Aggression


  1. Begriffsbestimmung
  2. Formen und Stufengrade
  3. Ursachen
  4. Störungen des Aggressionsausdrucks
  5. Umgang mit aggressiven Impulsen
Der beste Schutz vor Hass ist Selbst­erkenntnis. Wer sich erkennt, erkennt auch, dass es keinen Grund zum Hassen gibt.

Das, worüber Sie sich ärgern, ist nicht der Grund, warum Sie es tun.

1. Begriffsbestimmung

Der Begriff Aggression geht auf das lateinische Verb aggredi = heran­schreiten, angreifen zurück. Aggredi ist eine Zusammensetzung aus ad = heran, hinzu und gradi = gehen. Die Grundform der Aggression ist eine Bewegung, die den Aggressor an ein Objekt herantreten lässt. Der Aggressor tritt an das Objekt heran, auf das er einwirken will.

Der feindselige Aspekt der Aggression, der bei der üblichen Verwendung des Begriffs mitgedacht wird, ist in der eigentlichen Wortbedeutung nicht ausdrücklich erwähnt. Bei der Bewertung des aggressiven Impulses ist zwischen konstruktiven und destruktiven Ausdrucksarten zu unterscheiden. Aggression ist Grundlage der Tatkraft. Eine grundsätzliche Blockade der Aggression macht das menschliche Leben unmöglich. Erst wenn die eingesetzte Kraft zerstören soll, wird Aggression bedenklich. Dann ist ihr Einsatz besonders zu bedenken.

Gewalt
Die Vorsilbe Ge- benennt eine Versamm­lung. Das Verb walten entspringt der indoeuropäischen Wurzel ual-dh = stark sein, beherrschen. Ein zeitgenössischer Abkömmling findet sich im litauischen valdyti = regieren. Der Begriff Gewalt zeigt eine Bündelung waltender Kräfte an. Gewaltausübung ist ein umfassender Einsatz aggressiver Handlungsimpulse zum systema­tischen Aufbau von Herrschaftsverhältnissen.
1.1. Varianten
Wut wehrt ab. Hass verfolgt.

Im gedanklichen Umfeld der Aggression finden sich Begriffe, die verschiedene Aspekte und Ausdrucksarten des aggressiven Impulses bezeichnen: Aktivität, Eifer, Ärger, Wut, Zorn, Hass und Gewalt.

2. Formen und Stufengrade

Aggression als Grundmuster einer offensiven, anpackenden Herangehensweise ist ein unverzichtbares Potenzial des Lebens. Ein aggressionsfreies Dasein ist kaum denkbar. Jede Bereitschaft, das Leben aktiv zu gestalten, bedarf des Impulses, an das heranzutreten, was man gestalten will. Selbst ein Bettelmönch tritt an den heran, von dem er Almosen erbittet.

Die verschiedenen Abstufungen der Aggression gehen fließend ineinander über. Sie unterscheiden sich jedoch erheblich in ihrem Wesen sowie ihren psychologischen und sozialen Folgen. Die entscheidende Trennlinie verläuft dabei zwischen dem konstruktiven und dem destruktiven Potenzial. Eine Tabelle zeigt Unterschiede im Überblick.


Stufe Qualität
Aktivität Der aktive Mensch geht gemäß innerer und äußerer Notwendigkeit an die Dinge heran. Hindernissen gegenüber bleibt er gelassen. Er sucht pragmatisch nach einer Lösung oder begnügt sich mit einem Ausweg.
Eifer Der eifrige Mensch wird nicht von bloßen Notwendigkeiten geleitet. Er verfolgt ein Ziel, dem er besonderen Wert beimisst. Dementsprechend verstärkt er vor Hindernissen seinen Eifer. Kann er sie damit nicht überwinden, sucht er einen Umweg. Mit einem Ausweg, der ihn vom Ziel entfernt, gibt er sich nicht zufrieden.
Ärger Mit dem Ärger kommt erstmals ein feindseliger Aspekt auf. Vor dem Hindernis staut sich aggressive Energie. Das Hindernis wird nicht mehr nur als Hürde empfunden, die es im Eifer zu überspringen gilt, sondern als Störfaktor, der etwas tut, was ihm nicht zusteht.
Zorn Im Zorn steht die Empörung über die Unbotmäßigkeit des Hindernisses im Vordergrund. Der zornige Mensch verliert dabei das eigentliche Ziel aber nicht aus den Augen. Im Zorn bleibt die Aggression kontrolliert und zielgerichtet. Ist das Ziel des Zornes eine andere Person, wird deren Wert im Grundsatz anerkannt.
Wut Der wütende Mensch fühlt sich vom Hindernis bedroht. Er mobilisiert alle Kraft, um sich das Bedrohliche vom Leibe zu halten. Solange er wütet, wird er von seiner Aggression beherrscht. Ist das Ziel seiner Wut eine andere Person, wird deren Wert im Affekt übersehen. Ist das Hindernis abgewehrt, löst sich die Wut wieder auf.
Hass Wut geht in Hass über, wenn die aufwallende Wut das Hindernis oder die Bedrohung durch eine andere Person nicht beseitigen kann. Im Hass wird der Wert des Feindes abgeleugnet. Während Wut ablässt, wenn der Feind sich zurückzieht, setzt Hass dem Feind nach. Im Kampf gegen das "Böse" wird der eigene Schaden dabei oft in Kauf genommen.

