Erwartungen sind Dominanzansprüche. Erwarten Sie nichts vom Leben. Es wird Ihre Herrschaft nicht dulden. Erfüllen Sie stattdessen, was das Leben von Ihnen erwartet. Dafür wird es Sie belohnen.
Das Leben hat Sie geschaffen. Damit hat es Sie bejaht und angenommen. Das Leben erwartet, dass auch Sie sich annehmen... und dass Sie das Leben so bejahen, wie sich das Leben Ihnen anvertraut.

Kann man denn nicht erwarten, dass...? Doch man kann alles erwarten, aber man muss nicht alles tun, was man kann.

Wer vollständig zur Welt gekommen ist, hat keine Ansprüche mehr. Wer welche hat, steckt noch im Geburtskanal.

Das Beste, was Sie von einem Anderen erwarten können ist, dass er sich treu bleibt.

Ein Wort macht den Unterschied

So wird es kommen. So soll es kommen!


Erwarten und Bewirken

Erwarten ist das Gegenteil des Bewirkens. Während die Erwartung eine passive Grundhaltung benennt, spricht das Bewirken vom aktiven Pol. Wie nicht anders zu erwarten, bewirkt das Bewirken mehr als das Erwarten.

Erwartung


  1. Begriffsbestimmung
  2. Vermutung und Anspruch
  3. Erwartungen in zwischenmenschlichen Beziehungen
  4. Antizipatorische Grundmuster
  5. Pathologische Entwicklungen
  6. Auswege

1. Begriffsbestimmung

Der Begriff Erwartung besteht aus zwei Teilen: der Vorsilbe er- und dem Verb warten. Führt man sich vor Augen, was beide Teile bedeuten, gewinnt man Einblick ins Wesen einer problemträchtigen psychologischen Haltung: der Erwartung.

Er- signalisiert als Vorsilbe den Beginn eines Geschehens oder das Erfüllen eines Zwecks. Bei Verben, die mit er- beginnen, weist der auslautende Bestandteil auf das Mittel hin, durch das der Zweck erfüllt wird.

Dementsprechend spricht das Wort erwarten davon, das ein Ziel, nämlich die Verwirklichung des Erwarteten durch die Tätigkeit des Wartens erreicht werden soll. Von dem Zeitpunkt an, ab dem man etwas erwartet, braucht man zu dessen Verwirklichung nichts mehr zu tun.

Warten seinerseits geht auf das Hauptwort Warte zurück. Eine Warte ist ein Ausguck, von dem aus man Ausschau hält.

2. Vermutung und Anspruch

Antizipatorisch oder normativ

Von einer psychologischen Abhandlung kann man erwarten, dass sie sich an die Normen der wissenschaftlichen Wortwahl hält. Deshalb seien zwei Fremdwörter eingeführt: antizipatorisch und normativ.

Deutlicher wird das Wesen der Erwartung, wenn man ihre Varianten betrachtet. Hinter der Erwartung kann eine bloße Vermutung stecken oder ein Anspruch.

3. Erwartungen in zwischenmenschlichen Beziehungen

Erwartungen spielen in zwischenmenschlichen Beziehungen eine zentrale Rolle: entweder als Hypothesen, wie der Andere sich wahrscheinlich verhalten wird oder als Ansprüche, wie er sich verhalten sollte. Antizipatorische Erwartungen treffen umso eher zu, je besser man sich kennt.

Normative Erwartungen werden umso problematischer, je enger eine Beziehung wird.

3.1. Konstellationen

Gibt es zwei Varianten eines Phänomens und könnte jede davon eintreffen oder nicht, ergeben sich vier Konstellationen.

