Erfahrung


  1. Begriffsbestimmung
    1. 1.1. Tätigkeit
    2. 1.2. Produkt
  2. Erfahrungszyklus
  3. Umgang mit Erfahrungen
    1. 3.1. Zulassen
    2. 3.2. Steuern
      1. 3.2.1. Vermeiden / umgehen
      2. 3.2.2. Entkräften / abbrechen
      3. 3.2.3. Aufsuchen
    3. 3.3. Stile des Erlebens
    4. 3.4. Erfolg und Erfahrung
  4. Störungen des Erfahrungszyklus
    1. 4.1. Grundlagen
      1. 4.1.1. Ontologische Wurzel
      2. 4.1.2. Anthropologische Wurzel
    1. 4.2. Pathologische Muster
      1. 4.2.1. Vermeidungsstrategien
      2. 4.2.2. Erfahrungsabbruch
      3. 4.2.3. Entkräftungs­strategien
  5. Freisetzung

Das Leben verzeiht uns die Vorliebe für das Angenehme; wenn wir bereit sind, Unangenehmes, das sich nicht vermeiden lässt, uneingeschränkt zu erfahren.

Leben ist Erfahrung, die man machen kann; oder die man von sich weist. Weist man Erfahrung von sich, erfährt man die Folgen, die das nach sich zieht.

1. Begriffsbestimmung

Der Begriff Erfahrung setzt sich aus zwei Teilen zusammen:

  1. der Vorsilbe er, einer Abwandlung von ur = heraus, hervor
  2. dem Verb fahren, das seinerseits auf die indoeuropäische Wurzel per- = hinüberführen, übersetzen, durchqueren zurückgeht.

Analog zum Gebäude, das durch Baumaßnahmen hervorgebracht wird, weist auch das er- in Erfahrung darauf hin, dass etwas entsteht; jedoch nicht indem man baut, sondern indem man fährt, also ein Feld durchquert. Beim Feld, dessen Durchquerung Erfahrung hervorbringt, handelt es sich um die Wirklichkeit, die jeder Erfahrende zeit seines Lebens erfährt.

Experimente

Verwandt mit Erfahrung scheint Gefahr zu sein. Auch Gefahr geht auf die indoeuropäische Wurzel per- zurück. Im Begriff Gefahr hat sich jedoch ein Bedeutungszweig entwickelt, der den Sinn des Fahrens abweichend betont.

Zu diesem Seitenzweig gehören Begriffe wie Experiment und Pirat. Die Berufswahl des Piraten ist in der Tat ein höheres Wagnis als die des Malers und Lackierers. Griechisch peira (πειρα) heißt Wagnis, Versuch. Lateinisch heißt Gefahr periculum. Dazu gehört das Verb experiri = versuchen, erproben, bestehen, erfahren. Das lateinische experiri hat zum englischen experience = Erfahrung geführt. Wörtlich übersetzt heißt Experiment Aus-der-Gefahr-heraus.

Jede Erfahrung ist ein Risiko. Wer erfährt, begibt sich in Gefahr. Er riskiert, dass die Erfahrung weh tut... und dass das Erfahrene sein Bild der Welt verändert; oft so, wie er es gar nicht möchte.

1.1. Tätigkeit

Im Satz Ich erfahre etwas, ist erfahren als Verb gebraucht; so wie backen und drücken in den Sätzen Ich backe Kuchen oder Ich drücke den Schalter. Wie Kuchenbacken und Schalterdrücken ist Erfahrungsammeln eine Tätigkeit. Dass Kuchen­backen zwar eine Erfahrung ist, aber kein Schalterdrücken, und Schalterdrücken ebenfalls eine Erfahrung aber kein Kuchenbacken, zeigt an, dass sich die Tätigkeit des Erfahrens grundsätzlich von allen anderen unterscheidet: Sie ist deren Essenz und gemeinsamer Nenner. Egal, was man tut, man macht dabei Erfahrungen.

Eine Erfahrung zu machen heißt, von der Erfahrung gemacht zu werden. Wer etwas mit sich machen lässt, vertraut sich an.

Jozsef Dobos, einer der großen Wohltäter der Menschheits­geschichte, hat etwas gewagt: eine neue Cremetorte zu kreieren. Dabei kam ihm seine Erfahrung als Konditor zugute. In seiner Heimat wird Dobos' Ruhm noch leuchten, wenn der Rest Europas seine Traditionen längst vergessen hat.

