordnet als den Interessen des Umfelds. Das Ich ist die Interessensvertretung eines Partikels im Feld.

Bewusstsein

Was selbsterhaltend wirkt, wirkt zielgerichtet. Was zielgerichtet wirkt, muss von dem, worauf es einwirkt, etwas wissen. Wäre es blind, könnte es keine Ziele verfolgen. Insofern ist davon auszugehen, dass jedem Individuum etwas zugeordnet ist, das als Bewusstheit bezeichnet werden kann.

Damit die Kohlmeise nach der Raupe pickt und nicht nach dem Zweig, auf dem die Raupe sitzt, muss sie in der Lage sein, beides voneinander zu unterscheiden. Es gibt ein Bewusstsein des Unterschiedes, das mit der Meise verknüpft ist. Inwieweit dieses Bewusstsein seinerseits mit einem Bild verbunden ist, das die Meise als Individuum im Feld darstellt, wissen wir nicht.

Bei höheren Tieren, zum Beispiel Menschenaffen, Delfinen oder Elefanten, gibt es starke Indizien, dass es ein solches Selbstbild gibt. Der Affe reagiert nicht nur reflexartig auf Elemente des Umfelds, die in seinem Bewusstsein auftauchen, er ahnt auch, dass es ein Er-Selbst gibt, das es tut. Er kann sein Verhalten dergestalt modulieren, als sei er nicht nur Individuum einer Spezies, sondern rudimentär bereits Person.

2.2. Das persönliche Ich

Das persönliche Ich entsteht, sobald das Bewusstsein ein Bild des Individuums entwirft und es bei Entscheidungen berücksichtigt. Diesem Selbstbild werden Inhalte als Eigenschaften und Bestandteile zugeordnet.

Indem sich das Bewusstsein Inhalte zuschreibt, wird es zur Person. Aus der Vorstellung Dies gehört zu mir, wird im nächsten Schritt ein Dies gehört mir. Tatsächlich sind Inhalte des Bewusstseins aber nur wahrnehmbare Qualitäten und Phänomene, die niemandem gehören.

Das individuelle Ich ist ein koordiniertes Bündel wirksamer Faktoren, die dem Bestand des Individuums dienen. Das persönliche Ich macht aus dem Individuum ein supervidiertes Projekt. Wir wissen, dass die Supervision des Individuums durch sich selbst zu einer enormen Effektivitätssteigerung bei der Durchführung des Selbsterhaltungsprojekts geführt hat.

Anders herum betrachtet

Alles, was ich besitze, ist ein Stück Welt, dessen Besitz ich bin. Die Welt gaukelt mir vor, dass es mich gibt, um mich für ihre Zwecke einzusetzen.

Die Einordnung des Körpers als primärer Besitz der Person ist eine sinnvolle gesellschaftliche Konvention; so wie die Zuordnung eines Grundstücks oder eines Hauses zum persönlichen Besitzstand ihres Eigentümers. Die Zuordnung ist faktisch aber eine bedingte Konvention. Sie hängt von den momentanen gesellschaftlichen Strukturen ab. So galt der Körper des Leibeigenen in der Feudalzeit als Besitz des Lehnsherrn. Und selbst unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen ist der Körper nur solange "im Besitz" der Person, bis eine Mikrobe oder ein Haufen enthemmt wuchernder Zellen ihr klarmacht, dass der Körper von je her bestenfalls eine Leihgabe der Natur war. Der Einzelne darf über seinen Körper verfügen, bis er nicht mehr darüber verfügen darf.

Man kann davon ausgehen, dass das individuelle Ich, also der Drang des Individuums, seine partiell abgesonderte, und damit besondere Existenz aufrecht zu erhalten, sich seiner selbst und seines Tuns nicht bewusst zu sein braucht. Wir vermuten, dass der Gelbrandkäfer nach Beute schnappt, ohne sich dabei als eine Person zu betrachten, die sich einen Namen zuordnet und dann denkt: Super, das Beuteschnappen ist mir heute aber gut gelungen.

Auch unser individuelles Ich ist selbst dann aktiv, wenn wir es nicht zur Kenntnis nehmen. So sorgt es Tag und Nacht dafür, dass unsere Nieren zielgerichtet funktionieren. Im Tiefschlaf besteht sogar die gesamte Ich-Aktivität aus unbewussten Prozessen.

Das persönliche Ich ist eine Erscheinung des individuellen, die das individuelle Ich um die Dimension der Selbstbewusstheit erweitert. Dazu ordnet es Teilaspekten der Wirklichkeit eine spezielle Form der Zugehörigkeit zu. Es definiert: Dies und das gehört (zu) mir. Jenes gehört nicht zu mir.

