Wahrnehmung ist Grundlage seelischer Gesundheit. Sie ist die Bedingung von Zufriedenheit und Glück. Erst wenn man Wahres erkennt und von Wahrem ausgeht, passen Entscheidungen so zur Realität, dass sie förderlich sind. Jede Ausrichtung des Bewusstseins an Vermutungen erhöht die Gefahr, an der Wirklichkeit zu scheitern.

Wahrheit ist die Substanz des Sub­jekts. Nimmt es Wahrheit an, nimmt es selbst zu. Hat es alle Wahrheit angenommen, ist es zu sich selbst geworden.

Wer oft scheitert, nimmt wenig wahr und vermutet zu viel.

Je mehr man von sich weiß, desto besser versteht man die anderen.

Wenn ich sehe, bin ich ein Punkt. Wenn ich höre, bin ich der Raum. Wenn ich rieche, schmecke oder fühle, bin ich eine Fläche, an der sich innen und außen berühren.

Besser zu unterscheiden, heißt mehr Zusammenhänge zu sehen.

Wahrnehmung


  1. Begriffsbestimmungen
    1. 1.1. Gewähren
    2. 1.2. Bewahren
    3. 1.3. Wahrnehmen
    4. 1.4. Gewahrsein
    5. 1.5. Nehmen
  2. Grundformen
    1. 2.1. Mittelbare Wahrnehmung
    2. 2.2. Unmittelbare Wahrnehmung
  3. Störungen der Wahrnehmung
    1. 3.1. Körperliche Ursachen
      1. 3.1.1. Mittelbare Wahrnehmung
      2. 3.1.2. Unmittelbare Wahrnehmung
    2. 3.2. Seelische Ursachen
      1. 3.2.1. Mittelbare Wahrnehmung
      2. 3.2.2. Unmittelbare Wahrnehmung
      3. 3.2.3. Selektive Wahrnehmung
      4. 3.2.4. Fokussierungsstörung
  4. Abgrenzungen
    1. 4.1. Wahnwahrnehmung
    2. 4.2. Déjà vu, Déjà vécu
    3. 4.3. Leibhaftige Bewusstheit
    4. 4.4. Eidetische Bilder
    5. 4.5. Synästhesie
  5. Das Wahre annehmen

1. Begriffsbestimmungen

Das Herkunftswörterbuch des Duden-Verlags (Etymologie der deutschen Sprache) nennt den indoeuropäischen Begriff ṷer- zweimal als Ausgangspunkt weiterer Bedeutungsketten.

Das Wörterbuch verrät uns nicht, ob es vor dem hypothetischen Indogermanen, der beim Wort ṷer- einmal an Gunst und Freundlichkeit, ein anderes Mal an Schutz und Wehrhaftigkeit dachte, einen Prä-Indogermanen gab, in dessen Vorstellungswelt beide Bedeutungen in eine zusammenflossen. Die weitere Untersuchung der Begriffe verdeutlicht jedoch, dass der Prä-Indogermane damit nicht falsch gelegen hätte. Selbst wenn die Verbindung sprachgeschichtlich umstritten ist (siehe dazu: ⇗Heinrich Tischner und ⇗Fritz Mauthner), sind wahr und wahren logisch miteinander verwandt. Tätige Freundlichkeit ist Inobhutnahme. Sie bietet Schutz und wehrt Schaden ab.

1.1. Gewähren

Die Wurzel des Adjektivs wahr ist ṷer- im Sinne von Gunst, Freundlichkeit, eine Freundlichkeit erweisen. Zum gleichen Sinnstrang gehört die Wahrheit. Der Grundgedanke der freundlichen Gabe, die hinter der Wahrheit steht, wird in verwandten Begriffen deutlich: Wirt und gewähren. Beide sind mit dem Wahren etymologisch verschwistert.

Der Wirt gewährt seinen Gästen Gutes. Er nimmt sie in die Obhut seiner Gastfreund­schaft und sorgt für ihr Wohl. Die Wirklichkeit ist ein Wirt, der seinen Gästen Wahrheit gewährt. In der Wahrheit gewährt uns die Wirklichkeit eine Gunst. Als wahr gibt sie zu erkennen, was uns wohlgesinnt durch die Gefahren des Daseins führt.