Bei beiden Tätigkeitsangaben steht der aktiv-bewirkende Pol des Tuns soweit im Vordergrund, dass der passiv-empfangende, der jede Tätigkeit begleitet, meist über­sehen wird. Kaum je wird uns beim Kuchenbacken gewahr, dass nicht nur wir etwas aus Zucker, Eiern und Mehl machen, sondern dass das Kuchenbacken etwas mit uns selber macht. Es reichert uns mit Erfahrung an. Ähnlich ist es, wenn es heißt...

Kaum je bedenken wir, dass nicht nur wir ins Netzwerk der Dinge eingreifen, sondern dass jeder Eingriff eine Erfahrung begründet, die auf uns zurückwirkt.

Zwei Ebenen des Erfahrens

In Erfahrung bringen Eine Erfahrung machen
Im Internet habe ich in Erfahrung gebracht, wie man Doboschtorte backt. Der glückliche Ausgang des Dobosch­tortenbackens hat mich ermutigt, weitere Rezepte zu probieren und die Puszta zu bereisen.
Erwerb von Information Durchleben von Transformation
Veränderung einer Informationsmenge Umformung des Trägers der Informationsmenge

Je nachdem, wie tief Erfahrung reicht, führt sie entweder zu einem Wissen von etwas oder auch zu einem Anderssein. Das Entweder-oder ist hier nur Hilfsmittel um auf den Unterschied hinzuweisen. Tatsächlich ist Information immer auch Transformation. Nicht umsonst heißt Information Einformung.

Grundrechenart

Kognitives Erfahren + emotionales Durchleben = existenzielle Transformation

Transformation wird aber nur vollendet, wenn man Information umfassend erfährt; wenn sie also nicht nur kognitiv, sondern auch emotional zugelassen wird.

1.2. Produkt

Es reichert uns mit Erfahrung an: Hier ist Erfahrung kein Prozess mehr, der Bewirken und Beeinflusstwerden zu einem Wechselspiel verwebt. Hier ist Erfahrung als Resultat des Erfahrens ein Produkt, das sich läuternd in uns anhäuft.

Läuternd heißt dabei: Erfahrung wird nicht nur angesammelt; wie Milch im Melkeimer. Erfahrung setzt Wandlungsprozesse in Gang, sodass sich der Melkeimer, in dem sie sich sammelt, verändert. Erfahrung ist ein umfassend existenzieller Prozess, der das Wesen der Lebendigkeit ausmacht. Wer etwas erfahren hat, ist ein anderer geworden.

2. Erfahrungszyklus

Das Wort Ereignis entstand durch Vokal­verschiebung aus dem älteren Eräugnis. Ereignisse sind Abläufe von denen man Kenntnis nimmt. Das Auge im Eräugnis steht dabei stellvertretend für alle Wahrnehmungs­kanäle.

Grundregel

Ein Erfahrungszyklus ist abgeschlossen, wenn die emotionale Komponente vollständig auf das Individuum einwirken konnte.

Erfahrungen bestehen aus ineinander verschachtelten Komponenten. In der Regel beginnen sie mit äußeren Ereignissen. Es kann sich aber auch um ein inneres Ereignis handeln: zum Beispiel um einen Traum. Das Individuum gerät durch das Ereignis in eine Situation, auf die es reagiert.

Die Reaktion auf das äußere Ereignis ist die zweite Komponente der Erfahrung. Sie besteht ihrerseits aus vier Teilen:

  1. einer kognitiven Einschätzung der Lage, die zu einer Entscheidung führt...

    1. Um Chips zu kriegen, lohnt sich ein riskanter Einsatz.
    2. Bevor ich Kopf und Kragen riskiere, begnüge ich mich mit den restlichen Erdnüssen.
  2. einer Handlung, die die Situation im eigenen Interesse zu steuern versucht...

    1. Jens setzt zu einem Überholmanöver an, das seinen Blutdruck auf 180 treibt.
    2. Jens nimmt den Fuß vom Gas.
  3. begleitenden kognitiven Beurteilungen des Ereignisses...

