Bedürfnisse


  1. Begriffsbestimmung
  2. Einteilung
  3. Unerfüllte Bedürfnisse
Wer verzichten kann, gewinnt. Es ist gefährlich, sein Selbstwertgefühl an Ansprüche zu koppeln.

Je wesensnäher ein Bedarf ist, desto eindeutiger ist das Anrecht des Bedürftigen auf Erfüllung.

1. Begriffsbestimmung

Im Begriff Bedürfnis findet man die Vorsilbe be- (siehe auch) und das Verb dürfen.

Be- ist eine tonlose Form der Präposition bei. Sie entspringt dem althochdeutschen , das seinerseits auf den indoeuropäischen Stamm ambhi = um... herum zurückgeht. Aus dem indoeuropäischen um... herum ist im Deutschen ein nahe bei geworden.

Vorkommen und Funktion der Vorsilbe bei

Beispiel nebenbei Erzähltes (althochdeutsch spel = Erzählung), das einer Aussage beigefügt wird
beistehen in der Nähe bleiben um zu unterstützen
beispachteln der Lücke Spachtelmasse nahebringen
beilegen, beifügen einer Menge etwas zufügen

Die Vorstellung einer topographischen (bei Köln, bei den drei Eichen, beim Hüttenwirt) oder einer Nähe im übertragenen Sinn kommt beim adverbialen Gebrauch des Begriffs bei zum Ausdruck:

Das Zeitwort dürfen zeigt eine Erlaubnis an. Wer etwas tun darf, dem ist es gestattet, genau das zu machen: ein Recht in Anspruch zu nehmen, ein Grundstück zu nutzen, den Kühlschrank zu plündern, zur Toilette zu gehen.

Ein Bedürfnis ist dem Bedürftigen beigelegt. Es kommt ihm nicht erst von außen zu. Ein Bedürfnis benennt folglich ein Anrecht, dessen Erfüllung dem Bedürftigen umso mehr zusteht, je mehr die Erlaubnis zur Erfüllung seinem Wesen nahe kommt. Das heißt: Je unabdingbarer die Befriedigung eines Bedarfes ist, damit der Bedürftige sein Wesen erfüllen kann, desto legitimer ist der Anspruch und desto unwidersprechbarer das Recht des Bedürftigen, seinen Bedarf anzumelden.

Der Fuchs und die Mahlzeit

Nachdem der Fuchs die Gans verzehrt hatte, war sein Bedürfnis gestillt. Da kam ihm der Wunsch auf ein paar Trauben in den Sinn, sodass er seinen Bau verließ und zum Wingert nach Neustadt zog. Ob sein Wunsch in Erfüllung ging oder ob er sich vornahm, nach der nächsten Gans ein Nickerchen zu machen, ist nicht überliefert. Der Volksmund meint, seine Beine waren zu kurz. Vielleicht hat er vom Winzer auch Prügel bezogen.

Nahrung ist ein existenzielles Bedürfnis, weil der Ernährungsbedarf so eng mit dem Wesen Mensch verknüpft ist, dass er ohne dessen Erfüllung nicht sein könnte. Auch das Verrichten der Notdurft ist nichts, was man einem Organismus zu Recht verwehren dürfte.

Wünsche

Wenn vom Bedürfnis die Rede ist, bedarf es der Erwähnung des Wunsches. Sprachgeschichtlich entspringt Wunsch dem Verb gewinnen. Gewinnen geht auf die indoeuropäische Wurzel uen[ə]- = umherziehen, nach etwas trachten zurück.

Das ist logisch: Wer etwas wünscht, trachtet danach, es zu gewinnen. Wie der Bedürftige sucht er nach einem Erwerb, der ihm als Vorteil erscheint. Die Ähnlichkeit zwischen Wunsch und Bedürfnis führt dazu, dass beide zuweilen kaum zu unterscheiden sind.

Wunsch und Bedürfnis sind trotzdem zweierlei. Man kann zwar wünschen, dass ein Bedürfnis befriedigt wird, nicht jeder Wunsch bedarf aber der Erfüllung.

