Die Natur unterscheidet zwischen Gut und Böse insofern der Mensch ein Teil der Natur ist, der den Unterschied kennt. Das Individuum erkennt Gut und Böse als gegensätzliche Pole eines Spektrums potenzieller Handlungsweisen und ist in der Lage, innerhalb des Spektrums zu wählen.
Die Unterscheidung von gut und böse hat nicht mit dem Menschen begonnen. Sie begann mit dem Leben an sich. Jedes Leben bewegt sich in einem Umfeld, in dem es aktiv unterscheidet, was gut für es ist und was es als schlecht oder böse vermeidet.
Gut und böse sind hier absichtlich kleingeschrieben, denn die Unterscheidung, die das Leben vor dem Menschen macht, geschieht nicht im individuellen Bewusstsein zweier Pole, sondern als instinktive Unterscheidung dessen, was sie ausmacht. Leben ist die Verteidigung von Freiheit. Was lebendige Organismen als schlecht oder böse bekämpfen oder vermeiden, ist all das, was ihre Freiheit gefährdet.
Obwohl die Wirklichkeit ein Ganzes ist, kann man sie in fünf Ebenen unterteilen:
Auf den Ebenen der physikalischen Naturgesetze und der chemischen Prozesse gibt es keine Freiheit. Deshalb spielt dort die Unterscheidung zwischen gut, böse und schlecht keine Rolle. Zeit vergeht, Raum dehnt sich aus, Atome entstehen und zerfallen, Planeten kreisen um Sterne, Vulkane brechen aus, Wasser folgt der Gravitation, Natrium reagiert mit Chlor. Wo das und nur das passiert, gibt es keine Instanz, für die all das gut, schlecht oder böse sein könnte.
Das ändert sich mit dem Beginn des Lebens. Lebendiges bildet einen Innenraum, den es gegen Äußeres abgrenzt und dadurch aus dessen Vormacht befreit. Mikroben haben eine Zellmembran. Deren Aufgabe ist es, Gutes und Schlechtes für die Mikrobe herauszufiltern; und zwar um die Freiheit der Mikrobe zu bewahren, genau das zu tun. Würde die Mikrobe nicht unterscheiden, ginge sie zugrunde. Weil die Mikrobe zwischen gut und schlecht wählt, bleibt sie ein Weilchen bestehen.
Nicht dass physikalische und chemische Vorgaben für die Mikrobe keine Geltung mehr hätten, der Binnenraum, der durch die Abgrenzung entsteht, wird jedoch von der vollständigen Fremdbestimmung befreit, der die schiere Substanz jenseits davon unterliegt. Mit der Mikrobe erscheint eine über sich selbst bestimmende Eigenaktivität, die die Freiheit, sie auszuüben, aufrechterhält. Die Freiheit, die das Leben verwirklicht, war in der unbelebten Natur als Möglichkeit angelegt.
Schlecht oder böse
Mikroben fehlt die Freiheit, zwischen schlecht und böse zu unterscheiden. Gämsen und Springmäuse haben sie.
Daraus wird klar, was den Unterschied zwischen schlecht und böse ausmacht.
Schlecht... | Böse... |
ist, was Freiheit zufällig gefährdet. | ist, was Freiheit fahrlässig oder absichtlich gefährdet. |
Leben ist Freiheit. Leben ist die Fähigkeit eines abgegrenzten Partikels, den Ebenen rein physikalischer und chemischer Prozesse Freiheiten abzuringen; und sei es auch nur die Freiheit, seinen Bestand eine Zeit lang gegen Widerstände und Angriffe des Umfelds zu sichern. Leben ist die Kraft und das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Moralisch korrekt ist, was diese Freiheit bewahrt oder vergrößert.
Tatsächlich besteht die Freiheit des Lebendigen nicht nur daraus, seinen Bestand zu sichern. Es hat auch die Freiheit, sich fortzuentwickeln. Triebfeder der Entwicklung ist die Suche nach erweiterter Freiheit. Biologische Organismen entwickeln sich, um das Potenzial ihrer Freiheiten auszuweiten. Mikroben können ihren Bestand sichern. Gämsen auch, aber zusätzlich können sie durchs Gebirge springen. Gämsen sind freier als Mikroben. Aus Mikroben haben sich im Laufe von Jahrmillionen Gämsen entwickelt, weil der Zugewinn an Freiheit die Essenz des Lebens ist.