    1. So ein Penner! Wo hat der denn seinen Führerschein gemacht?
    2. Man sollte sich solche Wegschnecken zum Vorbild nehmen. Dann hat man weniger Stress.
  4. und einem emotionalen Erleben, das entweder in Handlungsimpulse übergeht oder Bewusstseinsprozesse anstößt, die das Individuum verändern...

    1. Erst kocht in Jens der Ärger hoch. Dann kriegt er Angst vor dem, was er riskiert. Schließlich schämt er sich, dass er für eine Tüte Chips sein Leben aufs Spiel gesetzt hat.
    2. Jens wird seine Ungeduld bewusst. Als er sein Getriebensein erkennt, lässt die Spannung in ihm nach. Verwundert stellt er fest, wie schnell er äußere Ereignisse auf sich bezieht und sie als gegen sich selbst gerichtet erlebt.

Für die seelische Gesundheit ist der Umgang mit der emotionalen Komponente ausschlaggebend. Gefühle können angenommen und bewusst durchlebt werden. Oder sie werden abgewehrt; um sie aus dem Bewusstsein zu verdrängen und ihre Wirkung abzuschwächen.

Emotionale Effekte
Im Begriff Emotion steckt Bewegung. E-motion heißt Herausbewegung. Emotionen bewirken, dass etwas aus seiner Position herausbewegt wird. Effekt geht auf lateinisch ex-facere = hervorbringen, aus etwas machen zurück.

Die emotionale Komponente von Erfahrungen kann verschiedene Effekte haben; je nachdem, ob ihr Impuls nach außen gewendet wird oder im Inneren verbleibt.

Der potenzielle Wert einer jeden Erfahrung liegt in der Ausreifung von Vorstellungen, die man sich über die Wirklichkeit macht. Bewusst oder unbewusst hat jeder über quasi alles und jedes Vorstellungen. Sie waren noch nie in der Bretagne? Trotzdem haben Sie vage Vorstellungen, wie es dort aussieht. Sie haben noch nie ein Arbeitszimmer renoviert? Trotzdem haben Sie irgendwelche Vorstellungen, wie das wohl abläuft. Sobald Sie aber in der Bretagne waren und ein Arbeitszimmer renoviert haben, haben sich Ihre Vorstellungen der Wirklichkeit unausweichlich angenähert. Je mehr Erfahrungen Sie machen, desto mehr wissen Sie über die Welt Bescheid. Je besser Sie die Welt kennen, desto eher werden Sie Entscheidungen treffen, die zu Ihrem Nutzen sind. Vor Erfahrungen grundsätzlich zurückzuschrecken ist eine der besten Möglich­keiten, in Zukunft unangenehme Erfahrungen zu machen.

3. Umgang mit Erfahrungen

Viele wehren sich gegen das, was sie eigentlich sind. Sie geben sich sich selbst nicht hin, sondern klammern sich an ihre Bilder. Sich Erfahrungen hinzugeben, heißt zuzulassen, dass man zu dem wird, der man ist.

Wer lebt, macht Erfahrungen. Das ist unvermeidlich; weil Leben Erfahrungen machen heißt. Erfahrungen können unterschiedlich erlebt werden: als angenehm oder als unangenehm. Angenehme Erfahrungen sind angenehm, weil man sie gerne annimmt. Unangenehme heißen unangenehm, weil man sie lieber nicht annehmen würde. Dass vom Nehmen die Rede ist, zeigt an, dass die Begriffe angenehm und unangenehm keine objektiven Eigenschaften benennen, die allein dem erfahrbaren Ereignis anhaften. Sie weisen vielmehr auf die Haltung dessen hin, der die Erfahrung macht.

Ungeachtet dessen, wie man eine Erfahrung empfindet, kann man unterschiedlich darauf reagieren.

3.1. Zulassen

Beim Zulassen von Erfahrungen greift man wenig in den Gang der Dinge ein. Man...

Erfahrungen so zuzulassen, wie sie kommen, ist vorurteilsfrei. Statt von vornherein festzulegen, auf welche Erfahrungen man sich einlässt und auf welche nicht, lernt man das Leben von allen Seiten kennen.

Der Vorteil des Zulassens ist Erkenntnisgewinn und Trans­formation. Das Individuum reift mit den Erfahrungen, die es macht.