Vom Bedürfnis wissen wir, dass seine Erfüllung dem Bedürftigen logisch zusteht, da er sein Wesen nur bei erfülltem Bedürfnis ungehindert zum Ausdruck bringen kann. Beim Wunsch ist das anders. Jedem steht frei, sich alles zu wünschen, was ihm einfällt. Während die Logik der Sprache beim Bedürfnis auf Seite des Bedürftigen steht, bleibt sie bei den Wünschen des Wünschenden neutral.

2. Einteilung

Man ist zufrieden, wenn die Wirklichkeit mit dem übereinstimmt, was man fürs Zufriedensein notwendig hält. Zufriedenheit hängt mehr von Erwartungen, Selbstbild und Ausmaß subjektiv empfundener Bedürfnisse ab als von realen Fakten. Der eine kann über einen Teller Nudeln glücklich sein. Ein anderer verzehrt sich aus Angst um seine Millionen.

Bedürfnisse können in drei Gruppen unterteilt werden:

  1. elementare bzw. existenzielle Bedürfnisse
  2. situative Bedürfnisse
  3. narzisstische Bedürfnisse

Bedürfnisse im Überblick

biologisch elementar psychologisch elementar situativ narzisstisch
Bestimmt von dem... was man biologisch ist. was man psychologisch ist. was man tut. was man gerne wäre.
Erfüllung ermöglicht das... Sein Wohlbefinden Handeln / Werden Gelten
Individuelle Variabilität gering hoch abhängig von persönlicher Aktivität abhängig vom Bedürfnis nach Bestätigung
Psychologische Problematik gering groß gering groß

Die Einteilung der Bedürfnisse in drei Gruppen ist nur ein grobes Raster. Die Eingruppierung mancher Bedürfnisse hängt vom Alter ab. So kann dem Bedürfnis nach Bestätigung beim Kind elementare Bedeutung zugesprochen werden, während man es bei Erwachsenen als zunehmend narzisstisch empfindet.

2.1. Elementare Bedürfnisse

Elementare Bedürfnisse

Selbst wenn es Asketen gibt, die auch dann zufrieden sind, wenn sogar der Teller Nudeln ausbleibt, gilt das für uns normale Menschen nicht. Offensichtlich gibt es Bedürfnisse, auf deren Erfüllung man ohne besondere seelische Bereitschaft nur schwer verzichten kann. Solche Bedürfnisse hängen nicht von Erwartungen oder unserem Selbstbild ab. Sie werden durch biologische Fakten vorgegeben. Nennen wir sie daher biologisch elementar.

Biologisch elementar sind der Teller Nudeln, das Dach über dem Kopf, die Luft zum Atmen, das Hemd in der Hose und genügend Schlaf. Biologisch elementar sind all jene Bedürfnisse, die mit der Sicherung der leiblichen Existenz zusammenhängen. Da das Notwendige zur Sicherung der leiblichen Existenz bei gesunden Menschen fast identisch ist, ist die individuelle Streubreite der biologischen Grundbedürfnisse gering.

Es sind aber nicht alle gesund. Daher gehört zu den elementaren Bedürfnissen auch die medizinische Versorgung im Krankheitsfall. Da der Bedarf an medizinischer Hilfe extrem unterschiedlich sein kann, ist die Streubreite dieses Teilbedürfnisses groß. Seine Sicherstellung für alle in einem wirtschaftlich vertretbaren Rahmen kann nur ein solidarisches Gesundheitssystem gewährleisten.

Neben den biologisch elementaren Bedürfnissen gibt es eine zweite Gruppe: psychologisch elementare Bedürfnisse. Die Erfüllung psychologisch elementarer Bedürfnisse ist zwar nicht zur Aufrechterhaltung der leiblichen Existenz erforderlich, wohl aber zur Gewährleistung seelischen Wohlbefindens. Zu den psychologisch elementaren Bedürfnissen gehören:

  1. die psychologischen Grundbedürfnisse (Zugehörigkeit und Selbstbestimmung)
  2. sexuelle Bedürfnisse
2.1.1. Psychologische Grundbedürfnisse

Als elementar sind zwei seelische Bedürfnisse aufzufassen; jene, die dem psycholo­gischen Grundkonflikt entsprechen: das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und das nach Zugehörigkeit.

