Schicksal


  1. Begriffsbestimmung
  2. Netzwerk
  3. Wille und Wunsch
  4. Zumutung und Gerechtigkeit
    1. 4.1. Betrachtungsebenen
      1. 4.1.1. Horizontal
      2. 4.1.2. Biographisch
      3. 4.1.3. Transzendent
  5. Fatum und Verhängnis
  6. Fehleinschätzung
Je mehr man sich damit befasst, sich gegen das Schicksal zu sträuben, statt etwas damit anzufangen, desto übler wird das Schicksal sein, das aus dem Widerstand entsteht.

Betrachten Sie sich selbst als Schicksal! Sie sind das Schicksal der Zukunft. Statt vom Gestern Gerechtigkeit zu fordern, werden Sie dem Leben heute selbst gerecht.

1. Begriffsbestimmung

Im Begriff Schicksal erkennt man das Verb schicken. Schicken geht auf geschehen zurück. Schicksal ist, was geschehen ist und als Ergebnis vergangener Ereignisse vorliegt.

Mehr von seinem Wesen erkennt man, wenn man weitere Wortverwandtschaften ins Auge fasst. Geschehen wurzelt im althochdeutschen skehan = eilen, rennen. Damit verwandt ist das polnische skok = Sprung.

Das Schicksal ist nicht nur die faktische Folge dessen, was gesche­hen ist. Es ist das, was uns ereilt. Die Sprache bringt zum Ausdruck, dass man dem Schicksal nicht entrinnen kann. Egal, wohin man vor ihm flüchtet, es erreicht denselben Ort im Sprung. Wo auch immer man hinkommt: Das Schicksal ist bereits da. Warum? Weil man es ist.

2. Netzwerk

Sie hadern mit dem Schicksal? Das macht nur solange Sinn, wie das Hadern Sie dazu antreibt, das Hadern sein zu lassen und Ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Bleibt es beim Hadern, verschwenden Sie Ihre Kraft.

Ihr Schicksal hat mit dem Urknall begonnen; oder mit dem, was den Urknall gezündet hat. Der Ursprung Ihres Daseins ist tief in der Vergangenheit des Universums verwurzelt. Durch Ihre Existenz hindurch kreuzen von dort aus tausend Bahnen bis in alle Ewigkeit. Tausend ist dabei bloß ein symbolischer Begriff. Tatsächlich sind es unfassbar viele. Das Schicksal hat für jeden Augenblick die Weichen so gestellt, dass sie unverrückbar stehen. Nur auf die Zukunft hat man Einfluss.

Schicksal ist Zugeschicktes. Es kommt so beim Empfänger an, wie es von unzähligen Ursachen vorherbestimmt ist. Der Empfänger kann die Sendung nicht ändern. Er kann nur entscheiden, was er damit macht.

Hase und Igel

Der Igel ist immer schon da, wenn der Hase ankommt. So geht es uns mit dem Schicksal. Es mag den Hasen ärgern, dass der Igel schneller war. Macht der Hase die Sache aber nicht noch schlimmer, wenn er sich am Igel aufgebracht vergreift?

Um ein unliebsames Schicksal zu verwerfen, greift man wütend in die Stacheln. Klüger ist es, den Igel zu beachten und ihm bedacht dorthin zu folgen, wohin er läuft.

Den Willigen führt das Schicksal. Den Unwilligen zerrt es fort.

So sagte es der weise Seneca.

3. Wille und Wunsch

Man sagt: Er hat sein Schicksal in die eigene Hand genommen. Man meint damit, dass er sich daranmacht, zukünftige Erfolge vorzubereiten. Wer das Schicksal in die Hände nimmt, der tut das auch.

Du hast es in der Hand. Das sagt man auch. Man meint damit, dass der Angesproch­ene die Oberhand behalten kann und die Ereignisse, die kommen mögen, im Griff hat.

Beide Aussagen klingen ermutigend. Genau diesen Mut braucht man auch, um das Schicksal überhaupt in die Hand zu nehmen, denn Kontrolle und Erfolg sind Schritte Nummer zwei und drei. Im ersten Schritt gilt es, die Aufgabe zu akzeptieren, die sich als Schicksal stellt. Damit tut der Mensch sich schwer.

Fast immer heißt Schicksal auch Schwierigkeit. Wie oft wünschte man, es wäre anders. Statt das Vorgegebene in die Hand zu nehmen, weist man es daher lieber von sich. Man wartet, dass der Kellner eine bessere Suppe bringt. Oder man weist die Schuld am Schicksal Übeltätern zu... als könne man ihm damit entrinnen. Um das Schicksal anzunehmen, bedarf es nicht nur des Wunschs, erfolgreich zu sein. Es bedarf der Bereitschaft, Unangenehmes anzupacken.