Vier Konstellationen

Vari­ante Erwar­tung erfüllt oder nicht Psy­cho­sozi­ale Pro­ble­matik Aus dem Alltag
Ver­mu­tung + - Florian hatte erwartet, dass sich Annika über die Einladung zu seinem Geburtstag freut. Das tat sie auch.
- - Annika hatte gedacht, dass sich Florian über den gelben Pullover zum Geburtstag freut. Als er es nicht tat, tauschte sie ihn gegen blaue Socken um... Wohlgemerkt: den Pullover, nicht den Freund. Hätte Annika gekränkt reagiert, weil Florian der Pullover nicht gefiel, hätte hinter ihrer Erwartung ein Anspruch gestanden: dass Florian ihr durch seine Begeis­terung über das Geschenk bestätigt, wie gut sie seine Wünsche erraten kann. Dann hätte sie womöglich ihn ausgetauscht: gegen Jens.
An­spruch + + Jens erwartet, dass ihm Silke morgens ein gebügel­tes Hemd bereit­legt. Solange sie es tut, ist seine Welt in Ordnung.
- +++ Silke macht wegen Depressionen eine Therapie. Als sie Jens darum bittet, zukünftig selbst seine Hemden aus dem Schrank zu holen, schmollt er drei Tage lang.

Ob eine Erwartung auf einer bloßen Vermutung beruht oder ob ein Anspruch dahintersteckt, zeigt sich, wenn die Erwartung enttäuscht wird.

Irrtümliche Vermutungen machen wenig Probleme, Ansprüche umso mehr. Selbst wenn ein Anspruch konfliktfrei erfüllt wird, hat er unerwünschte Nebenwirkungen. Er fixiert die Beziehungspartner in ein starres System. Wird er nicht erfüllt, kommt es zu innerseelischen oder interaktionellen Konflikten.

3.2. Riskante Erwartungen
Zwietracht
Zwietracht klingt so, als trachteten zwei Leute nach Verschiedenem. Faktisch ist es bei der Zwietracht so, etymologisch nicht. Tatsächlich geht das -tracht in Zwietracht nicht auf trachten, sondern auf tragen zurück. Während eine bestimmte Vorstellung vom Leben bei der Eintracht von beiden getragen wird, ist das bei der Zwietracht nicht der Fall.

Gehört eine normative Erwartung zum Weltbild des einen, ohne dass die Setzung vom anderen mitgetragen wird, entsteht Zwietracht.

Je persönlicher eine Beziehung wird, desto riskanter ist es, den Anderen Erwartungen auszusetzen, hinter denen Ansprüche stehen. Nicht weil der Andere zu schlecht wäre, als dass man von ihm etwas erwarten könnte. Das wird er in der Regel nicht sein. Ansprüchliche Erwartungen führen jedoch zu eigener Passivität; und sie vergiften Beziehungen.

Wer etwas erwartet, ist in einer Warteposition. Statt im eigenen Interesse zu handeln, erwartet er, dass andere etwas für ihn tun: sich nämlich so zu verhalten, wie es zu den unerfüllten Bedürfnissen des Wartenden passt. So macht er sich abhängig. Abhängigkeit führt zum Gefühl der Ohnmacht und, falls das Erwartete ausbleibt, zu Aggression.

Zwei Pole des Erwartens

Erwarten ist nicht gleich erwarten. Das Warten kann aus einer passiv-ergebenen Haltung heraus geschehen. Bleibt das Erwartete aus, führt das zur Resignation. Oder dem Erwarten ist ein Bewirkenwollen beigemischt. Dann ist das Erwarten fordernd. Aus der Forderung entsteht Zwietracht.

Zwei Formen des Bewirkens

Reifes Muster Unreifes Muster
Je reifer man ist, desto mehr versucht man, Bedürfnisse und Wünsche durch eigene Fähigkeiten zu erfüllen. Je unreifer man ist, desto mehr spannt man andere für die Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen ein.
Im reifen Muster strebt man nach Selbständigkeit. Man wirkt aus eigener Kraft unmittelbar auf die Wirklichkeit ein. Im unreifen Muster bleibt man abhängig. Man wirkt selektiv, also einseitig mit gezielter Beeinflussungs­absicht auf den Anderen ein.
Das reife Muster setzt an überpersönlichen Tatsachen an. Das unreife Muster setzt am Gegenüber an, ohne das Gegenüber als solches zu achten.
Das reife Muster setzt frei. Das unreife Muster vereinnahmt.