Psychologische Grundbedürfnisse

Gewiss: Nur beim Kleinkind und nur was die Zugehörigkeit betrifft, ist die hier genannte Bedürftigkeit im definierten Sinne elementar. Ein Säugling kann ohne Zugehörigkeit nicht überleben. Die psychologische Dimension des Menschseins ist jedoch so wesentlich, dass man die psychologischen Grundbedürfnisse generell als elementar bezeichnen kann. Ohne ein Mindestmaß an Selbstbestimmung ist ein gesundes Seelenleben ausgeschlossen. Der Impuls zur Selbstbestimmung ist beim Menschen so groß, dass er ohne schwere Schäden nicht gebrochen werden kann. Das gleiche gilt für die Zugehörigkeit. Kaum jemand bleibt seelisch gesund, wenn er auf Dauer keiner Gemeinschaft angehört.

Die Qualität der psychologischen Grundbedürfnisse ist bei allen Menschen gleich. Wie viel Bedeutung man dem einen oder dem anderen zumisst, schwankt individuell jedoch erheblich. Außerdem unterliegen die psychologischen Grundbedürfnisse im Laufe des Lebens Veränderungen. Ist die Zugehörigkeit für einen Säugling noch unverzichtbar, macht sich so mancher Dreikäsehoch zum Schrecken seiner Eltern bereits daran, unbeirrbar über sich selbst zu bestimmen. In der Pubertät bekommt das Bedürfnis einen neuen Schub... und vor einem Erwachsenen, der so gar nicht um Selbstbestimmung ringt, obwohl er sie erringen könnte, verliert man den Respekt.

Reife oder Abwehr
Im Grundsatz gilt: Ein mutig vertretenes Bedürfnis nach Selbstbestimmung ist ein Zeichen der Reife. Es ist aber auch ein Zeichen der Reife, dass man auf Selbstbestimmung verzichtet, wenn etwas Wichtigeres Verzicht erfordert.

Manchmal ist ein lebhaftes Bedürfnis, über sich selbst zu bestimmen, sogar ein Zeichen der Unreife: Wenn es nicht der Selbstbestimmung dient, sondern der Vermeidung gefürchteter Zugehörigkeit oder erlebter Bedeutungslosigkeit.

Der Verzicht auf die Erfüllung eines der psychologischen Grundbedürfnisse dient meist der Abwehr entsprechender Ängste.

Ein geplanter Verzicht auf eines der Bedürfnisse dient meist spirituellen Zwecken. Diese bestehen ihrerseits im Versuch, reine Selbstbestimmung oder reine Zugehörigkeit zu erreichen.

Formen strategischen Verzichts

Der Verzicht auf Selbstbestimmung kann im Rahmen religiöser Vorsätze von verschiedenen Zielen und Motiven bestimmt sein.

Die erste Gemeinschaft sieht Selbstbestimmung und Zugehörigkeit als schiere Gegensätze, die zweite als sich wechselseitig befruchtende Dynamik. Die eine sucht Einheit durch Spaltung, die andere sucht sie durch Fusion.

Das Motiv der Gene

Bloß nicht ausscheiden. Dabeisein!

2.1.2. Sexuelle Bedürfnisse

Sexuelle Bedürfnisse sind zunächst Resultat biologischer Prozesse. Ihre psychologische Komponente ist jedoch erheblich. Sie gehört zum Spektrum der Zugehörigkeit. Der sexuelle Impuls will eine ausschließende Zugehörigkeit schaffen. Intimität ist eine zugespitzte Variante der Zugehörigkeit, die andere in der Regel ausdrücklich ausgrenzt.

Sexuelle Impulse können zwar auch in der Gruppe ausgelebt werden, allerdings scheint der Begriff Intimität dann fehl am Platz. Intime Begegnungen sind vertraulich, orgiastische sind öffentlich. Intim geht auf lateinisch intimus = innerst, innigst zurück. Die Zugehörigkeit der Intimität erreicht tiefe Schichten, die des orgiastischen Spiels bleibt flüchtig, austauschbar und oberflächlich.

Der Mensch hat es nicht nur schwer, einen passenden Partner zu finden, weil er wählerisch ist, er ist auch wählerisch, damit er es bei der Partnersuche schwer hat.