Wunsch und Wille
Ich will ja, aber ich schaffe es nicht. Dahinter steckt oft eine Verwechslung von Wunsch und Wille. Gewiss: Jeder wünscht sich ein besseres Leben und Erfolg in der Zukunft...

Beide beteuern, der Wille sei da, aber sie schaffen es nicht. Beide sind im Irrtum. Der Wunsch ist da, aber nicht der Wille. Im Gegensatz zum Wunsch, der sehnsüch­tig, aber tatenlos nach Erfüllung Ausschau hält, liegt im Willen die Bereitschaft, Widerstände aktiv anzugehen. Wünsche zielen stets auf Angenehmes. Wille nimmt auf dem Weg dorthin Unangenehmes in Kauf.

4. Zumutung und Gerechtigkeit

Der Rat, das Schicksal anzunehmen, wie es ist, ist leicht erteilt; wenn man selbst gerade keine Schicksalsschläge zu verkraften hat. Zwei Gründe gibt es, die dabei zur Demut mahnen.

  1. Das Schicksal kann sehr schmerzhaft sein, oder gar unbeschreiblich grausam. Es ist unklar, ob jeder Mensch dem Himmel das, was er erlitten hat, vergeben kann.
  2. Das Schicksal ist nach menschlichem Ermessen immer wieder ungerecht. An eine endgültige Gerechtigkeit kann nur glauben, wer sich eingesteht, dass er ihre Wege nicht verstehen kann.
Über die Gerechtigkeit des Schicksals kann man streiten, mit dem Schicksal streiten braucht man nicht.

Trifft einer der beiden Gründe zu, wird sich selbst Hiob schwer damit tun, sein Los tatsächlich anzunehmen. Dann kann selbst er es nur ohnmächtig erdulden.

4.1. Betrachtungsebenen

Was dem Einzelnen gerechterweise zuzumuten ist, wird vor dem Hintergrund dessen beurteilt, wofür man ihn hält. Drei anthropologische Kategorien sind üblich:

  1. Der Einzelne ist das, was er jetzt ist.
  2. Der Einzelne ist ein Prozess, der seine Biographie durchläuft.
  3. Die Biographie des Einzelnen ist eine vorübergehende Erscheinung in einem übergeordneten Zusammenhang.

Inwieweit man das Schicksal auch dann annehmen kann, wenn es unerfreulich ist oder gar quält, hängt vom jeweiligen Selbstbild ab. Dessen Typus kann seinerseits den drei genannten Kategorien zugeordnet werden. Je nachdem, welche Kategorie zur Anwendung kommt, sind die Vergleiche, die dem Urteil über die Gerechtigkeit des Schicksals zugrunde liegen, horizontal, biographisch oder transzendent.

4.1.1. Horizontal

Vergleichsebenen

hori­zontal inter­personell
  • A hat, was B nicht hat.
biogra­phisch intra­personell
  • Manches gleicht sich aus.
trans­zendent trans­personal
  • Es geht um mehr.

Beim horizontalen Vergleich wird nur das in die Waag­schale geworfen, was momentan zu genießen oder zu erleiden ist. Da das Leben Wellengang hat, ist das Urteil über die Gerechtigkeit des Schicksals dabei schwankend.

4.1.2. Biographisch

Wird über die Gerechtigkeit des Schicksals erst entschieden, nachdem man biogra­phische Entwicklungen berücksichtigt hat, erscheinen viele Härten in neuem Licht. Die biographische Betrachtung ist teilweise vertikal. Sie vergleicht nicht nur Personen untereinander. Sie sieht den Sinn schicksalhafter Vorgaben innerhalb des individuellen Lebensverlaufs.

Werkzeuge des Schicksals
Möglicherweise gibt es Menschen, die Ihnen Böses wollen; oder zumindest solche, die rücksichtslos sind. Dann gilt es, sich zu wehren. Es ist naiv, Gerechtigkeit von anderen zu erwarten, ohne dass man selbst dafür eintritt.

Voreilig ist es jedoch, die Rücksichtslosigkeit Einzelner dem Schicksal als Ganzem zur Last zu legen. Dass Ihnen der eine oder der andere Böses will, heißt keineswegs, dass Ihr Schicksal es ebenfalls tut. Betrachtet man den Egoismus anderer als Werkzeug eines Schicksals, das im Grundsatz Gutes will, kommt man entschieden weiter. Im kalten Wasser aufzuwachen, ist besser als im Traum zu fordern, dass es wärmer wird. Andere sind nicht verpflichtet, Ihnen gegenüber gerecht zu sein. Sie sind aber berechtigt, sich selbst gerecht zu werden.