Entwicklungen
So hat es das Leben eingerichtet: Wenn man jung ist, neigt man dazu, Erfahrungen sorglos einzugehen.

Fast immer würde es aber übel enden, setzte man Erfahrung nicht in wachsende Voraussicht um. So kommt es, dass Ältere dazu neigen, Erfahrungen zu steuern; denn je älter man wird, desto länger tut es weh, wenn man sich den Fuß verstaucht.

3.2. Steuern

Erfahrungen bewirken zweierlei:

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Erfahrungsprozesse zu steuern. Man kann...

3.2.1. Vermeiden / umgehen

Kaum jemand macht das nicht: Erfahrungen, die unangenehm werden könnten, von vornherein zu vermeiden.

Die gezielte Vermeidung unangenehmer Erfahrungen macht Sinn; wenn sie gezielt erfolgt und man nicht querbeet alles vermeidet, was unangenehm sein könnte. Wenn sich das Unangenehme bloß schlecht anfühlt, ist es halb so schlimm. Wenn es etwas Wertvolles beschädigt, ist es bedenklich.

Machtkämpfe
Jede Erfahrung wirkt. Nicht jeder vertraut aber darauf, dass Erfahrungen zu seinen Gunsten wirken. Wer nicht darauf vertraut, dass er aus jeder Erfahrung, die er macht, Nutzen ziehen kann, fängt an, mit Erfahrungen um die Macht zu kämpfen. Er überlässt sich nicht mehr. Stattdessen versucht er, Erfahrungen zu steuern. Oft übertreibt er dabei. Statt Erfahrungen zu sammeln, wehrt er sie ab... und steht dann mit leeren Händen da.
Manche Erfahrung sieht aus, als sei sie nur Mist. Mist ist jedoch ein guter Dünger. Man muss ihn an die richtige Stelle schütten. Dort tut er manchmal Wunder.
3.2.2. Entkräften / abbrechen

Das Leben ist zu komplex, als dass man von vornherein alle unangenehmen Erfahrungen vermeiden könnte. Wahrschein­lich wäre das auch nicht sinnvoll; denn unangenehme Erfahrungen stoßen seelische Prozesse an, die sich im Nachhinein als heilsam erweisen. Das können sie aber nur, wenn der Zyklus des Erfahrens nicht entkräftet oder unterbrochen wird.

Heike durchlebt den Zyklus der Erfahrung. Sandra bricht ihn ab. Dabei gilt:

Konnte eine unangenehme Erfahrung nicht vermieden werden, ist es besser, man erlebt ihr emotionales Echo bis zu seinem Ende, als dass man das Echo, weil es wehtut, unterdrückt.

Irrige Gleichsetzung
Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht: Das hört man oft. Analog wird von negativen Erfahrungen gesprochen. Die Begriffswahl schlecht bzw. negativ (lateinisch negare = verneinen, bestreiten, ablehnen) zeigt an, dass der Sprecher Erfahrungen bewertet; statt sie zu erleben. Besser als von guten bzw. schlechten Erfahrungen zu sprechen, ist es, sie als angenehm bzw. unangenehm zu bezeichnen. Unangenehme Erlebnisse können tatsächlich wahrgenommen werden. Ob eine Erfahrung aber gut oder schlecht ist, ist nichts als ein Vorurteil, das den Vorgang des Erfahrungmachens stört.
3.2.3. Aufsuchen

Erfahrungen können aufgesucht werden. In der Regel wird es sich um solche handeln, die man als angenehm empfindet.

Man kann gezielt unangenehme Erfahrungen aufsuchen, um ihre Transformationskraft zu nutzen.

Und zum dritten: Man kann gezielt Erfahrungen aufsuchen, um die Wirkung anderer Erfahrungen aufzuheben.

3.3. Stile des Erlebens

Den beschriebenen Grundarten des Umgangs mit Erfahrung sind zwei Stile zuzuordnen. Der eine legt den Schwerpunkt auf die Wirkung, die in der Außenwelt zu erzielen ist, der andere auf Erkenntnis und Betrachtung des seelischen Innenraums.