Zwei Muster der Beziehung

Ich lasse Dich sein, wie Du bist... Ich erwarte von Dir, dass...

Etwas vom Anderen zu erwarten, führt beim Anderen zu einer Zuspitzung des psychologischen Grundkonflikts. Wer etwas erwartet, weist dem Anderen eine bestimmte Rolle zu. Da der Impuls zur Selbstbestimmung angeboren ist, aktiviert er damit Widerstand. Der Andere fühlt sich durch die Erwartung in seiner Freiheit eingeschränkt. Entweder, er verweigert das Erwartete, um seine Autonomie zu bewahren, oder er beugt sich im Interesse der Zugehörigkeit. Beugt er sich, wird er den Verlust an Autonomie an anderer Stelle in Rechnung stellen.

3.3. Kinder und Erwachsene

Kinder sind von der Hilfe ihrer Eltern abhängig. Vieles können sie nicht selbstständig erreichen. Dementsprechend sind viele Erwartungen von Kindern an Erwachsene ein stimmiger Ausdruck ihres Wesens. Werden kindliche Erwartungen zu früh und zu drastisch enttäuscht, weil ihre Eltern von ihrer Rolle überfordert sind oder schlichtweg zu egoistisch, um Elternpflichten zu erfüllen, wird die kindliche Entwicklung gestört.

Statt unter dem Schutz achtsamer Eltern Mut und Selbständigkeit zu entwickeln, verlieren solche Kinder das Vertrauen in den guten Gang der Dinge. Sie werden übervorsichtig. Statt eigene Fähigkeiten auszutesten und durch ein ausgewogenes Wechselspiel von Erfolg und Scheitern persönlich auszureifen, verlassen sie sich lieber auf andere.

Die Psychologie spricht von einer Fixierung. Das Festhalten an der kindlichen Vorstellung, dass es fürsorgliche andere geben sollte, die sich um das Wohl des Fixierten kümmern, führt in einen Kreislauf, der das Problem vertieft.

Riskante Methoden der fordernden Erwartungshaltung

  • demonstratives Leiden
  • Erpressung
  • Verführung
  • eifersüchtig machen
  • Vorwürfe
  • Intrigen
  • Trennungs­drohungen
  • Vergleiche mit früheren Partnern
  • taktischer Liebesentzug
  • verheimlichen wichtiger Informationen

Vorwurf

Hinter jedem Vorwurf steckt eine normative Erwartung. Wird jemandem eine Schuld vorgeworfen, ergibt sich daraus nahtlos die Erwartung, dass er sie begleicht. Jeder Vorwurf ist ein Habenwollen.

Statt sich auf den Erwerb eigener Fähigkeiten zu konzentrieren, und dazu gehört auch die Fähigkeit, es gelassen hinzunehmen, wenn Bedürfnisse vorerst unerfüllt bleiben, spezialisiert sich so mancher auf die Techniken der Manipulation.

Wer solche Techniken gut beherrscht und ein geeignetes Gegenüber findet, das unter Trennungs­ängsten leidet, kann damit recht erfolgreich sein. Auf Dauer werden asymmetrische Beziehungen, bei denen der eine den anderen für seine Bedürfnisse vereinnahmt, jedoch zerrüttet.

3.4. Ansatzpunkte

Erwartungshaltungen entsprechen einer passiven Grund­position. Die fordernde Erwartungshaltung (englisch demanding dependency) wird aber erst durch ihre aktive Komponente wirklich problematisch. Um das Grundprinzip zu verstehen, das diese Art des Bewirkenwollens von der unproblematischen Art unterscheidet, gilt es zwischen den zwei Polen der menschlichen Existenz zu unterscheiden.

Der Mensch ist Subjekt und Objekt zugleich. Zum Wesen des Subjekts gehört eine besondere Dynamik. Zum einen ist es den Dingen ausgeliefert, zum anderen kann es sein Wesen nur erfüllen, wenn es die Erlösung aus dem Ausgeliefertsein betreibt. Daher liegt das Bedürfnis nach Selbstbestimmung im Wesen der Subjektivität verankert.