Zugleich weist der biologische Ursprung der Sexualität auf analoge Motive hin. Die Verschmelzung des Erbguts erzeugt eine organismische Zusammengehörigkeit. Das Motiv der Gene, die sexuelles Verhalten steuern, lautet: im Rahmen der phylogenetischen Entwicklungslinie nach dem Tod ihres sexuell aktiven Trägers mit dabei zu sein.

Die Wucht des Themas spiegelt sich in der Macht, die sexuelle Themen nach der Pubertät bekommen. Kaum ein Mensch kann auf ein Mindestmaß an sexueller Erfüllung verzichten, ohne dadurch eine schwere Beeinträchtigung seines seelischen Wohlbefindens zu erleben.

Zugleich sind es biologische Bedingungen, die mit dafür sorgen, dass unerfüllte sexuelle Bedürfnisse eine häufige Quelle seelischen Leidens sind. Zur Logik der Evolution gehört es, der Erfüllung sexueller Impulse Hürden in den Weg zu legen. Die Evolution hat kein Interesse daran, dass der sexuelle Akt jedem jederzeit leicht zugänglich ist. Sie betreibt eine Selektion durchsetzungsfähiger Eigenschaften; und sie setzt im Falle des Menschen auf stabile Paarbeziehungen. Deshalb hat sie der Befriedigung sexueller Wünsche Prüfungen vorangestellt; an denen kaum jemand niemals scheitert. Auch für Menschen gilt: Um bei der Werbung erfolgreich zu sein, bedarf es oft erheblicher Mühe. Wenn es anders wäre, wenn Intimität mit jeder x-beliebigen Person jederzeit leicht zu verwirklichen wäre, wäre die Chance gering, dass sich stabile Partnerschaften bilden, die für Kinder förderlich sind.

2.2. Situative Bedürfnisse

Situative Bedürfnisse entsprechen der individuellen Lebenslage. Sie werden von den Rollen bestimmt, die man im sozialen Umfeld spielt, und von authentischen Interessen.

Übergänge

Theoretisch lassen sich Bedürfnisse in drei Kategorien ordnen. Im Alltag überlagern sie sich.

Eins ist dabei klar: Je größer die Bedürfnisse sind, deren Erfüllung man als Bedingung seiner Zufriedenheit auszumachen glaubt, desto schwerer ist es, zufrieden zu sein.

Da Wünsche und Bedürfnisse nicht der Willkür gehorchen und wir ihnen nicht befehlen können, klein zu sein, gilt es daher, besser zu unterscheiden: Welche Bedürfnisse sind elementar, welche der Situation angemessen und welche bloß narzisstisch?

2.3. Narzisstische Bedürfnisse

Narzisstische Bedürfnisse stehen oft dem Glück im Wege. Mehr als alle anderen haben sie mit dem Selbstbild zu tun; damit also, was wir gerne wären, oder was wir uns einbilden, bereits zu sein. Narzisstische Bedürfnisse gruppieren sich um zwei Impulse:

  1. andere zu Anerkennung, Bewunderung und Liebe zu bewegen
  2. so zu sein, dass man sich selbst bejahen kann

Tatsächlich gehen beide Themen fließend ineinander über.

Einbildungen
Das narzisstische Bedürfnis orientiert sich am Selbstbild, das man zu verwirklichen versucht. Das Selbstbild entspricht nur zu einem Teil dem tatsächlichen Selbst. Große Teile davon sind irrige Vorstellungen. Sie nähren sich aus den Erwartungen und Botschaften des Umfelds. Oder wir erschaffen sie selbst. Wir eifern den Vorstellungen des Selbstbilds nach, weil wir glauben, es würde uns nützen, etwas anderes zu sein, als das, was wir sind. Da Vorstel­lungen Bilder sind, die wir vor uns stellen, sind narzisstische Bedürfnisse eingebildet.
2.3.1. Bestätigung durch andere

Der Hunger nach Bestätigung durch andere ist eine mächtige Kraft. Sie durchdringt das Leben vieler Menschen auf breiter Front. Ein Beispiel verdeutlicht, wie sich narzisstische mit situativen Bedürfnissen vermischen.