Nach der Gämse kamen der Affe und dann der Mensch. Spätestens mit dem Menschen ist eine neue Ebene entstanden, auf der sich das Ringen um mehr Freiheit fortsetzt: die Ebene des individuellen Selbstbewusstseins.
Die Freiheit der einzelnen Gämse, im Gebirge umherzuspringen, beruht auf Erkenntnissen, die das Leben im Laufe tausender Generationen gemacht hat. Sie ist ein gemeinsames Erbe. Trotzdem lernt die einzelne Gämse in ihrem Leben Lektionen dazu, die ihre Freiheit vergrößern.
Auch der Mensch erbt zunächst Freiheit; nämlich die Freiheit, Mensch zu sein und als solcher für seine Freiheit zu sorgen. Mit dem Erwachen seines individuellen Selbstbewusstseins gewinnt er eine Möglichkeit dazu, die die Gämse kaum hat: Vor dem Hintergrund seines bewussten Ichs zu entscheiden, was für ihn persönlich gut, böse und schlecht bedeuten.
Die Freiheit, die er damit gewinnt, ist beträchtlich. Das reflektierte Individuum kann Vor- und Nachteil, also gut und schlecht, passgenau für sich selbst abwägen. Über die gemeinsame Freiheit seiner Spezies hinaus kann der Einzelne seine persönliche Freiheit durch individuelle Entscheidungen vergrößern. Durch falsche Entscheidungen kann es sie aber auch völlig zerstören. Mit dem Aufkommen des Selbstbewusstseins geht ein Teil der Verantwortung für die Freiheit des Lebens auf den Einzelnen über.
Die individuelle Psychologie des Einzelnen ist an das relative Selbst und damit an seine Person gebunden. Die Person versucht, sich und die Welt so zu steuern, dass sie als Person darin wächst und gedeiht. Das Werkzeug dazu ist ihr Urteil über gut, schlecht und böse. Gutes versucht sie sich anzueignen, Schlechtes und Böses wehrt sie ab.
Solange der Einzelne dabei nicht über den Horizont seiner Person hinauswächst, bleibt er in deren Grenzen gefangen. Das heißt: Er ist nicht in der Lage, eine Freiheit zu erreichen, die über die Freiheit egozentrischen Handelns hinausgeht.
soziale Arrangements
Reine Piraten sind selten. Sonst wären sie auf ihren Schiffen allein und gingen damit unter. Die meisten Menschen gehen mit anderen Zweckbündnisse ein: Partnerschaften, Freundschaften, Geschäftsbeziehungen, Parteimitgliedschaften, Glaubensgemeinschaften, Interessensverbände. Das Spektrum solcher Bündnisse ist groß. Auf der einen Seite gibt es Bündnisse, bei denen das blanke Ego nur durch eine dünne Schicht ummantelt ist, auf der anderen geht die Verbindung in wahre Liebe über.
Der Mensch ist Person. Als Person ist er mit den Bedingungen verwoben, auf deren Grundlage biologische Organismen entstehen. Seine persönliche Freiheit ist daher bedingt. Sie bewegt sich im Rahmen psychologischer Motive, die für das Wohl von Personen bedeutsam sind. Drei Motiv stehen dabei im Vordergrund: die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Anerkennung. Alle drei sind Variationen eines einzigen Themas. Alle drei dienen der Selbsterhaltung des Egos.
Im Regelfall ist der Einzelne so mit dem Bestand seines Egos beschäftigt, dass ihm die Freiheit fehlt, darüber hinauszugehen. Der Einzelne ist in seiner Person gefangen und leidet darunter.
Leid ist die Unfreiheit dessen, dem Freiheit zusteht. In der unbelebten Natur gibt es keine Freiheit. Deshalb leidet sie auch nicht, egal, in welchem Zustand sie sich gerade befindet.
Leid ist eine Erfahrung des Lebens. Lebendige Organismen leiden, sobald sie eine Freiheit verlieren, die ihrem Wesen entspricht. Jedes Leid ist als Mangel an Freiheit erkennbar.
Wenn Gott gut, allmächtig und allwissend ist, warum lässt er dann Leid und Unrecht zu? Obwohl er das Böse dank seiner Allmacht beseitigen könnte. Das ist die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Sie wird auch Theodizeefrage genannt; abgeleitet von altgriechisch theos [θεος] = Gott und dike [δικη] = Gerechtigkeit. Wie kann man einen Gott, der Leid verhindern könnte, aber tatenlos zusieht, als gerechten, also guten Gott bezeichnen?