Grundregel

Je heftiger die Aggression, desto mehr verliert der Aggressor sich selbst aus dem Blick. Je mehr er sich im Blick behält, desto moderater (lat. moderare = ein Maß setzen) ist der Ausdruck seiner Aggression. Er kann die eingesetzte Kraft dosieren.

2.1. Kalte Aggression

Eine Sonderform fremdaggressiven Verhaltens kann als kalte Aggression bezeichnet werden. Während die Abstufungen vom Ärger bis zum Hass als Gefühle wachsender Intensität bewusst werden, kann massive Aggression auch unter Abspaltung des Gefühls ausgeübt werden. Die Aggression wird nicht als solche erlebt, sondern als vermeintliche Notwendigkeit rationalisiert. Die Palette der Taten reicht dabei von der Vollstreckung banaler Verwaltungsvorschriften bis zur Vernichtung ganzer Völker im Auftrag heilsversprechender Weltanschauungen.

2.2. Kontrapunkt: Regression
Genügsam ist nur, wer sich selbst genügt. Wer Rivalitäten vermeidet, weil er sich vor Niederlagen fürchtet, ist anspruchsvoll. Tatsächlich zurück tritt nicht der, der auf etwas vermeintlich Wertvolles verzichtet, sondern der, der das wirklich Wertvolle gefunden hat.

Regression ist der Gegenpol zur Aggression. Regredieren heißt zurücktreten. Wer sich regressiv verhält, überlässt anderen das Feld. Er bleibt passiv, wartet ab und verzichtet darauf, eigene Impulse einzubringen. So trifft er nicht auf äußere Hindernisse. Er vermeidet Konflikte und das Risiko, durch Konflikte Niederlagen zu erleiden.

Hemmungen
Die Vorsilbe ad = heran, mit der der Begriff Aggression anhebt, ist bemerkenswert. Ein Vergleich von Vorsilben, die sich mit gradi = gehen verbinden, macht das klar.

Während man bei der Regression und der Progression niemandem zu begegnen braucht, ist es bei der Aggression anders. Sie ist die psychomotorische Grundlage der Kontaktaufnahme. Wer Kontakt aufnimmt, tritt an den Anderen heran. Tut er es konstruktiv, bietet er dem Anderen eine Beziehung an. Das erklärt, warum Hemmungen des aggressiven Ausdrucks nicht nur zu Wehrlosigkeit führen, sondern auch zu sozialer Ängstlichkeit und Isolation. Wer Hemmungen hat, findet schwer Kontakt. Ohne den Zündfunken der konstruktiven Aggression bestünde die Menschheit aus Einzelgängern.

2.3. Passive Aggression

Genau betrachtet ist bei weitem nicht alles, was regressiv erscheint, ein wirklicher Verzicht. Was auf Aggression zu verzichten scheint, ist oft eine Lebensstrategie, die den Zugriff durchaus betreibt, zu deren Methode es aber gehört, offene Konflikte mit dem Umfeld zu vermeiden; und stattdessen Schleichwege zu gehen.

Dabei bedient sich der Zugriff scheinbar passiver Mittel, entweder um den eigenen Vorteil zu sichern oder um dem Anderen zu schaden. Dient die passive Aggressivität dem eigenen Vorteil, bleibt sie im Grundsatz konstruktiv. Betreibt sie den Nachteil des Anderen, ist sie destruktiv und kann eine Spielart des Hasses sein.