Stile des Erlebens

Wirkung Betrachtung
Bewerten, beurteilen, planen, zurückweisen, fordern, kontrollieren, überwachen Wahrnehmen, zulassen, erfahren, erkunden
Es wird mir umso besser gehen, je mehr ich die Welt an meine Vorstellungen anpasse. Je mehr ich von den Strukturen der Wirklichkeit weiß, desto weniger werde ich mich daran stoßen.
Die anderen sollen so sein, wie ich es für richtig halte. Wenn ich erkenne, wie es mir mit den anderen ergeht, kann ich Beziehungen so gestalten, dass sie mir entsprechen.

Man kann sich am gewünschten Effekt orientieren oder an der Treue zu sich selbst. Orientiert man sich am Effekt, kann es sein, dass man sich übersieht. Bleibt man sich treu, sind die Effekte langfristig gut. Nachhaltig Erfolg hat nur, was seinem Wesen entspricht.

Wer den Schwerpunkt auf Wirkung legt, muss wachsam sein; um zu verhindern, dass die Welt sich seinem Einfluss entzieht. Wer den Schwerpunkt auf Erfahrung legt, kann achtsam sein; weil Erfahrung umso fruchtbarer wird, je gründlicher man sie durchlebt.

Entscheidung und Erfahrungsfeld

Ein Weg führt nach außen, der andere nach innen. Die Mischung macht das Brot.

3.4. Erfolg und Erfahrung

Eine wichtige Polarität besteht zwischen Erfolg und Erfahrung. Auf dem Weg zum Erfolg macht man Erfahrungen. Erfahrungen verbessern die Aussicht auf Erfolg. Grundsätzlich kann man den Schwerpunkt mehr auf das eine oder mehr auf das andere legen. Die meisten Menschen sind am Erfolg, aber nur bedingt an Erfahrungen interessiert. Erfolg verheißt angenehme Erfahrungen, Misserfolg unangenehme.

Das führt oft dazu, dass unangenehme Erfahrungen als unnütz verworfen werden. Tatsächlich sind unangenehme Erfahrungen aber ein notwendiger Katalysator persönlicher Entwicklungen. Die überwertige Orientierung am kurzfristigen Erfolg führt dazu, dass Erfolge langfristig erschwert werden. Wer auch Erfahrungen, die durch Misserfolge verursacht werden, zu akzeptieren weiß, für den sind sogar Misserfolge nützlich.

Komponenten des Erlebens

Erfolg Erfahrung
Ich weiß, was ich will.
Ich weiß, was ich dafür tun muss.
Ich weiß, was mir geschieht.
Ich erkenne, was ich durchlebe.

4. Störungen des Erfahrungszyklus

Es gibt zweierlei Leid: existenzielles und neurotisches. Existenzielles Leid ist notwendig, neurotisches selbst­verursacht. Notwendiges Leid wendet größere Not ab. Es ist unverzichtbar, um Prozesse zum Guten zu wenden. Selbst­verursachtes Leid ist eigentlich überflüssig. Es entsteht, weil man das notwendige nicht annehmen will.

Der Kernmechanismus, der bei der Entstehung neurotischen Leids zum Zuge kommt, liegt in der Vermeidung oder willkürlichen Unterbrechung von Erfahrungszyklen. Der neurotische Mensch will existenzielles Leid umgehen indem er komplizierte Umwege macht. Unterwegs verstrickt er sich in Komplikationen, die noch unangenehmer sind als das Unangenehme, das er ursprünglich umging.

4.1. Grundlagen

Die Ursachen der menschlichen Neigung, Erfahrungszyklen zu vermeiden oder abzubrechen, liegen in den Grundbedingungen des Daseins. Sie lassen sich zwei Ebenen zuordnen:

  1. der ontologischen Ebene (griechisch on (ον) = seiend). Ontologie ist die Lehre von der Struktur des Seins an sich.
  2. der anthropologischen Ebene (griechisch anthropos (ανθρωπος) = Mensch). Anthropologie ist die Lehre von den Lebensumständen der Spezies Mensch.
4.1.1. Ontologische Wurzel
Was mein Selbstbild in Frage stellt, ist schädlich. So spricht die physiologische Grundparanoia der egozentrischen Realitätsdeutung.

Nur wer sich nicht mehr mit Bildern verwechselt, wird nicht mehr um den Bestand von Bildern kämpfen, sondern die Wirklichkeit sehen, wie sie ist.