Das persönliche Ich ist eine Instanz, die der Wirklichkeit dergestalt begegnet, dass sie sich selbst als ein Gegenüber dieser Wirklichkeit auffasst; ein Gegenüber, das sowohl unter der Wirklichkeit leidet als auch absichtlich im eigenen Interesse auf sie Einfluss nehmen kann. Etwas, was sich nicht als Gegenüber definiert und nicht davon ausgeht, persönlich zu leiden und eigene Interessen zu haben, ist kein persönliches Ich. Erst wenn eine Vorstellung bewusst wird, die als eine eigenständige Instanz aufgefasst wird, die Ich bin denkt, entsteht ein persönliches Ich.

Unbewusstes

Die Psychologie spricht von unbewussten Prozessen, oder vom sogenannten Unterbewusstsein. Offensichtlich ist, dass die Urteile und Entscheidungen, die das menschliche Verhalten steuern, nicht immer bewusst vollzogen werden. Offensichtlich gibt es Faktoren, die auf unser Verhalten Einfluss nehmen, ohne dass uns ihr Einfluss bewusst wird. Dabei sind zwei Gruppen zu unterscheiden:

  1. Überpersönliche Faktoren

    Wann wir trinken, hängt primär vom Wassergehalt des Körpers ab. Dieser wird durch hormonelle Regelkreise gesteuert. Im Vorfeld des Trinkens wird uns nicht bewusst, wie viel Vasopressin der Hypothalamus ausschüttet.

  2. Persönliche Faktoren

    Jeder macht im Leben individuelle Erfahrungen, die in sein Weltbild einfließen. Aus diesen Erfahrungen heraus reagiert er auf Ereignisse, mit denen das Leben ihn konfrontiert. Reagieren heißt, Entscheidungen zu treffen. Viele Entscheidungsprozesse laufen dabei unbewusst, quasi reflexartig, ab und führen zu Verhaltensweisen, die das Individuum als so selbstverständlich auffasst, dass es ihren Sinn nicht weiter hinterfragt.

Der Begriff des Unterbewusstseins weist der Vielzahl unbewusster Reaktionsmuster eine eigenständige Instanz zu, die sich nach eigenem Gutdünken ins Dasein des Bewusstseins einmischt; so als habe diese Instanz ein Eigeninteresse, das dem des Bewusstseins eigenwillig entgegentritt und mit ihm konkurriert.

Notwendig erscheint eine solche Instanz zur Erklärung unbewusster Prozesse nicht. Unbewusstes kann durch drei Mechanismen allein vom Bewusstsein her erklärt werden:

2.3. Das transzendente "Ich"

Wir haben gesehen, dass sich das Ich ein Selbst zuschreibt. Es sagt: Das bin ich nicht, aber das bin ich selbst. Dieses Selbst ist ein relatives Selbst, das die Elemente des individuellen und des persönlichen Ich zu einer Einheit zusammenfasst, die sich als separat, also als abgegrenzt vom Umfeld betrachtet.

Genau betrachtet existiert die Grenze aber nur soweit sie zugleich Brücke und Verbindung ist. Daher kann dem Ich, das sich als Repräsentant des relativen Selbst definiert, keine absolute Wirklichkeit zugeschrieben werden. Es ist Konzept. Es ist eine Vorstellung, die sich das Bewusstsein als Bild der Wirklichkeit vor Augen stellt, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Wenn die Wirklichkeit aber nicht dem Bild entspricht, muss sie über das Bild hinausgehen. Folglich ist sie transzendent (lateinisch trans = hinüber und scandere = steigen).

Sprache als Werkzeug und Gefängnis
Sobald ich etwas aussprechen will, bin ich auf die Begriffe der Sprache angewiesen, mit der ich den Entwurf versuche. Begriffe müssen aber definiert sein. Sie müssen abgrenzbare Inhalte benennen. Sonst sind sie keine. Könnte das absolute Selbst begrifflich dargestellt werden, müsste es begrenzt sein. Wäre es das, wäre es aber bloß ein Ding, das keine Transzendenz verwirklicht. Sprache ist ein Werkzeug. Mehr als andernorts ist sie beim Verweis auf das Absolute zugleich Gefängnis.

Ohne sich zu verirren, kann man vom Absoluten nur sprechen, wenn man nicht übersieht, dass nichts von dem, was man sagt, als endgültig gelten kann.

Im Titel ist "Ich" in Anführungszeichen gesetzt: mit gutem Grund. Im üblichen Sprachgebrauch wird das Wort Ich stets als Pol einer dualistischen Einheit betrachtet, die dem Nicht-Ich abgegrenzt gegenübersteht. Genau so kann aber das absolute Selbst nicht sein. Sonst wäre es nicht transzendent, sondern ebenfalls nur ein Partikel im Feld.