Beispiele passiver Aggression

Regression und passive Aggression gehören zum Repertoire so gut wie aller Menschen. Als Lebensstrategie ist passive Aggression jedoch ein Muster, das bei bestimmten Persönlichkeitsvarianten gehäuft vorkommt. Zu nennen sind:

... und insbesondere die...

Ob passive Aggression als moralisch wertvoll oder unsolidarisch empfunden wird, hängt von vielen Umständen ab. Einen Auftrag nicht auszuführen, kann je nach Lage der Dinge Tugend oder Laster sein. Wie bei jeder Form von Aggression kommt es darauf an, ob und wem sie nützen oder schaden soll.

Passiver Widerstand
Im Grundsatz ist passiver Widerstand eine Form passiv-aggressiven Verhaltens. Er ist aggressiv, weil er etwas bewirken will. Er ist passiv, weil er nicht gegen den Gegner vorrückt, sondern dessen Vorrücken behindert. Passiver Widerstand kann zweierlei sein:
  1. ein Mittel Ohnmächtiger um den Zugriff Mächtiger abzuwehren
  2. ein Mittel Mächtiger um Ohnmächtige in Ohnmacht zu halten

Da man ungeachtet seiner Persönlichkeitsstruktur dem Zugriff Mächtiger zum Opfer fallen kann oder als Mächtiger Macht verteidigt, ist die Taktik des passiven Widerstands gegebenenfalls kein psychologisches Abwehrmanöver, sondern ein Werkzeug gesellschaftlicher Konkurrenz.

2.3.1. Eskalation

Auf passiv-aggressives Verhalten reagiert man oft mit eigener Aggression. Ständiges Zuspätkommen, Mogeln, Ausweichen und die Nichteinhaltung getroffener Absprachen sind bestens geeignet, beim Gegenüber Ärger auszulösen. Das Gegenüber versucht durch seine Wut, den Passiv-Aggressiven zu mehr Verlässlichkeit zu zwingen. Das Wechselspiel aus passiver Aggression und manifester Gegenaggression entspricht einem spezifischen Abwehrmechanismus: der projektiven Identifikation.

Pochen Sie darauf, dass Absprachen eingehalten werden? Wo immer es geht: Tun Sie es nicht. Ansprüche, auf deren Erfüllung Sie pochen, liefern sie den Entscheidungen anderer aus. Das ist keine gute Ausgangsposition. Halten Sie stattdessen nach Möglichkeiten Ausschau, Ihre Ziele zu erreichen, ohne dazu unzuverlässige Leute einzubinden. Wenn sich jemand dazu entscheidet, Absprachen nicht einzuhalten, ist das sein gutes Recht. Aber es ist Ihr Recht, darauf problemlösend zu reagieren. Oft liegt die Lösung solcher Probleme in der Auflösung solcher Beziehungen.

Indem der Passiv-Aggressive die eigene Aggression durch vermeintlich schuldloses Nichtkönnen ummäntelt, begünstigt er beim Gegenüber genau den Impuls, den er bei sich selbst nicht wahrhaben will: Aggression. Die Aggression des Gegenübers dient ihm zugleich als Rechtfertigung der eigenen Methode: Wenn man so unter Druck gesetzt wird, ist es doch wohl rechtens, sich zu entziehen.

Die Eskalation entsprechender Konflikte lässt sich vermeiden, wenn man auf passiv-aggressives Verhalten nicht mit erzieherischer Aggression reagiert, sondern mit pragmatischen Maßnahmen, um sich davor zu schützen.

2.4. Autoaggression

Ein wesentlicher psychologischer Mechanismus ist die Wendung der Aggression gegen sich selbst. Autoaggressive Akte kann man zwei Kategorien zuordnen:

  1. Suizidalität oder Selbstverletzung bei anerkannter Psychopathologie

    Bei schwerwiegenden seelischen Erkrankungen ist die Furcht, sich die Sympathie des Umfelds zu verscherzen oft so groß, dass der Kranke sich weder gegen die Erwartungen anderer abgrenzt, noch den Mut hat, eigene Bedürfnisse offen zu vertreten. Resultat ist eine Anhäufung aggressiver Energie. Da die Äußerung dieser Impulse erst recht zu Konflikten mit dem Umfeld führen kann, braucht der Kranke immer mehr Kraft, um sie zu bändigen.