Je intimer eine zwischenmenschliche Beziehung ist, desto mehr gerät sie zu einer Begegnung zweier Subjektivitäten.

Der Begriff zwei Subjektivitäten ist ein sprachliches Hilfskonstrukt. Tatsächlich gibt es nur ein Subjekt. In einer absolut erwartungsfreien Begegnung wird den Beteiligten die Einheit ihrer Subjektivität gewahr. Die indische Philosophie sagt: Tat tvam asi. Der Andere bist Du.

Da in der intimen Beziehung aber das Subjekt angesprochen ist, wirkt die Zuweisung einer objektiven Funktion durch eine Erwartung zerstörerisch. Je intimer eine Beziehung werden soll, desto mehr muss sie das ursprüngliche Sosein des Anderen beachten.

Definierte Rollen

Begegnen sich Menschen nicht als Subjekte, sondern liegt der Schwerpunkt auf dem objektiven Pol, dann sind Erwartungen weniger problematisch. Der Schwerpunkt liegt auf dem objektiven Pol, wenn man sich im Rahmen definierter Rollen begegnet.

Dass ein Kunde vom Verkäufer Beratung erwartet, wird das Verhältnis kaum trüben, ebenso wenig wenn ein Kellner vom Gast normativ erwartet, dass er die Speisen bezahlt.

Das Erläuterte zeigt zweierlei:

4. Antizipatorische Grundmuster

Menschen neigen zu unterschiedlichen Grundmustern bei der Formulierung antizipato­rischer Erwartungen. Es gibt Optimisten, Pessimisten und Realisten. Die Wahl des Musters kann über das ganze Leben entscheiden.

4.1. Optimismus

Namensgebung

Entgegen optimistischer Annahmen, den Bewohnern der Aleuten werde zugestanden, den klangvollen Namen Aleutinaken zu tragen, gibt sich die deutsche Sprache nicht die Mühe, sie namentlich von ihren Inseln zu unterscheiden. Sie speist uns mit dem Begriff Aleuten ab. Das muss nicht sein. Hätte das Deutsche im Falle der Guatemalteken die gleiche Dummheit begangen, wären wir des schönen Begriffs beraubt und müssten uns mit einem tumben Guatemaler begnügen. Im Falle der Aleuten kommt das schlechte Wetter ihrer Heimat hinzu. Ein Volk, das so tapfer in Nässe, Nebel und Dunkelheit ausharrt, hat einen Namen verdient, der sich vom klammen Boden gischtumtoster Eilande ins Licht erhebt. Daher wird der Petitionsausschuss des Bundestages angerufen: Abgeordnete! Nutzen Sie Ihre Macht zu etwas Sinnvollem. Ändern Sie die Volksbezeichnung der Aleuten in Aleutinaken.

Der Optimist glaubt, die Dinge laufen optimal (lateinisch optimus = der Beste). Optimal heißt: Gibt es in der Zukunft verschiedene Möglichkeiten, kommt es stets so, wie es für den Optimisten am besten ist.

4.2. Pessimismus

Pessimismus geht auf das lateinische pessimus zurück. Pessimus ist der Superlativ von malus = schlecht. Während der Optimist von der Zukunft erwartet, dass sie seine Wünsche erfüllen wird, erwartet der Pessimist das Gegenteil: die Verwirklichung all seiner Befürchtungen.

Ausgestorbene Spezies

Früher gab es reine Pessimisten und reine Optimisten. Beide Spezies sind ausgestorben.

Nach Redaktionsschluss...