Ein situatives Bedürfnis kann durch einen Opel Kadett erfüllt werden. Kaufe ich statt­dessen einen Achtzylinder Mercedes Diplomat Dreamliner, weil ich glaube, dass ich die Anerkennung der Nachbarn benötige, gebe ich viel für ein narzisstisches Bedürfnis aus. Wenn mir Geld zufällt wie Heu, ist das nicht schlimm. Wenn ich dafür aber buckeln muss, führt ein narzisstisches Bedürfnis dazu, dass mein elementares Bedürfnis nach Selbstbestimmung darunter leidet. Dem Glück gefallen solche Tauschgeschäfte nicht.

Anders stehen die Dinge, wenn die Umstände mich dazu zwingen, täglich mit drei Kindern, zwei Hunden und den Schwiegereltern im Gepäck von Osnabrück nach Paderborn zu pendeln. Dann könnte der Ankauf des Dreamliners als situativer Bedarf gelten.

2.3.2. Selbstbejahung
Steinige Wege
Zwischen der Bejahung des Selbstbilds und der Bejahung dessen, was man tatsächlich ist, liegen oft Welten. Meist ist die Aufmerksamkeit so auf die Verwirklichung des Selbstbilds gebündelt, dass man das echte Selbst übersieht. Zwischen dem Eifer fürs Bild und der Liebe zur Wirklichkeit liegen Trauer und Angst.

Verwandt mit dem Bedürfnis nach der Bestätigung durch andere ist der Wunsch, vor sich selbst einem glanzvollen Bild zu entsprechen. Beide Bedürfnisse sind Kehrseiten derselben Medaille.

Narzisstische Bedürfnisse können die Erfüllung situativer oder gar elementarer Bedürfnisse behindern. Oft ist der Preis für ihre Erfüllung unverhältnismäßig hoch.

2.3.3. Entwicklungen

Die Bedeutung narzisstischer Bedürfnisse ist altersabhängig. Das Bedürfnis nach Bestätigung kann bei Kindern als elementares psychologisches Bedürfnis aufgefasst werden. Erst die ausdrückliche Bestätigung ihres Wertes ermutigt schüchterne Kinder dazu, einen vollwertigen Platz in der Gemeinschaft zu suchen.

Auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben narzisstische Bedürfnisse wichtige Funktionen. Zum Erwachsenwerden gehört, in der Gemeinschaft eine Position zu erringen... und solche Positionen sind mit der Frage verwoben, wie viel man in den Augen anderer gilt. Daher ist das Geltungsbedürfnis eine wichtige Triebkraft. Es hilft mit, Ehrgeiz zu entwickeln, Fähigkeiten zu erwerben und Hindernisse zu überwinden.

Mit vorrückendem Alter bekommt das Bedürfnis nach Bestätigung zunehmend problema­tische Züge. Die Frage, was andere von einem denken, mag in der ersten Hälfte des Lebens eine lässliche Sünde und ein nützlicher Hebel beim Vorwärtskommen sein. Schimmert das Haupthaar aber silbrig oder entfällt der Nutzwert von Bürste und Kamm, raubt das Geltungsbedürfnis dem ewig jungen Greis die Kraft, sich um wichtigere Themen zu kümmern.

Bewertungen

Selbst wenn das Geltungsbedürfnis seinen Reifungsprozess verschläft, heißt das nicht, dass es grundsätzlich schädlich wäre. Hand aufs Herz: Erfände Narziss einen Jungbrunnen, der uns Arthrose, Hängebrust, Orangenhaut und den Schrecken des senilen Verfalls ersparte... Wir wären ihm nicht gram. Auch dann nicht, wenn seine Erfindung keineswegs vom Motiv inspiriert war, uns zu beglücken, sondern bloß vom Wunsch, uns Beifall abzuringen.

2.4. Transzendenzbedürfnis

Komponenten

Gewiss: Sind die elementaren Bedürfnisse erfüllt, kann man uralt werden. Sind situative und narzisstische befriedigt, kommt man zum Schluss, dass man ein erfolgreiches Leben führt. Eine Garantie dafür, mit sich selbst im Reinen zu sein, ist die Erfüllung beider Bedingungen nicht. Selbst Milliardäre kann Schwermut plagen. Für Einsame und Arbeitslose gilt das erst recht.