    Durch die Selbstverletzung kann ein Teil der aufgestauten Aggression so entladen werden, dass sich das Umfeld nicht angegriffen fühlt. Der Kranke braucht keine Zurückweisung zu fürchten. Im Gegenteil: Die blutende Wunde zieht Mitleid, Interesse und Zuwendung an.

    Nicht jede Suizidalität ist autoaggressiv. Das Motiv eines Bilanzselbstmordes bei unheilbarer Krankheit kann Fürsorge sein.

    Bei der Suizidalität ist die Autoaggression so radikal, dass sie zum Tode führt.

    Zu den Krankheiten mit hohem autoaggressivem Potenzial gehören Depressionen, Psychosen und schwere Persönlichkeitsstörungen; z.B. vom Borderline-Typ.

  2. Autoaggressive Grundhaltung als selbstentwertendes Abwehrmuster

    Meist versucht das Ich zwei Göttern zu dienen: Sich selbst, so wie es als faktische Realität in der Wirklichkeit steht und dem Selbstbild, also der Vorstellung, die es davon hat, wie es angeblich sein sollte.

    Eine Normopathie ist ein krankhafter Selbstbezug, der den gesellschaftlichen Normen so sehr entspricht, dass er nicht als krankhaft erkannt wird.

    Der Kampf gegen unliebsame Gefühle ist einer der am weitesten verbreiteten autoaggressiven Mechanismen. Kaum jemand hat den Mut, allen Gefühlsqua­litäten, die er in sich findet, friedfertig zu begegnen. Viele beklagen Unzu­friedenheit. Wenige schließen Frieden.

    Frieden schließt nur, wer sich annimmt, wie er ist.

    Das Selbstbild ist ein individuelles Konstrukt, das durch gesellschaftliche Normen, die Erwartungen des persönlichen Umfelds sowie die Wünsche, Hoffnungen und Ängste des Individuums erschaffen wird.

    Zwischen Selbst und Selbstbild bestehen oft große Unterschiede. Identifiziert man sich vorwiegend mit dem Selbstbild, hat man alle Hände voll damit zu tun, unerwünschte Aspekte seiner selbst zu bekämpfen. Dazu setzt man je nach Temperament unterschiedliche Kombinationen von Abwehrmechanismen ein.

    Orientiert sich das Selbstbild stark an gesellschaftlichen Konventionen, leidet man an einer autoaggressiven Normopathie.

3. Ursachen

Bei den Ursachen der Aggression sind zu unterscheiden:

  1. die Ursache der konstruktiven Aggression von den Ursachen der destruktiven
  2. biologische, soziale, politische und psychologische Ursachen der destruktiven Aggression
3.1. Ursache konstruktiver Aggression
Verzicht ist eine wichtige Tugend; wenn er der Freiheit dient... und man nicht meint, dass er von anderen belohnt werden sollte.

Was ziemlich viel schaden kann: So zu tun, als ob man nichts haben will.

Die Ursache der konstruktiven Aggression liegt im evolutionären Vorteil, der einem Lebewesen zukommt, das auf Nahrungsquellen, Lebensräume und Geschlechtspartner zugehen kann. Auf die genannten Ressourcen kann das Gürteltier ebenso zugehen wie der Mensch. Dem Menschen hat die konstruktive Aggression weitere Ziele beschert, zum Beispiel: Wissensquellen, Erlebnismöglichkeiten und die Resultate analytischen Denkens.

Hier wird die eigentliche Bedeutung des Begriffes Aggression deutlich. Das konstruktiv-aggressive Lebewesen tritt aktiv an das heran, was seinem Erfolg im Leben dient. Es wartet nicht nur ab, ob ihm Nützliches zufällt.

Konstruktive Aggression, also Tatkraft, Initiative und Engagement, kann durch gesellschaftliche Faktoren gefördert oder ausgebremst werden. Fördernd wirken:

3.2. Ursachen destruktiver Aggression

Als Ursache destruktiver Aggression ist kaum je ein einzelner Faktor zu benennen. Je nachdem, aus welcher Perspektive man den destruktiven Akt betrachtet, wird eine jeweils spezifische Mischung verschiedener Wirkkräfte erkennbar.

3.2.1. Biologische Ursachen

Lebewesen, die zu konstruktiver Aggression im Stande sind, geraten miteinander in Konflikt. Im Rahmen biologischer Konkurrenz kann der aufbauend-konstruktive Aspekt der Aggression in ein destruktives Muster übergehen.