Ein Ich ist aber nicht nur etwas, das als Pol einer Dualität fungiert. Es ist zugleich das, was weiß und sich seiner selbst bewusst sein kann. Es ist fähig, sich selbst und die Wirklichkeit zu erkennen. Dem absoluten Selbst eine Fähigkeit abzusprechen, die bereits dem persönlichen Ich zukommt, erscheint wenig plausibel. Man kann daher davon ausgehen, dass auch das absolute Selbst dazu in der Lage ist, sich quasi als ein Ich aufzufassen, also als eine Instanz, die sich selbst erkennt.

Vergisst man dabei nicht, dass ein derart als transzendent aufgefasstes Ich nur dann transzendent ist, wenn es egozentrischen, also spaltenden Impulsen nicht unterliegt, ist der Begriff "transzendentes Ich" als Hilfsmittel des Denkens vertretbar. Ein transzendentes Ich kann eigentlich nur ein entrückter Beobachter sein, der der Wirklichkeit, die er wahrnimmt, keine Absichten aufzwingt. Er nimmt das Wahrnehmbare als das an, was es ist und gesteht ihm damit Wirklichkeit zu. Besser als der Begriff transzendentes Ich scheint der des Absoluten Selbst dazu geeignet, auf das hinzuweisen, was damit gemeint ist.

Ich und Selbst

Absolutes Selbst
Nimmt wahr, was ist. Per­sön­liches Ich / relatives Selbst
Entwirft das Selbstbild. Indi­vidu­elles Ich
Begreift sich als Gegensatz zum Nicht-Ich. Handelt eigennützig.
Wirkt zum eigenen Vorteil.

Das vorliegende Schaubild ist hübsch anzusehen. Zugleich verrät es den Hochmut des Egos, das sich, verführt durch das Maß an Intelligenz, das es bei sich selbst feststellt, für die Krone der Schöpfung hält; und in der Folge das persönliche Ich dem individuellen überordnet. Es glaubt, dem Absoluten Selbst näher zu sein, als das Leben an sich, sodass es aus erhöhter Position darauf herabblicken kann.

Richtig ist, dass das persönliche Ich eine Fortentwicklung des individuellen ist. Es baut auf dem individuellen auf, indem es dessen Bewusstsein durch das Selbstbild bereichert und das Individuum dadurch in eine Person verwandelt, die weit effektiver in die Wirklichkeit eingreifen kann, als ein Individuum, dem es an Selbstbewusstsein fehlt. Trotzdem steht die Person nicht über dem Leben, sondern ist eine ihrer selbst bewusste Sonderform, deren Existenz aus dem individuellen Ich hervorgeht. Richtiger ist daher das folgende Schaubild. Es beschreibt das persönliche Ich nicht als Krone der Schöpfung, sondern als Leihgabe des Lebens, dem es für die Gabe dankbar sein kann.

Ich und Selbst · Alternatives Modell

Absolutes Selbst
Nimmt wahr, was ist. Indi­vidu­elles Ich / relatives Selbst
Handelt eigennützig. Per­sön­liches Ich
Wirkt zum eigenen Vorteil. Begreift sich als Gegensatz zum Nicht-Ich.
Entwirft Selbstbild.

Das Absolute Selbst erkennt entrückt, neutral und unparteiisch. Einen Tropfen seiner Fähigkeit einzugreifen verleiht es ans Ich. Das Ich ist eine Hypothese der Gegensätzlichkeit. Es interpretiert die Welt aus der Polarität einer dualistischen Spaltung. Von dort aus kann es tun, was dem Ganzen dient oder das, was ihm persönlich als nützlich erscheint.

3. Egozentrisches Selbstbild

Das selbstbewusste Individuum begegnet der Wirklichkeit aus seinem Welt- und Selbstbild heraus. Deshalb ist das Selbstbild für sein Verhalten von großer Bedeutung.

In der Regel interpretiert der Einzelne die Wirklichkeit vor dem Hintergrund eines egozentrischen Selbstbilds. Egozentrisch heißt: Er geht davon aus, dass er selbst und sein Ich deckungsgleich sind. Er geht davon aus, dass seine Person zugleich er selbst ist, sodass das Zentrum seiner selbst in seinem persönlichen Ich zu verorten ist. Das egozentrische Ich setzt sich mit seinem relativen Selbst gleich. Es folgt dem Prinzip der Immanenz (lateinisch in = innen und manere = bleiben).

Betrachtet man das Wesen des relativen Selbst aber genauer, stellt man fest, dass es aus vorübergehenden Erscheinungen besteht, die auftauchen, eine Zeitlang erkennbar bleiben und dann wieder verschwinden. Etwas was erscheint, ist jedoch Erscheinung. Es ist kein Sein an sich. Es hängt vielmehr von Bedingungen ab, die sein Erscheinen eine begrenzte Zeit lang bewirken. Das wahre Selbst kann also nicht allein im Erschienenen liegen. Es muss auch sonst wo sein. Mehr noch: Die Essenz seines Wesens muss jenseits der Erscheinung sein.