Ursache dafür ist ein komplexes Bedürfnis, das den psycholo­gischen Grundbedürfnissen der Person entspringt und zugleich darüber hinausweist: Das Bedürfnis nach Überschreitung der Ich-Grenze. Abschließend findet der Mensch keinen Frieden darin, durch Zugehörigkeit und Selbstbestimmung im sozialen Kontext sicher positioniert zu sein. Sein Glück bedarf des Gefühls, dass seine Existenz darüber hinaus mit dem Höchsten übereinstimmt und durch sein Handeln darin eingebettet ist. Vielen ist das Transzendenzbedürfnis nicht bewusst. Sie glauben, dass das Glück diesseits der Überschreitung zu finden ist.

Übereinstimmung

Meist wird das rechte Verhältnis zum Höchsten als Dienst bezeichnet. Die Vorstellung eines Dienens entspricht jedoch der eingeschränkten Sicht dualistischen Denkens. Sie ist analog zu zwischenmenschlichen Hierarchien gedacht, wo Rangniedere einem -höheren unterworfen sind. So ist das rechte Verhältnis zu Gott jedoch irreführend dargestellt, denn im Dienstverhältnis ist ein Gegenüber mitgedacht. Da das Göttliche Dualismen überschreitet, lösen sich Gegensätze in ihm auf. Tatsächlich ist das rechte Verhältnis zu Gott kein Dienstverhältnis, sondern Einklang. Im Einklang entlässt das Höchste jeden aus der Unterworfenheit. Nur wer sich Einklang nicht vorstellt, deutet das rechte Verhältnis zum Höchsten als Dienst. Es ist die Sicht dessen, der Gott gegenüber nicht von seinem Ego ablassen kann.

Während Zugehörigkeit und Selbstbestimmung diesseits der Überschreitung auch dann möglich sind, wenn man den Wert Dritter missachtet, kann das Transzendenz­bedürfnis nur erfüllt werden, wenn die Werteordnung dessen, der nach Erfüllung sucht, alle respektvoll umfasst; denn das Eine kann nichts sein, das etwas ausschließt. Schlösse das Eine etwas aus, gäbe es ein Zweites neben ihm. Der Glaube an Teufel und Verdammnis ist Vielgötterei.

So kann die Mitgliedschaft bei der Mafia das Zugehörigkeitsbedürfnis erfüllen und wenn man der Pate ist, kann man im Rahmen der Gruppe über sich selbst bestimmen. Glückliche Mafiosi gibt es aber nicht.

Partiell kann die Ich-Grenze durch Handlungsweisen überschritten werden, die in eine konkrete Gemeinschaft förderlich hineinwirken: die Familie, den Freundeskreis, die Gesellschaft, die Gemeinde, die Firma. Dann macht das Leben bereits Sinn. Das ist eine soziale Überschreitung der Ich-Grenze.

Da er sich selbst bestimmt, ist Einklang mit Gott nur in Selbstbestimmung möglich. Da ihm alles angehört, entsteht Einklang nur, wenn man niemanden ausschließt.

Eigentlich sucht das Bedürfnis nach Transzendenz jedoch radikale Erfüllung. Es will die Ich-Grenze existenziell überschreiten. Das ist nur in einer religiösen Ausrichtung zu finden. Das Individuum hofft zu erleben, dass es mit dem Absoluten im Einklang ist. Dann wird die Erfüllung der übrigen Bedürfnisse nebensächlich.

3. Unerfüllte Bedürfnisse

Weichenstellung

Wonach handele ich? Dient mein Handeln der Erfüllung eines Bedürfnisses oder der Ausführung eines Programms? Erfüllt es ein Bedürfnis, dient es der sofortigen Verbesserung meines Befindens. Führt es ein Programm aus, soll es zu späterem Wohlbefinden führen. Es macht Sinn, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wovon das Handeln jeweils bestimmt wird. Zu viel Dienst an der Zukunft kann ebenso schaden wie zu viel Genuss in der Gegenwart.