4.1.3. Transzendent

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Man schafft es nicht, sich von der Ge­rechtigkeit des Schicksals zu überzeugen, wenn man sie innerbiographisch bilanzieren will: Hildegard starb lebenssatt im Kreise ihrer Enkel. Marianne erlag als Kind der Muko­viszidose. Wem bleibt da das Wort Gerechtigkeit nicht im Halse stecken? Es sei denn, man nimmt abwegige Theorien zu Hilfe, wie die vom alles erklärenden Recht des Stär­keren oder die von der karmatischen Gerechtigkeit über mehrere Existenzen hinweg.

Der Begriff Existenz ist im Bezug zum Jenseits nur Behelf. Das Jenseits existiert nicht, denn Existenz ist eine nachgeordnete Erscheinungsform der Wirklichkeit. Das Jenseits ist wirklicher als das, was bloß existiert.

Neben der Todesangst ist die Lücke der Gerechtigkeit ein mächtiges Motiv, das den Menschen an ein Jenseits glauben lässt, das uns den Sinn der Ungerechtigkeit erklären kann, die nach menschlichem Ermessen in der Welt zutage tritt. Ob es dieses Jenseits gibt, sei hier dahingestellt. Nimmt man seine Existenz aber als gegeben an, ist manche Härte besser zu ertragen.

Die transzendente Betrachtungsweise ist überwiegend vertikal. Ihr Existenzbegriff geht über den Horizont innerweltlicher Vergleichbarkeit hinaus. Selbst wenn sie nicht stimmt, wäre sie die einzige, die die Frage nach der Gerechtigkeit des Schicksals offenlässt, statt an der Absurdität eines Daseins ohne Transzendenz zu scheitern.

Ausgangspunkte

5. Fatum und Verhängnis

Fatalismus

Das handelnde Subjekt ist entrückt.

Akzeptanz des Schicksals

Das handelnde Subjekt bin ich selbst.

Das Schicksal anzunehmen, heißt nicht Gefügigkeit. Der Begriff Fata­lismus, der eine solche Resignation benennt, geht auf das lateinische fatum = der Götterspruch zurück. Er drückt den Gedanken aus, der Ablauf der Geschichte sei von entrückten Entscheidungs­trägern, Göttern nämlich, vorherbestimmt; sodass die Insassen der Geschichte Marionetten sind, die ohnmächtig im Verhängnis fataler Verstrickungen zappeln. Er fußt somit auf einem dualistischen Menschen- und Götterbild. Das verkennt die Struktur der Gegenwart; die überhaupt erst durch die Präsenz des Subjekts definiert wird.

Tatsächlich ist das Schicksal nichts Fremdes, das bloß von außen kommt und uns von dort bestimmt. Der Igel, der immer schon da ist, wenn der Hase kommt, ist man zwar nicht in Person, aber man ist er selbst. Auch das eigene Innere, samt seinen Impulsen und Handlungsmöglichkeiten ist Ausdruck der Wirklichkeit, auf die man trifft.

Das Schicksal anzunehmen, heißt daher unausweichlich, zu sich selbst zu stehen; und als aktiv handelnder Pol in den Ablauf der Dinge einzugreifen. Das kann zu Konflikten mit dem Umfeld führen. Das Schicksal anzunehmen, ist keine Ergebenheit. Es ist auch Kampf.

Ob man aber gerade der Igel ist, der seinem Wesen treu bleibt oder der Hase, der den Igel überholen will, wird man nur wissen, wenn man den Unterschied beachtet.

6. Fehleinschätzung

Das Leben moderner Menschen ist weniger fremdbestimmt als das ihrer Vorfahren. Zum Glück! Heute macht der Staat dem Einzelnen weniger Vorschriften als in früheren Zeiten. Heute hat sich der Mensch durch Wissenschaft und Technologie Freiräume verschafft, von denen er früher nur träumen konnte. Das alles hat eine Kehrseite. Geblendet von den neuen Möglichkeiten und angetrieben von einem Zeitgeist, der behauptet, eigentlich sei jedem alles möglich, unterschätzt der Mensch das Ausmaß schicksalhafter Vorgaben. Das setzt ihn mächtig unter Druck.

Wer glaubt, das Leben sei ein Schauplatz unbegrenzter Möglichkeiten, lädt sich eine erdrückende Verantwortung auf, oder er verurteilt sich dazu, andere zu beschuldigen. Läuft sein Leben anderes als erwünscht, hat er zwei Erklärungsmöglichkeiten:

Anerkennt man stattdessen, wie groß der Einfluss schicksalhafter Kräfte ist, die von außen das Denken, Handeln und Können einer jeden Person beeinflussen, wird man weder sich selbst noch anderen so viel Verantwortung für die eigenen Taten zuweisen, dass ein mildes Urteil unmöglich wird.

So mag es stimmen, dass der Mensch keine Marionette entrückter Mächte ist, als Person ist er aber soweit ihr Werkzeug, wie er als er selbst deren Ausdruck ist.