Theologie und Vorurteil
Wer den Begriff Theodizee verwendet, setzt voraus, was nicht bewiesen ist: dass die bestimmende Kraft des Universums eine Instanz ist, die mit der Erschaffung des Kosmos eine Absicht verfolgt hat. Über die "Gerechtigkeit Gottes" nachzudenken, ist Konsequenz eines ontologischen Vorurteils. Wissenschaftlich korrekt muss es heißen: Wir wissen nicht, ob die Frage überhaupt Sinn macht.
Die Theodizeefrage ergibt sich aus dem abrahamitischen Gottesbild. Sie ist das Resultat einer theologischen Interpretation der Wirklichkeit, die mit dem politischen und militärischen Vorsatz der alttestamentarischen Religionsstiftung verbunden ist.
Das abrahamitische Weltbild deutet die bestimmende Kraft des Universums als einen Machthaber, der seine Position eifersüchtig gegen Konkurrenten verteidigt, und der in der Folge von seiner eigenen Schöpfung Gehorsam verlangt. Dementsprechend gilt der Mensch im biblischen Schöpfungsmythos als sündig, weil er nach zwei Freiheiten greift, die ihm die so definierte Gottesperson zwar als Potenzial verliehen hat, deren Ausübung aber als Inbegriff des Bösen gilt:
1 Moses 3, 5-6:
Vielmehr weiß Gott, daß euch, sobald ihr davon eßt, die Augen aufgehen und ihr ... Gutes und Böses erkennt ... Da sah die Frau, daß der Baum gut sei ... um weise zu werden.
1 Moses 3, 22:
Dann sprach er:" Ja, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, daß er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baum des Lebens vergreife, davon esse und ewig lebe."
Copyright
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden Theologien, damit verknüpfte Moralvorgaben und die Forderung, sie einzuhalten, nicht von Gott offenbart. Wäre es Gott wichtig, dass ein von ihm entworfenes Gesetz strikt eingehalten wird, wäre es ihm ein leichtes, es als eindeutig göttlicher Herkunft zu kennzeichnen; z.B. durch angekündigte Vulkanausbrüche oder die periodische Wiederkehr eines Murmeltiers, das den Luftdruck in Paderborn für 365 Tage auf aramäisch voraussagt. Wie gehorsam könnte die Menschheit sein, wenn Gott sie tatsächlich zum Gehorchen erschaffen hätte!
Darüber hinaus müsste am Verstand eines Gottes gezweifelt werden, wenn er die Einhaltung ihm dermaßen wichtiger Gesetze nicht sicherstellt, sondern ausgerechnet Individuen einer Spezies mit deren Durchsetzung beauftragt, die er selbst im Wissen um deren Scheitern erschaffen hat.
Gottlob brauchen wir an Gottes Verstand nur dann zu zweifeln, wenn wir die logischste Erklärung für die Herkunft der Theologien verwerfen. Theologien sind menschlichen Ursprungs. Sie werden als Narrative von Menschen erschaffen, um sich die Welt zu erklären, und oft werden sie bis aufs Blut von jenen verteidigt, die davon profitieren oder daran glauben, es dereinst zu tun.
Und wer profitiert von einer Theologie, die dem Menschen verbietet, eigenständig über Gut und Böse zu entscheiden sowie an einen Wert zu glauben, der unanfechtbar in ihm selbst verankert ist? Wer profitiert einer Theologie, die stattdessen Unterwerfung verlangt? Die, die daran glauben, von Gott zur Herrschaft über andere beauftragt zu sein.
Wenn wir statt an einen Gott, der Gehorsam verlangt, an einen glauben, der Platz für Freiheit schaffen will, ist das Kopfzerbrechen über seine Gerechtigkeit weniger schmerzhaft. Gehen wir nämlich davon aus, dass die bestimmende Kraft des Universums den Menschen nicht mit Freiheit begabt, damit er aus Angst darauf verzichtet, sondern damit er lernt, damit umzugehen, wird klar, dass der Preis für das göttliche Experiment die Hinnahme von Leid und Unrecht sein muss, weil Freiheit keine ist, wenn sie nicht missbraucht werden kann. Leid und Unrecht müssen sein, weil der Versuch, sie zu überwinden, der Weg in die Freiheit ist. Böses taucht auf, damit sich Gutes daraus befreien kann.