Beim Schlagen der Beute bleibt die Aggression des Löwen konstruktiv. Ziel ist nicht die Vernichtung des Beutetiers, sondern der Aufbau des eigenen Körpers. Übernimmt ein männlicher Löwe jedoch ein Rudel und tötet die Nachkommen seines Vorgängers, wird dem konstruktiven ein destruktives Element beigemischt.

Nicht nur Löwen, auch Menschen konkurrieren miteinander um biologische Ressourcen. Dabei bilden sie Gemeinschaften, zu deren Repertoire die gezielte Vernichtung konkurrierender Gruppen gehören kann.

Egozentrische Interessen verleiten auch den Einzelnen dazu, andere absichtlich zu schädigen.

3.2.2. Soziale und politische Ursachen

Innerhalb menschlicher Gemeinschaften bestehen politische Machtgefälle und soziale Rangstufen. Beidem entspringt die Gefahr der Entwertung, Entmündigung und Ausgrenzung rangniederer Individuen. Alle drei Faktoren gefährden die Erfüllung seelischer Grundbedürfnisse:

Bleiben die genannten Bedürfnisse durch soziale und politische Asymmetrien unerfüllt, reagieren benachteiligte Individuen mit gesteigerter Aggression, die, wenn sie keine konstruktiven Erfolgsaussichten sieht, in destruktive Gewaltbereitschaft umschlägt. Destruktive Impulse können sich gegen die Ursachen der sozialen Verwerfung richten, gegen Dritte im Sinne einer Verschiebung oder als Autoaggression gegen das benachteiligte Individuum selbst.

Wohin auch immer sich die Aggression wendet, als Grundregel kann gelten: Je mehr eine gesellschaftliche Ordnung die Individualität ihrer Mitglieder missachtet, desto mehr destruktive Aggression bringt sie hervor.

Stellungnahme
Die repräsentative Demokratie verliert ihre Unschuld. Sie herrscht zunehmend von oben herab. Hinter verschlossenen Türen werden von Leuten Beschlüsse gefasst, die von dem, über das sie bestimmen, nur wenig wissen. Der Bürger wird dabei nicht befragt. Indem das Parteien­system dem Einzelnen bei politischen Entscheidungen echte Mitbestimmungsrechte aberkennt, wird es selbst zu einer Ursache des Ärgers, die sich durch Über­wachung, Dekret und Sanktionen gegen wachsenden Unmut verteidigt.
3.2.3. Psychologische Ursachen

Individualpsychologische Ursachen destruktiver Aggression

Angst Etwas könnte mir schaden.
Gier Angst, nicht genug zu bekommen
Neid Angst, schlechter als andere dazustehen
Eifersucht Angst, jemanden zu verlieren
Geiz Angst, etwas verlieren
Ehrgeiz Bestreben, andere zu übertrumpfen

Ohne eine entsprechende Dynamik auf psychologischer Ebene wären weder soziale noch politische Faktoren wirksam. Daher ist die Bewertung gesellschaftlicher Strukturen nur vor dem Hintergrund der psychologischen Grundbedürfnisse sinnvoll.

Die psychologischen Grundbedürfnisse sind vorindividuell. In ihre psychosoziale Dynamik ist jeder verstrickt. Weitere Ursachen destruktiver Aggressivität sind in den individuellen Ängsten des jeweils Einzelnen zu finden. Im Grundsatz gilt:

Die Dynamik destruktiver Impulse hängt stark von den Grundmustern der jeweiligen Persönlichkeit ab. Manche halten destruktive Aggressionen gezielt zurück, andere leben sie bedenkenlos aus. Folgende Tabelle gibt einen Überblick.