Die egozentrische Weltsicht hat schwerwiegende Konsequenzen, die das Wohlbefinden des Individuums beeinträchtigen:

Selbstbewertung
Die Selbstbewertung ist ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung psychopathologischer Probleme.

Selbstbewertung ist eine Fähigkeit, aber auch ein Problem des persönlichen Ich. Klar: Erst wenn ein Selbstbild besteht, kann es moduliert werden. Das individuelle Ich, dem ein Selbstbild fehlt, handelt sich selbst entsprechend. Es bleibt in den Kontext eingebettet und bewertet von dort aus Situationen. Bevor es handelt, beurteilt es zwar die Lage, es beurteilt aber nicht sich selbst. Das persönliche Ich tut das; und spaltet sich damit selbst von sich ab.

Die Abspaltung kann der Keim zu einer Ablösung sein, die dazu führt, dass die Person sich aus der Identifikation mit ihrem individuellen Ich löst und so ihr absolutes Selbst entdeckt. Entdeckt sie es nicht, führt die Ablösung zu einer Irrfahrt durch die Schrecken einer unverstandenen Wirklichkeit.

4. Befreiung

Ein Gedanke ist eine Vorstellung. Und auch der Gedanke, dass ein Gedanke eine Vorstellung ist, ist eine Vorstellung. Vorstellungen sind Bilder, die der Betrachter vor sich stellt. Es sind Modelle, die er dazu benutzt, um die Wirklichkeit zu erkennen. Vorstellungen sind Werkzeuge und als solche nützlich. Zugleich verstellt die Vorstellung aber den Blick auf das, was eigentlich erkannt werden soll.

Man hat keine Wahrheit. Man kann sie bloß sein. Was man hat, ist bloß Vermutung.

Verstehen heißt jenseits der Welt zu stehen. Jenseits der Welt zu stehen heißt keine Partei mehr zu sein.

So wie das Auge sich nicht sehen und die Hand sich nicht greifen kann, so kann sich der Betrachter die Wirklichkeit nicht wirklich vorstellen, weil er selbst die Wirklichkeit ist.

Es gibt zwei Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu deuten.

Bei der ersten bleibt der Betrachter in der Vorstellung gefangen, dass seine Erscheinung sein Wesen umfasst. Dieses Weltbild ist das weltliche. Es bleibt in der Immanenz. Mit der zweiten öffnet sich ein Tor, das in die Freiheit führen kann. Dieses Weltbild ist das religiöse. Es strebt nach Transzendenz.

Relatives und absolutes Individuum
Oben wurde der Begriff Individuum zur Bezeichnung eines einzelnen Exemplars einer Spezies verwendet. Der Begriff Individuum benennt das Unaufgespaltene (lateinisch in- = un- und dividere = teilen). Das entspricht der umgangssprachlichen Definition des Begriffs, die die Komponenten des Individuums zu einer Einheit zusammenfasst, die als nicht aufspaltbar gilt. Ein solches Individuum ist relativ, weil es in Beziehung zu anderen Individuen steht, die ihrerseits als Einheiten aufgefasst werden, und weil seine Eigenschaften durch den Charakter jener anderen Individuen, mit denen es in Verbindung steht, mitbestimmt werden. Niemand bestimmt über sich selbst allein. Über jeden bestimmen andere mit.

Ich wollte nie so werden wie der oder die. Das ist ein Vorsatz, der vielen bekannt vorkommt. Tatsächlich ist jeder aber auch so ähnlich, wie alle anderen. Partout nichts mit dem gemein haben zu wollen, den man ablehnt, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es zu versuchen, führt dazu, dass man sich selbst nicht vollständig annehmen kann. Tun Sie sich das nicht an. Denken Sie an einen Menschen, den Sie missbilligen oder gar verachten. Machen Sie sich klar: Ich bin so ähnlich wie er. Er ragt sogar in mich hinein.

Die Unaufgespaltenheit des Individuums ist grundsätzlicher, als es die konventionelle Auffassung des Begriffs beschreibt. Existenziell liegt sie vor seiner Aufspaltung in Komponenten. Das Absolute Individuum ist kein Konstrukt, das aus Komponenten zu einer Einheit zusammengefasst wird und nur besteht, solange die Komponenten in konstituierender Art aufeinander bezogen bleiben. Das Absolute Individuum ist Unaufgespaltenheit an sich. Es bleibt nicht nur bestehen, solange die Bedingungen erfüllt sind, die sein Bestehen verursachen. Es ist die Ursache, die jedem Bestand zugrunde liegt.