Der Griff zum Baum des Lebens führt nicht dazu, dass der Mensch damit Unsterblichkeit erwirbt, sondern dass er davon ausgeht, bedingungslos daran teilzuhaben. Denn die Teilhabe an der Zeitlosigkeit kann nicht in der Zeit beginnen. Sie kann der zeitlichen Existenz nur vorgegeben sein.
Das vermeintlich göttliche Verbot, von einem zeitlosen, also unbedingten Wert des Individuums auszugehen, war Element einer Theologie, die sich die Vernichtung konkurrierender Völker zur Aufgabe machte; denn wie sollte man Widersacher und Konkurrenten guten Gewissens beseitigen, hätte man ihnen einen eigenständigen Wert beigemessen, den das Zeitlose verbrieft?
Ansatzweise hat erst Jesus gewagt, das alttestamentarische Tabu zu überschreiten, sich am Baum des Lebens zu vergreifen.
Johannes 8, 57:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich.
Hätte er seinen Zuhörern stattdessen gesagt: Ehe Abraham ward, sind wir, hätte die abrahamitische Theologie eine Chance gehabt, die spaltende Setzung nicht nur ansatzweise, sondern grundsätzlich hinter sich zu lassen und jedem Menschen einen absoluten Wert zuzugestehen.
Hätte Jesus allen, und nicht nur sich selbst, zugestanden, mehr als ein Produkt der Willkür zu sein, hätte er eine Menge Böses verhindert. Gefäße des Zorns, die bereitet waren für den Untergang (Römer 9, 22) mit eisernem Stabe wie Töpfergeschirr zu zerschlagen (Psalm 2, 9), geht weniger leicht von der Hand, wenn die Theologie den Zielscheiben der eisernen Stäbe einen eigenen Wert beimisst. Zum Schaden der Erschlagenen ist es bei der dualistischen Grundidee des alttestamentarischen Denkens geblieben.
Die historisch bedingten Charakteristika der abrahamitischen Theologie stehen in zweifacher Weise mit der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes in Verbindung. Zum besseren Verständnis dient die Gegenüberstellung zwei konkurrierender theologischer Wirklichkeitsdeutungen:
Die bestimmende Kraft des Universums... | |
verlangt Gehorsam. | setzt frei. übergibt Verantwortung. |
Wenn eine allwissende Allmacht Gehorsam gegenüber Gesetzen fordert, deren Einhaltung ihr als unverzichtbar gilt, ist unerklärlich, warum sie ihn nicht durchsetzt. | Wenn die Essenz des Universums Verantwortung an Menschen übergibt, bleibt deren Freiheit nur bestehen, solange sie Unrecht in Kauf nimmt, weil Menschen nicht allwissend sind und bei der Suche nach dem rechten Weg auch in die Irre gehen und Böses tun. |
Wenn die Allmacht nur sich selbst Macht und Freiheit vorbehält, kann sie nicht gerecht sein, wenn sie Böses duldet. | Wenn der Essenz mehr an der Freiheit liegt, die sie vergibt, als am Gehorsam, der ihr dargeboten wird, bleibt sie gerecht, auch wenn sie vorübergehend Böses hinnimmt. |
Die allmächtige Person erschafft das Geschöpf nach ihrem Abbild. | Die Essenz erschafft das Geschöpf aus ihrer Substanz. |
Allmacht ist allfrei. Wenn ihren Geschöpfen nur Unterwerfung zusteht, besteht zwischen beiden ein unüberbrückbarer Abstand. | Die Essenz überträgt aus ihrer Freiheit heraus ehrlich gemeinte Freiheit an ihre Geschöpfe. Es gibt keine Strafe dafür, sie in Anspruch zu nehmen, sondern die Verantwortung, es weise zu tun. |
So gilt zweierlei:
Die abrahamitische Theologie des Gehorsams ist außer Stande, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes sinnvoll zu beantworten, weil sie sich dadurch selbst in Zweifel stellt.
Die Zielsetzung scheint nicht nur zu sein, eine gerechte Welt zu schaffen, sondern beim Versuch, es zu tun, über sich selbst hinaus in die Freiheit zu gehen. Freiheit ist die Substanz des Zeitlosen. Seine Macht ist ein Fall, der sich aus seiner Freiheit ergibt.