... erreichte uns die Meldung, dass Ugudulf wohlauf ist. Er befindet sich im Paradies. Dort betreibt er eine Manufaktur für Wollpullover, mit denen er Reisende ausstattet, die unterwegs in die Berge sind um Fledermäuse zu beobachten. Keinen der Reisenden lässt Ugudulf jedoch weiterziehen ohne ihm von seiner wundersamen Rettung zu berichten. Als er nämlich der Kälte fast erlegen war und sich die Sterne am Himmel schon blau verfärbten, kam die Heilige Susanna mit einem Krug frisch aufgebrühten Husten- und Bron­chialtees vom Firmament herab, taute den froststarren Optimisten mit ihrer Herzensgüte wieder auf und nahm ihn mit ins Reich der Herrlichkeit. Der Vorgang belegt, dass ungetrübter Optimismus zwar dem Wohlmeinen des Jenseits gegenüber angebracht sein mag, nicht jedoch der Witterung des Westgotenlands.

Der Zeitabstand vom Pleistozän, als der letzte reine Pessimist verhungerte, und dem Jahr 2014 vor Christus, als Ugudulf erfror, ist beträchtlich. Offen­sichtlich ist Optimismus eine bessere Erfolgsstrategie als Pessimismus; wenn­gleich auch Optimismus - zumindest in der reinen Form - als lebens­gefährlich zu gelten hat.

4.3. Realismus

Der Begriff Realismus geht auf das lateinische res = Sache zurück. Der Realist orientiert sich nicht an Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen, sondern an Tatsachen, die er feststellen kann.

Während das Beste und das Schlechteste Bewertungen sind, also Vorstellungen und Urteile im Kopf des Bewerters, liegen Tatsachen in der Wirklichkeit. Dort sind sie Leitschnur... für den, der sie beachtet.

Optimismus hat unter Psychologen mehr Fürsprecher als sein trüber Gegenpol: der Pessimismus. Doch Vorsicht: Optimismus ist nur dort behilflich, wo Realismus das Terrain bereits erkundet hat. Wer mit einem Es wird schon gut gehen! in die Eigernordwand steigt, könnte dort Dinge erleben, die er als Pessimist nicht einmal befürchtet hätte.

5. Pathologische Entwicklungen

Erwartungen können Probleme schaffen... und sie können krank machen. Dabei sind zwei Störungsbereiche zu unterscheiden.

  1. Antizipatorische Erwartungen sind nützliche Werkzeuge der Verhaltenssteuerung: wenn sie zutreffen. Ein mangelnder Realitätssinn oder fehlende Erfahrungen führen zu einem antizipatorischen Defizit, also einer irrigen Hypothesenbildung.

  2. Normative Erwartungen sind in persönlichen Beziehungen Risiko per se. Ein Überschuss davon schafft die Grundlage für Persönlichkeitsstörungen.
5.1. Antizipatorisches Defizit

Antizipatorische Erwartungen führen umso weniger in die Irre, je realistischer die Wirklichkeitseinschätzung dessen ist, der sie hegt. Faktoren, die zu unrealistischen Einschätzungen der Wirklichkeit beitragen, führen dementsprechend zu gehäuftem Scheitern.

Jedes Scheitern durch irrige antizipatorische Erwartungen untergräbt Zuversicht und Selbstwertgefühl. Es drohen Depressionen und Ängste.

Wer von anderen nichts mehr erwartet, hat zum Wohl der Menschheit beigetragen.
5.2. Normativer Überschuss

Bestimmte Persönlichkeitsvarianten sind ohne einen Überschuss an normativen Erwartungen nicht denkbar.

Eine Sonderstellung nimmt die depressive Persönlichkeit ein. Sie erwartet vordergründig nicht, dass man ihre Erwartungen erfüllt. Sie verhält sich vielmehr so, als sei die Erfüllung der Bedürfnisse und Erwartungen anderer Gesetz. Ihre normative Erwartung, dafür gehörigen Dank zu erhalten, liegt aber stets sprungbereit auf der Lauer.

6. Auswege

Normative Erwartungen formuliert man als Täter. Kaum jemand ist davon völlig frei. Fast jeder macht sich im Kopf zu einem Regisseur, der das Verhalten anderer bestimmen will und steuernd reagiert, wenn der Andere vom Drehbuch abweicht. Das ist ein Übel.