Der Mensch weiß um seine persönliche Existenz. Sobald er sich gewahr wird, dass es ihn als unterscheidbares Individuum gibt, macht er sich ein Bild von dem, was dieses Individuum ausmacht. Er entwirft ein Selbstbild... mit dem er sich spontan gleichsetzt. Er sagt: Das bin ich. Ich bin so und so... und nicht anders. Ich habe eine ganz bestimmte Identität. An der will ich festhalten. Ich werde abwehren, was sie gefährden könnte. Das Hauptkriterium der ontologischen Wurzel ist die dualistische Grundstruktur des Diesseits.

Erfahrungen können angenehm oder unangenehm sein. Sie sind angenehm, wenn sie die körperliche Integrität und das Selbstbild bestätigen. Sie sind unangenehm, wenn sie eins der beiden in Frage stellen. Da Infragestellungen des Selbstbilds verunsichern und man lieber Sicherheit hätte, neigt man dazu, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden.

4.1.2. Anthropologische Wurzel

Als Exemplar einer biologischen Spezies war der Mensch stets einer Umwelt ausgesetzt, die unzählige Gefahren barg. Unangenehme Erfahrungen zu vermeiden, ist daher nicht nur ein psychologisches Risiko, das den Erfahrungshorizont schmälert. Es ist auch eine überlebensnotwendige Strategie, die es überhaupt erst ermöglicht, dass man psychologische Risiken eingehen kann.

4.2. Pathologische Muster
Der Preis den das Leben vom Menschen für das Gute fordert, ist es, sich all das einzugestehen, was er tatsächlich in sich findet; auch und erst recht, wenn es ihm nicht gefällt.

Dass die Vermeidung unangenehmer Erfahrungen biologisch gesehen Sinn machen kann, heißt nicht, dass es immer so wäre; vor allem nicht für die seelische Entwicklung. Im Gegenteil: Ohne unangenehme Erfahrungen wäre eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung nicht möglich. Der Mensch entwickelt sein volles Potenzial, wenn er auf dem Weg dorthin das Unausweichliche erleidet.

Nein, wir sind von Natur aus keine Helden. Wir sind Geschäftsleute und zwar nicht immer die mit voller Kaufmannsehre. Deshalb wollen wir das Gute vom Leben, ohne ihm den Preis zu zahlen, den es dafür haben will. So kommt es, dass der Mensch ein Meister der Vermeidung ist, aber weit davon entfernt, ohne Wenn und Aber zu sich selbst zu stehen. Erlebnisweisen, die nicht zu seinem Selbstbild passen, weist er, wenn es geht, zurück. Den Hebel der Vermeidung setzt er an verschiedenen Punkten an.

Unterbrochene Updates
Glauben Sie, es ist eine gute Idee, die Installation von Updates zu unterbrechen, weil man keine Geduld hat, den Download abzuwarten?

Was für den Computer Updates, sind Erfahrungen für die Psyche. Wie beim Computer kommt es auch für eine erfolgreiche Aktualisierung der Psyche darauf an, dass man das Update ganz herunterlädt; und nicht nur einen Teil davon, weil einem der Rest missfällt. Erst wenn Erfahrungen vollständig angenommen werden - und dazu gehört es, ihre emotionale Qualität uneingeschränkt zu durchleben - sind sie in der Lage, die Funktionalität der Psyche auf den neuesten Stand zu bringen.

4.2.1. Vermeidungsstrategien

Varianten

Nicht hinter jedem Vermeidungsverhalten steht Angst. So mancher vermeidet alles, was ihm irgendwie unangenehm ist. Er praktiziert ein egozentrisch-vermeidendes Muster.

Der exemplarische Typus, der unliebsame Erfahrungen von vornherein vermeidet, ist die ängstlich-vermeidende Persönlichkeit.

Wiebke...

Damit verwandt ist das Muster der abhängigen Persönlichkeit. Die abhängige Persönlichkeit überlässt Initiative und Führung stets den anderen. So umgeht sie die Erfahrung, für Entscheidungen, die man im Nachhinein bereut, verantwortlich zu sein. Typische Abwehrmechanismen vermeidender und abhängiger Persönlichkeiten sind Fixierung und Regression.