Persönlichkeitsvarianten und ihr Umgang mit Aggression

Variante Ausrichtung Dynamik
Paranoide Persönlichkeit offensiv Projiziert destruktive Aggression auf das Umfeld. Fühlt sich in der Konsequenz zur Gegenaggression berechtigt.
Schizoide Persönlichkeit defensiv Erlebt soziales Umfeld als störend. Hält aggressive Impulse zurück um Kontakt zu vermeiden.
Dissoziale Persönlichkeit offensiv Sieht Umfeld als Beute. Nutzt destruktive Aggressivität bedenkenlos, um sich Vorteile zu verschaffen.
Emotional-instabile Persönlichkeit vom Borderline-Typ wechselhaft
teils autoaggressiv
Schwankt zwischen Verdrängung und Ausagieren aggressiver Impulse. Wendet sie oft gegen sich selbst.
Emotional-instabile Persönlichkeit vom impulsiven Typ wechselhaft Schwankt zwischen Verdrängung und Ausagieren aggressiver Impulse.
Histrionische Persönlichkeit uneinheitlich Umgang mit Aggression hängt stark vom situativen Zusammenhang ab.
Zwanghafte Persönlichkeit offensiv Erlebt Aggression oft nicht als solche. Übt Aggression als Kontrollbedürfnis aus. Herrscht über das Umfeld mittels vermeintlich unverzichtbarer Regeln.
Ängstlich-vermeidende Persönlichkeit defensiv
passiv-aggressiv
Deutet die Wirklichkeit als aggressiv und gefährlich. Vermeidet Situationen, die Eigenaggressivität erfordern. Vermeidet den Ausdruck eigener Aggression um Gegenaggressionen zu umgehen.
Abhängige Persönlichkeit regressiv
passiv-aggressiv
Übernimmt Rolle des braven Kindes. Vermeidet Ausdruck eigener Aggression. Unterstellt sich dem Schutz aggressiver Stellvertreter.
Narzisstische Persönlichkeit offensiv Kämpft konstruktiv um soziale Positionen und/oder destruktiv gegen Konkurrenz.
Dysthymie / Depressive Persönlichkeit autoaggressiv
passiv-aggressiv
Ordnet sich unter. Richtet die Wut über das Untergeordnetsein gegen sich selbst. Erwartet Lohn für den geleisteten Verzicht. Entwickelt neue Wut, wenn der Lohn ausbleibt.
Passiv-aggressive Persönlichkeit passiv-aggressiv Weicht aus. Lässt auflaufen. Findet rationale Gründe Erwartungen des Umfelds unerfüllt zu lassen.
Multiple Persönlichkeit uneinheitlich Agiert Teilpersönlichkeiten aus, die mal regressiv, mal offensiv, mal defensiv, mal passiv-aggressiv handeln.
Schizotype Persönlichkeit defensiv Schirmt sich durch sozial inkompatibles Weltbild ab.

3.2.4. Angst, Wut und Identität
Das Ich im normalen Modus des Bewusstseins ist latent paranoid.

Im Regelfall identifiziert sich das Ich mit der Person, aus deren Perspektive es die Bühne der Welt betritt. Das normale Ich geht davon aus, dass es als separate Einheit einer Welt begegnet, mit der es nicht wesenhaft verbunden ist. Aus dieser Perspektive erlebt es sich als stets bedroht. Es weiß, dass es als Person der Übermacht der Welt unterliegen wird. Aus der Angst heraus, dass die Welt es über kurz oder lang zerstören wird, entwickelt es destruktive Aggression.

Erst wenn sich das Ich vollständig aus der Identifikation mit der Person und damit seinem Ego löst und sein Selbst als die Wirklichkeit auffasst, aus der seine Person hervorgeht, geht seine Angst soweit zurück, dass ihr keine destruktive Aggressivität mehr entspringt.

Wut als Abwehrmechanismus

Wut mobilisiert die Kräfte des Organismus. Mobilisierte Kräfte vermitteln dem Wütenden das Gefühl, der Welt gegenüber nicht wehrlos und ausgesetzt zu sein, sondern ihr etwas, nämlich mobilisierte Kraft, entgegensetzen zu kön­nen. Viele Menschen, die sich ständig über Dinge ereifern, auf die sie keinen Einfluss haben, nutzen genau diesen Effekt, um die unliebsame Erkenntnis abzuwehren, wie ohnmächtig sie tatsächlich der Welt gegenüberstehen.

Wut, die die Psyche dazu einsetzt, um sich vor Selbsterkenntnis zu schützen, ist verschwendete Kraft.

Sollten Sie oft wütend sein und gedanklich immer wieder zu Themen zurück­kehren, gegen die sich Ihre Wut aufbäumt, dann könnte es sein, dass auch Sie sich dieses Effektes bedienen. Fragen Sie sich: Was würde ich fühlen, wenn die Wut weg wäre? Halten Sie genau diesem Gefühl stand. Es anzunehmen, wird Sie vom Zwang befreien, gegen Dinge zu wüten, auf die Sie keinen Einfluss haben.