1.2. Bewahren

An der Quelle des Verbs wahren steht das zweite ṷer-; hier in der Bedeutung: mit einem Schutzwall umgeben, schützen, bedecken.

Aus derselben Quelle stammt das Verb wehren. Wird etwas bewahrt, wird es in schützende Obhut genommen. Angriffe gegen das Bewahrenswerte werden abgewehrt. Wertvolles wird sicher verwahrt. Sein Wert wird beachtet. Der Grundgedanke des Wahrens heißt: schützend beachten.

1.3. Wahrnehmen
Obwohl Wahrnehmung irren kann, ist es das Wahre, das in ihre Obhut gehört.

Auch das Verb warnen geht direkt auf wahren zurück. Wo gewarnt wird, verweist die Warnung auf eine Bedrohung des Bewahrenswerten.

Das Wahr in Wahrnehmung gehört zur Bedeutungskette des Be- und sicher Verwahrens. Wahrnehmen heißt, etwas in Obhut nehmen, es behüten und zu warnen, wenn ihm Gefahr droht.

Die Beachtung der Wirklichkeit, die man bei der Wahrnehmung betreibt, entspricht einer Bewahrung von Werten. Wahrgenommen wird nicht irgendwas, sondern Wahres, dessen Kenntnis den Wahrnehmenden begünstigt. Zugleich entsteht aus der Wahrnehmung eine Obhutspflicht.

Doch warum ist das ratsam? Weil Wahrheit eine freundliche Gabe der Wirklichkeit ist und es ihr zusteht, im aktiv bewahrenden Sinne der Wahrnehmung angenommen zu werden. Das Verhältnis zwischen objektiv Wahrnehmbarem und wahrnehmendem Subjekt ist ein Verhältnis von geben und nehmen. Die objektive Seite gibt Wahrheit damit die subjektive ihr Schutz gewährt.

1.4. Gewahrsein

Gewahrsein ist das in Eins versammelte, durch dessen Gegenwart das Wahrnehmbare wirklich wird.

1.5. Nehmen

Werfen wir zuletzt einen Blick auf das Verb nehmen. Es geht auf das indoeuropäische nem- = zuteilen zurück. Nehmen heißt: sich etwas zuteilen. Im Gegensatz zum Bekommen ist das Nehmen ein aktiver Prozess.

Wahrnehmung ist keine Wahrbekommung. Das Wahre, mit dem uns die Wirklichkeit bewirtet und das wir durch Wahrnehmung in unsere Obhut nehmen, wird uns nicht am Tisch serviert. Es befindet sich auf einem Büffet, auf das man aktiv zugehen muss und an dem es bewusst zu wählen gilt. Bei der Wahrnehmung von Wahrem besteht eine Wahl. Die Wahl kann zum Wesentlichen oder zu Missbrauch führen.

Distanz und mittelbare Wahrnehmung

Modus Distanz
sehen schafft Distanz und Überblick
hören über­windet Distanz
riechen sucht oder vermeidet Nähe
tasten Berüh­rung
schmec­ken Ver­schmel­zung

2. Grundformen

Wahrnehmbares kann auf zweierlei Art angenommen werden:

  1. mittelbar
  2. unmittelbar
2.1. Mittelbare Wahrnehmung

Zur mittelbaren Wahrnehmung gehört, was durch Vermittlung der Sinnesorgane, des peripheren Nervensystems, also aller zuführenden Nervenbahnen sowie der zugehörigen rezeptiven Regionen des Gehirns (z.B. visueller Kortex) erkennbar wird. Dazu zählt, was man sehen, hören, riechen, schmecken kann; außerdem was man über Berührungs-, Druck-, Wärme- und Schmerzrezeptoren der Haut und des Körperinneren spürt; einschließlich der Körperhaltung und der Stellung der Gelenke. Mittelbare Wahrnehmung informiert über Außenwelt und Körper.

Hauptfunktion der mittelbaren Wahrnehmung ist die Orientierung des Körpers in der physikalischen und biologischen Umwelt. Mit der Entwicklung von Sprache und Zivilisation ist dem Gehör eine besondere Bedeutung im sozialen Austausch zugefallen.