Meist glauben wir, die einzig gültige Bestimmung, die ein Bedürfnis haben könnte, sei es, so bald wie möglich umfassend befriedigt zu werden; vor allem, wenn es unsere eigenen sind... oder die Bedürfnisse Schutzbefohlener, deren Ansprüche wir als übereifrige Helfer altruistisch vertreten. Das ist zu kurz gedacht. Bedürfnissen kann im Leben gerade dann eine wertvolle Rolle zukommen, wenn sie nur verzögert, unvollständig oder nie erfüllt werden. Das gilt erst recht für Wünsche.

Im Umgang mit Kindern denken wir meist anders. Nur eine Minderheit meint, man müsse sämtliche Wünsche und Bedürfnisse von Kindern durchgängig erfüllen. Täte man es, würde man das kindliche Bemühen um Selbständigkeit schwächen. Je älter ein Kind wird, desto wichtiger ist es, zwischen dem zu unterscheiden, was man ihm von außen zur Verfügung stellt und dem, was man seiner Zuständigkeit zumutet.

Wer jeden Wunsch für ein Bedürfnis hält, setzt sich und andere unter Druck.

Wunsch, Begierde oder Bedürfnis
Psychologik der Begriffswahl

Das Wort Bedürfnis wird inflationär gebraucht. Zwischen Wunsch, Begierde und Bedürfnis wird oft zu wenig unterschieden.

Während der Wunsch etwas ist, was aus der Vorstellung einer intakten Person heraus formuliert wird, schwingt im Bedürfnis die Ansicht mit, dass die Person erst der Erfüllung des Bedürfnisses bedarf, um tatsächlich intakt zu sein. Bei elementaren Bedürfnissen trifft das zu. Ohne Nahrung, Atemluft und Schutz vor den Unbilden der Natur geht die Unversehrtheit des Menschen verloren.

Wenn man aber alles, was man sich sonst noch wünscht, zum Bedürfnis erklärt, erhöht man den Erfüllungsdruck. Man tut so, als ob die Erfüllung zwingend notwendig wäre; damit kein Schaden entsteht. In der Folge deutet man das Unerfülltsein eines Wunsches dramatischer als nötig. Das kann verbittern.

Die Unterscheidung von Bedürfnis und Begierde macht ebenfalls Sinn. Auch wenn die Trennlinie unscharf ist: Echte Bedürfnisse sind elementarer während hinter Begierden oft narzisstische Motive stehen.

Der inflationäre Gebrauch des Begriffs Bedürfnis mag Folge eines Zeitgeists sein, der sich umso höher einschätzt, je heftiger er haben will. Ich bin doch nicht blöd! Das verkündet die Werbung. Sie meint damit, dass Verzicht eine Dummheit ist.

Beim Habenwollen geht der Schuss aber schnell nach hinten los. Wer vom Leben ständig etwas fordert, dem fehlt die Zeit zu genießen, was keiner Forderung bedarf. Und er versperrt sich den Weg zu dem, was man nur erreichen kann, wenn man nichts verlangt.

Als Erwachsene deuten wir die fehlende Erfüllung eigener Wünsche und Bedürfnisse oft als ein Scheitern am Soll der eigentlichen Lebendigkeit. Das kann zu Selbstabwertung und Hadern mit dem Schicksal führen. Tatsächlich geht aus Entbehrungen jedoch eine Triebkraft hervor, die für weiterreichende Aufgaben des Lebens notwendig ist. Manche Wünsche, die niemals in Erfüllung gehen, öffnen Türen, hinter denen sich erfüllt, was man zu wünschen gar nicht in der Lage war.

Albrecht hätte sich gewünscht, bei der Hotline seines Praxissoftware-Providers ein achtsames Gegenüber zu finden, das redlich versucht, Computerprobleme zu lösen. Das Schicksal hat das nicht gewollt. Albrecht musste sich eigene Kenntnisse verschaffen; sonst hätten ihn die Kosten für das Ausrücken des technischen Dienstes in den Wahnsinn getrieben. Schließlich hat er sogar eine eigene Webseite erstellt. Wäre Albrechts Wunsch nach einer verlässlichen Hotline in Erfüllung gegangen, könnte es sein, dass es die Webseite, deren Bearbeitung ihm heute viel Freude macht, nicht gäbe.