4. Störungen des Aggressionsausdrucks

Stellen Sie sich einen Sportler vor, der unfähig wäre, aggressive Impulse umzu­setzen. Aufs Siegertreppchen käme er nicht.

Apropos Sport

Sport setzt motorische Impulse um. Wir erinnern uns: Aggredi heißt herantreten. Auch das ist motorischer Impuls, der dazu dient, etwas zu bewegen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Sport heilsame psychologische Effekte hat. Sport ermöglicht es, aggressive Impulse kanalisiert und konstruktiv auszuleben. Neben dem Training der Muskulatur ist er daher auch eine Investition in seelisches Wohlbefinden.

Eine Störung des Ausdrucks destruktiver Aggression gibt es nicht. Destruktive Aggression ist vielmehr selbst eine Störung des seelischen Gleichgewichts. Umso mehr kann aber der Ausdruck konstruktiver Aggression gestört sein. Das kann schwerwiegende psychopathologische Symptome hervorrufen.

Exemplarisch kann die Depression als Folgeerscheinung eines blockierten Aggressionsausdrucks verstanden werden. Der Depressive ist depressiv, weil er das Leben nicht mehr anpackt... und er packt das Leben nicht mehr an, weil er depressiv ist. Depression ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus der Entmutigung.

Der energetische Gegenpol zur Depression ist die Manie. Der Maniker ist bester Dinge, gerade weil sein Aggressionsausdruck enthemmt ist. Bei der milden Form, der sogenannten Hypomanie, bleibt die Enthemmung moderat. Der hypomanisch gestimmte Mensch ist über seinen Zustand höchst erfreut, weil er die Angst verloren hat, die ihn bislang daran hinderte, unbefangen auf all das Schöne zuzugehen, was das Leben bietet. Stößt die Hoffnung, dass von jetzt ab alles zu haben ist, auf Hindernisse, kann die konstruktive Aggression in destruktive umschlagen.

Auch bei Erkrankungen, bei denen Ängste im Vordergrund stehen, sind Störungen des Aggressionsausdrucks Ursache wie Folge.

Nicht selten werden Störungen des Ausdrucks konstruktiver Aggression durch kulturelle Wertvorstellungen hervorgerufen, die das Individuum programmatisch entwerten.

5. Umgang mit aggressiven Impulsen

Aggressive Gefühle sind unangenehm. Man wäre sie am liebsten wieder los. Man kann sie verdrängen oder Dampf ablassen, indem man sie auslebt. Oft schadet man sich damit selbst.

Gemäß genannter Grundregel, verliert man sich selbst umso mehr aus den Augen, je destruktiver die Aggression ist, die man einsetzt. Je mehr man sich und damit das eigene Wohl aber aus den Augen verliert, desto größer ist die Gefahr, dass man sich als Folge ausgelebter Aggression selber schadet.

Die Dynamik ist umso schädlicher, je einseitiger man die Ursache des erlebten Impulses dem Umstand zuschreibt, gegen den sich die Aggression richtet. Man denkt:

Schreibt man anderen aber die Macht zu, über die eigenen Gefühle zu bestimmen, schürt das die Aggression noch mehr. Man sieht die Autonomie seiner Person erst recht infrage gestellt.

Man löst sich aus diesem Kreislauf, indem man Gefühle nicht als Werk von Widersachern deutet, sondern versteht, dass sie eine Reaktion auf deren Sosein sind. Also:

Niemanden, den man hasst, hasst man nur, weil er so ist, wie er ist. Wer hasst, hasst auch sich selbst, weil er sich nicht annehmen will, wie er tatsächlich ist: zerbrechlich und ausgesetzt. Jeder Hass gegen andere ist auch ein Nein zu sich selbst.

Änderung der Sichtweise

Betrachten Sie Wut als einen Ausdruck Ihrer Energie. Lassen Sie Dampf nicht ab, als sei er bloß eine lästige Störung der Gemütlich­keit. Erfühlen sie Aggression als Element Ihres seelischen Potenzials. Halten Sie still, damit ihre Kraft Sie befruchtet.

Sobald die Kraft der Wut auf Sie überge­gangen ist, kommt die Gelassenheit zurück. Die Gelassenheit nach tatenlos erlebter Wut zeigt an, dass Sie die Energie der Aggression absorbiert haben. Dann gilt es zielstrebig zu handeln.