Verschiedene Faktoren können die Freiheit des Menschen beschränken. Freiheitsverluste lassen sich in zwei Kategorien einteilen:
Freiheitsverluste können durch ungünstige Umweltfaktoren verursacht werden: Wetterkapriolen, Erdbeben, Flutwellen, Asteroideneinschläge, Ressourcenmangel, Heuschreckenschwärme.
Der gemeinsame Nenner dieser Faktoren ist die fehlende Absicht. So können Heuschreckenschwärme zwar großen Schaden anrichten, es fehlt ihnen aber der Vorsatz, es tatsächlich zu tun. Wenn der Mensch durch die Gefräßigkeit der Insekten zu leiden hat, so ist das keine Folge einer Absicht, sondern Zufall. Deshalb wird man weder Insekten noch Flutwellen oder Erdstößen unterstellen, böse zu sein.
Bei vorsätzlichen Freiheitsberaubungen liegt eine Absicht vor, die gezielt den Schaden des Opfers betreibt. Bei fahrlässigen Freiheitsberaubungen ist der Täter so auf den Gewinn eigener Vorteile fixiert, dass er vom Schaden absieht, den er anderen damit zufügt. Seine Absicht, sich zu bereichern, nimmt den Schaden anderer billigend in Kauf; auch wenn der Schaden des Opfers im Vergleich zum Nutzen des Täters unverhältnismäßig hoch ist. In beiden Fällen wird das Handeln des Täters als böse bezeichnet.
Der Freiheit beraubt wird in verschiedenen Varianten und Ausprägungsgraden. Fünf Felder sind auszumachen, die sich teils überlappen.
Das Böse, also die Verhinderung fremder Freiheit, kann auf Leib und Leben zugreifen.
Absichtlich zu töten oder andere schwer zu verletzen, gelten zu Recht als so schwerwiegende Akte der Bosheit, dass sich die meisten Menschen unter normalen Bedingungen ihrer enthalten.
Andere ihrer Bewegungsfreiheit zu berauben, ist ein uraltes Mittel, um sich auf deren Kosten zu bereichern.
Der Raub der Bewegungsfreiheit wird in vielerorts als selbstverständliches Vorrecht derer angesehen, die davon profitieren.
Vergewaltigungen und andere Formen des sexuellen Missbrauchs verstoßen gegen das Selbstbestimmungsrecht des Opfers nicht nur zum Zeitpunkt der Tat. Sie können darüber hinaus zu seelischen Traumata führen, die die Möglichkeiten der Opfer zur freien Gestaltung ihres Lebens auf Dauer beschränken.
Kommt es zur Zeugung eines Kindes, wird die Freiheit des Opfers gegebenenfalls durch eine aufgezwungene Fürsorgelast beschnitten.
Alles, was der Mensch besitzt, ist ihm nur deshalb etwas wert, weil er sich mithilfe des Eigentums aus Notlagen befreien kann.
Auch Angriffe auf den Besitz anderer gelten als böse; zwar weniger als Angriffe gegen Leib und Leben, aber immerhin so deutlich, dass sich der Mensch normalerweise nur kleine Übergriffe erlaubt.
Anders sieht es bei der Beschneidung anderer Leute Freiheit aus, die Realität so zu deuten, wie sie es aus ihrer individuellen Perspektive heraus tun. Wer hinschaut erkennt, wie viel er selbst damit beschäftigt ist, unmittelbar oder verdeckt auf die Sichtweisen anderer Menschen, und damit auf deren Verhalten, Einfluss zu nehmen. Und er erkennt, dass die gesellschaftliche Dynamik von solchen Prozessen durchsetzt ist.
Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Raub und Diebstahl sind allseits bekannte Werkzeuge des Bösen, wenn der Vorsatz zur Freiheitsberaubung offensichtliche Formen annimmt und grobe Taten begeht, die man nur umständlich verstecken kann. Den meisten Menschen fällt es nicht schwer, auf derlei Bosheiten zu verzichten; entweder, weil sie ihnen nicht in den Sinn kommen oder, weil die Angst vor Bestrafung groß genug ist, um die Ausführung zu verhindern.
Bei subtilen Formen der Freiheitsberaubung oder solchen, die durch weltanschauliche Vorgaben legitimiert werden, sieht das anders aus. Auf dem bisher erreichten Kulturniveau gelten subtile Formen der Freiheitsberaubung als so selbstverständlich, dass ihre problematische Qualität kaum je erkannt oder so nahtlos verdrängt wird, dass der Ausführung breite Pforten offenstehen.