Normativen Erwartungen ist man aber auch als Opfer ausgesetzt. Kaum jemand lebt in einem Umfeld selbstlos liebevoller Menschen. Fast jeder sieht sich mit Erwartungen konfrontiert und mit übergriffigen Reaktionen, wenn er sie nicht erfüllt. Das kann zu einer Plage werden.

Da normative Erwartungen das seelische Gleichgewicht bedrohen, Beziehungen zerrütten und die Kommunikation in Sackgassen führt, sucht so mancher einen Ausweg. Für Täter und Opfer seien Möglichkeiten dazu angedeutet...

6.1. Täter
Größe erhebt keinen Anspruch. Das gilt selbst für Götter. Ein Gott, der Ansprüche erhebt und seine Entscheidungen danach ausrichtet, ob sie erfüllt werden oder nicht, ist nicht groß, sondern abhängig. Er wird von dem bestimmt, was an­dere tun. Was für Götter gilt, gilt für Menschen erst recht.

Grundregel

Statt die Freiheit des Anderen zu beschränken, befreien Sie sich selbst aus Ihren Schranken. Denn: Wer die Freiheit des Anderen beschränkt, macht sich unbeliebt. Wer den Mut zu freiem Handeln hat, wird respektiert.


Nichts....

... wünscht sich das Selbst des Menschen mehr, als es selbst zu sein und nichts fürchtet sein Ego mit gleicher Wucht als eben das. Deshalb ist die Versuchung des Menschen groß, die Treue zu sich selbst gegen Schutz und Zugehörigkeit zu tauschen, wenn er Erwartungen des Umfelds gegenübersteht, die genau besehen ihn selbst verneinen.

Da niemand, der sich selbst verleugnet hat, es gerne sieht, wenn andere in Treue zu sich halten, geht von dem, der sich normativem Druck des Umfelds beugt, der Anspruch aus, dass andere das Gleiche tun.


Wenn man nicht die Kraft hat, alle Erwartungen zu erfüllen, muss man den Mut haben, es nicht zu tun.

Respektieren Sie das Selbstbestimmungsrecht der anderen. Unterlassen sie alle Versuche der Manipulation und erst recht jede Drohung. Statt dem Anderen die Freiheit streitig zu machen, genau das zu tun, was er für richtig hält, nehmen Sie sich selbst die Freiheit, konsequent im eigenen Interesse zu handeln.

Sie sind unzufrieden mit dem Beitrag, den Ihr Partner im Haushalt leistet. Sie haben ihn darauf angesprochen, um einen Kompromiss zu finden. Ihr Partner hält Absprachen jedoch nicht ein. Die meiste Arbeit bleibt an Ihnen hängen. Falsch wäre es, über das Thema zu streiten. Besser ist, keine Hemden mehr für ihn zu bügeln.

Indem Sie die Hemden liegen lassen, sparen Sie Arbeit ein. Das gestörte Gleichgewicht des Gebens und Nehmens wird um das Gewicht des eingesparten Bügelns ausgeglichen. Indem die Hemden liegen bleiben, entstehen Tatsachen, denen Ihr Partner schwerer ausweichen kann, als beschwörenden Worten. Vermutlich wird er bald aktiv.

6.2. Opfer

Sehen Sie sich mit Erwartungen des Umfelds konfrontiert, gilt es zunächst zu unterscheiden.

Wenn Sie Erwartungen erfüllen, die Sie für stimmig halten, wird das zu Ihrem Vorteil sein. Problematisch wird es, wenn Ihnen eine Erwartung unberechtigt erscheint. Dann stellt das Leben Sie vor die Wahl...

Das Erstere wird gelegentlich weise sein. Das Letztere fällt umso leichter, je weniger Sie Ihrerseits den Anderen mit normativen Erwartungen bedrängen. Erwarten Sie von ihm, dass er jede Ihrer Entscheidungen für gut befindet und Sie stets bejaht, führt das in eine Verstrickung wechselseitiger Bemächtigungsversuche.

Erlauben Sie dem Anderen, dass er emotional so reagiert, wie ihm tatsächlich zumute ist. Dann werden auch Sie dazu befreit, Sie selbst zu sein.