Schon Sigmund Freud hatte erkannt: Errungenschaften sind oft Resultat geglückter Sublimation.

3.1. Mögliche Strategien

Über Ausmaß und Zeitpunkt der Erfüllung von Bedürfnissen entscheiden nicht nur äußere Bedingungen. Ob und wann man ein Bedürfnis erfüllt, hängt auch davon ab, welches Grundmuster man auf der Skala möglicher Strategien verwendet.

Das Gummibärchen-Orakel

Stellt man Kleinkinder vor die Wahl, sofort ein Gummibärchen zu bekommen oder später zwei, greifen die einen sofort zu, die anderen beherrschen sich bis es die doppelte Menge gibt. Untersucht man dieselben Kinder als Erwachsene wieder, stellt man fest, dass die Gruppe, die sich beherrschen konnte, es statistisch gesehen auf der sozialen Stufen­leiter weitergebracht hat. Zugunsten späterer Erfolge zu verzichten, ist eine Strategie, die erfolgreich ist.

Im Grundsatz gibt es zwei polare Möglichkeiten, zwischen denen sich ein Spektrum fließender Übergänge erstreckt.

Beide Strategien machen Sinn. Übertrieben angewandt sind beide jedoch riskant.

3.1.1. Der Spatz in der Hand

Das Sprichwort weiß, dass die Strategie der sofortigen Bedürfniserfüllung nicht grundsätzlich falsch ist. Was man erlebt hat, kann einem nicht mehr genommen werden und ob es später tatsächlich zwei Gummibärchen geben wird, garantiert das Leben nicht.

Man kann sich also entscheiden, wild und ungehemmt zu leben; und gegebenenfalls nach ausgiebigem Genuss von Sex, Drogen und Rockmusik mit 27 ruhmreich auf dem Friedhof Père Lachaise zu landen. Nicht immer ist die Qualität eines solchen Lebens mit dem Bild des Spatzen in der Hand korrekt beschrieben. Zuweilen liegt Größe darin, aber nur wenigen gelingt es, durch Schaffenskraft der Tragik einer solchen Biographie den Schuss Romantik einzuimpfen, der die Tragik zu verklären hilft.

Gut, besser, am besten

So mancher hat gute Gelegenheiten in Erwartung besserer verstreichen lassen bis er feststellen musste, dass die guten bereits die besten waren.

Es ist nicht immer das Beste auf bessere Gelegenheiten zu warten. Oft ist es besser, die guten zu ergreifen und das Beste daraus zu machen.

Die Mehrzahl derer, die Bedürfnissen, Impulsen, Wünschen und Neigungen beliebig nachgibt, wird nie von begeisterten Groupies umschwärmt. Die meisten gehen ein gesteigertes Risiko ein, dass ihnen das Leben ab dreißig mehr Verzicht aufzwingt, als sie sich selbst einst erließen.

3.1.2. Die Taube auf dem Dach

Die Mehrzahl lässt sich vom Sprichwort nicht vollständig bestimmen. Die Mehrzahl ist nicht mit dem Spatz zufrieden, sondern schielt nach der Taube, die einen fetteren Braten abgäbe, als der Spatz, den man sofort haben kann. Doch Vorsicht: Die Dosis macht das Gift und folglich auch die Medizin. Es ist nicht so, dass der spätere Erfolg im Leben mit dem Ausmaß des geleisteten Verzichts verlässlich Hand in Hand nach oben ginge. Und es ist auch nicht so, dass das, was man für eine Taube hält, stets eine ist. So manche Taube erweist sich nach mühseliger Besteigung des Daches als Elster, die einem alle Freude stiehlt.

Vieler Eltern schöne Töchter haben Roland angelächelt. Für ihn waren die schönen aber nicht schön genug. Es sollte schon die Allerschönste sein. Ob er die Jahre, die er als sehnsüchtiger Mönch auf Wanderschaft verbrachte, nicht hätte besser nutzen können, ist eine Frage, die er sich des Öfteren stellt. Die Antwort wird er nie bekommen.