Auch die anankastische Persönlichkeit versucht überwertig, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden. Nicht umsonst greift die Psychiatrie zur Bezeichnung dieser Persönlichkeitsproblematik auf den griechischen Begriff ananke [αναγκη] = Zwang, Notwendigkeit zurück.

Im Gegensatz zur abhängigen oder ängstlich-vermeidenden weicht die anankastische Persönlichkeit aber nicht nur aus. Vielmehr versucht sie, unangenehme Erfahrungen durch vorausschauende Kontrolle des Erfahrungszyklus zu verhindern. Dabei nehmen die Kontrollversuche oft dermaßen überhand, dass Entscheidungen über die Wahl der geeigneten Wege kaum noch zustande kommen. Resultat ist eine höchst unangenehme Erfahrung: In endlosen Grübeleien festzustecken ohne zu befreienden Schritten fähig zu sein. Beim Versuch, Not abzuwenden, erzeugt der Anankast überflüssige Not, weil er im Grundsatz notwendige Not aus der Welt schaffen will.

4.2.2. Erfahrungsabbruch
Das Leben ist eine Abfolge wertvoller Erfahrungen. Die einen sind ange­nehm, die anderen nicht. Obwohl es Erfahrungen gibt, die man kaum verkraften kann, könnte sich jede in einen Schatz verwandeln.

So mancher lässt sich auf Erfahrungen zwar ein, aber nur solange Aussicht besteht, dass sie durchgehend erfreulich bleiben. Tauchen Misslichkeiten auf, stellt er fest, dass die äußeren Bedingungen nicht stimmen. Dann bricht er die Ereigniskette als Ganzes ab.

Zwiespältige Erfahrungen vorzeitig abzubrechen, ist ein Muster, das gehäuft bei der ADHS oder emotional-instabilen Persönlichkeiten vorkommt.

4.2.3. Entkräftungsstrategien

Als dritte Variante sind die Entkräftungsstrategien zu nennen. Dabei wird die äußere Ereigniskette der Erfahrung zwar durchlebt, die Wirkung ihrer emotionalen Komponente auf den Erfahrenden aber ganz oder teilweise abgewehrt. Zu diesem Zweck steht eine Palette von Abwehrmechanismen zur Verfügung, die je nach individueller Ausgangslage einzeln oder kombiniert zur Anwendung kommen.


Erfahrung und entkräftende Abwehr
Abwehr­mecha­nismus Beispiel Abge­wehrte Erfah­rung
Abwertung Wäre Nadine keine eingebildete Tussi, hätte sie meine Ein­ladung angenommen. Sich selbst entwertet zu fühlen
Affekt­isolierung Dass Nadine mich nicht mag, berührt mich überhaupt nicht. Ent­täuschung
Altruis­tische Abtretung Wichtig ist einzig, dass es dir gut geht. Wie gerne man selbst etwas hätte
Dramati­sierung Ich war auf der geil­sten Party aller Zeiten. Wie uninter­essant man sich vorkommt
Projektion Die Ungläubigen werden vom Bösen beherrscht. Die eigene Bosheit
Rationa­lisierung Meine Traurigkeit kommt von der Transmitter­störung. Dass Traurigkeit zu mir selbst gehört
Reaktions­bildung Da ich mich über Nadines Zurückweisung ärgere, bin ich besonders nett zu ihr. Zu erleben, wie mich jemand aus der Fassung bringt
Recht­fertigung Ich habe das nur getan, weil ich dachte, du freust dich darüber. Wie es sich anfühlt, wegen dem, was man tat, in der Kritik zu stehen
Spaltung Erst dachte ich, Nadine sei ein Engel. Jetzt weiß ich, dass sie eine Schlampe ist. Die Wider­sprüch­lichkeit des eigenen Erlebens und die Abhängig­keit von der Bestätigung durch andere
Unge­schehen­machen Wenn ich etwas Böses gedacht habe, bete ich drei Rosenkränze. Angst vor Strafe
Ver­drängung
Verleug­nung
Ich bin Nadine wirklich nicht böse. Wegen einer Zurück­weisung gekränkt zu sein

Während die Manipulation spontaner Erfahrungszyklen bei der Vermeidungsstrategie und beim Abbruch von Erfahrungsketten offensichtlich ist, sind Entkräftungsstrategien oft gut in übliche Verhaltensmuster eingebaut, sodass man sie nicht als Ausweich­manöver erkennt. Akzentuierte Persönlichkeiten wenden bestimmte Abwehrmecha­nismen bevorzugt an. Dadurch ergeben sich Besonderheiten bei ihrem Umgang mit Erfahrungen.