Zu den subtilen Formen der Freiheitsberaubung gehören auch alle Manöver, deren Zweck es ist, das Selbstwertgefühl anderer zu schwächen.
Die Palette der Werkzeuge, die bei subtilen Formen der Freiheitsberaubung zum Einsatz kommen, ist breit:
Wissen, also der Besitz zutreffender Informationen über Sachverhalte, ermöglicht es dem Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Erkenntnis ist ein Mittel zur Freiheit. Wer anderen Erkenntnisse vorenthält, schränkt deren Freiheit, selbstbestimmt zu handeln, ein.
Das Selbstwertgefühl stellt sicher, dass das Individuum daran glaubt, sinnvolle Urteile fällen zu können. Nur wenn das Selbstwertgefühl stabil ist, hat der Einzelne den Mut, auf dem Boden eigener Urteile frei zu entscheiden. Indem man das Selbstwertgefühl anderer durch Abwertungen, Schuldzuweisungen oder Beschämungen untergräbt, versucht man, deren Freiheit einzuschränken, um sie für eigene Zwecke zu missbrauchen.
Beschränkende Übergriffe auf die Freiheit anderer erfolgen auch durch Beeinflussung Dritter, indem man die Möglichkeiten des Opfers, sich in der Beziehung zu anderen frei zu entfalten, behindert.
Weil Freiheit das zentrale Anliegen des Lebens ist, befassen sich alle gesellschaftlichen Theorien mit der Frage, wie sie oder die Mittel dazu zu verteilen sind. Freiheit ist das, was ersehnt wird und zugleich das, was man fürchtet. So kommt es, dass viele Gesellschaftstheorien zwar die Freiheit verheißen, ausgerechnet ihre Beseitigung jedoch für den Weg dorthin halten.
Exemplarische Vorbilder derartiger Denkweisen sind Glaubensbekenntnisse, die eine Gehorsamspflicht, also den Verzicht auf die Freiheit, als erstes Gebot postulieren. Mit ihrem Gebot, die Freiheit abzuschaffen, überschreiten sie die Grenze zum Bösen.
Zu den subtilen Formen der Freiheitsberaubung kann die Androhung der Hölle für mangelnden Gehorsam gehören. Die Hölle ist ein Sinnbild der Freiheitsberaubung. Der Insasse der Hölle ist jeder Freiheit beraubt, sich der Qual zu entziehen. Selbst die Freiheit zu sterben, besteht in der Hölle nicht. Daher muss die Qual logischerweise endlos sein.
Die völlige Beraubung der Freiheit ist die Quintessenz des Bösen an sich. Daher wird der Ausgang aus der Hölle durch den Satan, also das personifizierte Prinzip des Bösen, verhindert. Die Androhung der Hölle kann unterschiedlich interpretiert werden:
Die Höllendrohung hat über Jahrhunderte hinweg wesentlich zur Aufrechterhaltung asymmetrischer Gesellschaftsstrukturen beigetragen. Sie tut es auch heute noch. Asymmetrisch ist eine Gesellschaft, die einem Teil der Bevölkerung zum Vorteil eines anderen Freiheiten strukturell vorenthält.
Es ist zwar so: Jede Bosheit besteht aus einer Freiheitsberaubung. Aber nicht jede Einschränkung der Freiheit ist böse. Zweifellos gibt es berechtigte Einschränkungen der Freiheit, die logischerweise nicht als böse bezeichnet werden können.
Beispiele legitimer Einschränkungen der Freiheit sind leicht zu finden:
Theoretisch ist es leicht, Bedingungen aufzuzählen, die zur Einschränkung von Freiheiten berechtigen. Es entspricht aber der Komplexität der Wirklichkeit, dass es beim Urteil über die Verhältnismäßigkeit solcher Einschränkungen keine feste Regel gibt.
Ob eine Einschränkung der Freiheit, die man einem anderen zumutet, berechtigt oder böse ist, kann oft nur von Fall zu Fall entschieden werden. Je ausschließlicher dabei der eigene Vorteil im Vordergrund steht, und je mehr man den des anderen in den Hintergrund schiebt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, böse zu handeln. Grundsätzlich zu versuchen, die Freiheit anderer möglichst wenig einzuschränken, ist ein geeignetes Prinzip, um das zu verhindern.