Persönlichkeitsvariante und Umgang mit Erfahrungen

Variante Besonderheit
Paranoide Persönlichkeit Vertraut sich nicht an. Vermeidet Erfahrung der Zugehörigkeit.
Schizoide Persönlichkeit Vermeidet Erfahrung des Fremdbestimmt­seins und des Unvermögens, mit anderen zu konkurrieren. Vermeidet die Erfahrung, von anderen negativ bewertet zu werden.
Dissoziale Persönlichkeit Sieht nur in solchen Erfahrungen einen Wert, die ihr greifbare Vorteile bringen. Vermeidet Erfahrung von Abhängigkeit und Gemeinsamkeit.
Emotional-instabile Persönlichkeit Bricht Erfahrungen ab, wenn sie zwiespältig werden.
Histrionische Persönlichkeit Bevorzugt Spektakuläres. Kann mit Stille nichts anfangen.
Zwanghafte (anankastische) Persönlichkeit Versucht den Ablauf jeder Erfahrung zu kontrollieren.
Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit Vermeidet riskante Erfahrungen.
Abhängige Persönlichkeit Vermeidet Risiko der Verantwortung.
Narzisstische Persönlichkeit Bevorzugt überwertig Erfahrungen, die ihren Wert und ihre Überlegenheit bestätigen. Vermeidet die Erfahrung persönlicher Bedeutungslosigkeit.
Dysthymie / Depressive Persönlichkeit Nimmt unangenehme Erfahrungen geduldig in Kauf. Verzichtet darauf, eigene Vorteile in Anspruch zu nehmen.
Passiv-aggressive Persönlichkeit Vermeidet die Erfahrung offener Konflikte und Konfrontationen.
Multiple Persönlichkeit Ordnet unterschiedliche Erfahrungen verschiedenen Identitäten zu. Spaltet Widersprüchliches ab.
Schizotype Persönlichkeit Gleicht die Deutung von Erfahrungen nicht mit dem Umfeld ab. Vermeidet die Korrektur abwegiger Vorstellungen durch faktisch Erfahrbares.

5. Freisetzung

Heilung heißt Ergänzung. Erfahrungen sind heilsam. Sie bringen Erkenntnisse mit sich, die der Person bislang fehlen. Umso wichtiger ist es, das Heilmittel der Erfahrung nicht ungenutzt zu lassen. Das einfachste Mittel um seelisch gesund zu werden, besteht darin, die Heilkraft der Erfahrung freizusetzen. Das kann auf zweierlei Art verwirklicht werden: durch gezieltes Experiment und gesteigerte Achtsamkeit.

Lassen Sie Erfahrungen zu, bis die Erkenntnis auftaucht, die für Sie darin enthalten ist. Jede Erkenntnis ist ein Stück der ganz großen Freiheit.

Heilung
Wenn von Heilung die Rede ist, ist der Begriff konsequent zu Ende zu denken. Heilung heißt Ganzwerdung. Zur endgültigen Ganzwerdung gehört eine besondere Erfahrung: die mystische. Im Regelfall werden Erfahrungen im Umgang mit Objekten gemacht. Man erfährt das Wesen der Objekte, indem man ihnen begegnet, ihren Einfluss erfährt und auf sie einwirkt. Mit jeder Objekterfahrung erfährt das Subjekt einen Teil der Wirklichkeit, sodass sich seine Kenntnis wie ein Puzzle ergänzt.

Bei der mystischen Erfahrung erfährt das Subjekt keine Objekte. Es erfährt sich selbst. Die mystische Erfahrung ist die Erfahrung, keine Erfahrung zu machen, sondern eine Erfahrung zu sein. In der mystischen Erfahrung lässt das erfahrende Subjekt von der Identifikation mit seiner Person ab und erfährt, dass die Person eine Erfahrung der Wirklichkeit ist. Danach weiß der Erfahrene: Die Person erfährt Teile der Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit erfährt die ganze Person. Ihr Leben ist ein Puzzlestück in einem Bild, das die Person als solche niemals zu Gesicht bekommt.