Apropos Geschmack :)
Kennen Sie das Marzipanparadoxon Zenons, das seit dem 5. Jahrhundert vor Christus als ungelöst galt. Preisgünstiges Marzipan war auch damals dröge und überzuckert, gutes riss Löcher in die Haushaltskasse. Zenon schloss daraus:

Ist viel Marzipan vorhanden, so wird seine natürliche Größe keine äußere Grenze bilden. Ist das Marzipan gut, so ist es klein bis zur Nichtigkeit.

Bis in die Neuzeit wurde die Lösung des Paradoxons durch den Stadtrat von Lübeck verhindert. Enthüllungsjournalisten aus dem Umfeld der Washington Post gelang es nun das Blatt zu wenden. Sie veröffentlichten das Rezept im Darknet. Jetzt können auch Sie budgetkonform gutes Marzipan in solcher Menge herstellen, dass es der Nichtigkeit entgeht. Sie brauchen:

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2.2. Unmittelbare Wahrnehmung

Für die unmittelbare Wahrnehmung sind außer dem Gehirn keine organischen Strukturen notwendig; was natürlich nicht ganz stimmt, denn ohne sonstige organische Strukturen, gäbe es kein Gehirn. Unmittelbar nehmen wir Gefühle, Stimmungen, Impulse, Vorstellungen und das eigene Denken wahr; außerdem Trugwahrnehmungen, Trauminhalte sowie spezifische Empfindungen, die als begleitende Qualitäten Gefühlen, Impulsen und Gedanken zugeordnet sind.

Die unmittelbare Wahrnehmung richtet sich auf die Dynamik innerseelischer Prozesse aus, die im Bewusstsein als Gewebe wahrnehmbarer Phänomene erkennbar ist. Ihre Funktion liegt in der Selbsterkenntnis sowie der damit verbundenen Ausrichtung der Person auf das soziale Umfeld. Der Vollzug der bewussten Existenz ist ein komplexes System sich ergänzender Rückkopplungen, das auf innere und äußere Informations­quellen zugreift. Die Wahrnehmung des relativen Selbst entscheidet wesentlich mit, wie sich das Ich im Bezug zum sozialen Umfeld verhält.

Die Aufmerksamkeit eines gesunden Tieres richtet sich nach außen. Ein Mensch bleibt nur im Gleichgewicht, wenn er einen Teil der Aufmerksam­keit nach innen lenkt.

Bei vielen Wahrnehmungs­störungen scheinen sich körperliche und seelische Ursachen zum gemeinsamen Resultat zu ergänzen.

Da sich der Schwerpunkt des menschlichen Lebensvollzugs weg von der Auseinander­setzung mit der physikalischen Realität und hin zur Dynamik der sozialen Wirklichkeit verschiebt, kommt der unmittelbaren Wahrnehmung des Inneren wachsende Bedeutung zu.

3. Störungen der Wahrnehmung

Störungen der Wahrnehmung beruhen auf körperlichen und/oder seelischen Ursachen. Sie werden durch vier Gruppen kausaler Faktoren bedingt:

  1. organisch
    durch erkennbare Gewebeveränderungen oder messbare Stoffwechselstörungen
  2. toxisch
    durch bewusstseinsverändernde Substanzen
  3. endogen
    vermutlich durch bislang nicht messbare Stoffwechselstörungen
  4. psychogen
    durch seelische Faktoren auf dem Boden der Entscheidungsfreiheit des Individuums
Die ersten drei Faktoren sind als körperlich auszufassen, die letztere als seelisch.

Zuordnungen

Bei der Zuordnung von Wahrnehmungsstörungen ist zunächst zu fragen, ob es einen äußeren Wahrnehmungsgegenstand gibt oder nicht. Gibt es ihn, ist von einer Störung der mittelbaren Wahrnehmung auszugehen, weil sich die Wahrnehmung äußerer Gegenstände körperlicher Wahrnehmungsorgane bedient.

Bezieht sich die Störung nicht auf einen äußeren Wahrnehmungsgegenstand, sondern auf einen inneren, ist von einer Störung der unmittelbaren Wahrnehmung auszugehen.

Schwieriger ist die Zuordnung zu Ursachen. Da das Individuum ein psycho­somatischer Organismus ist, bei dem beide Ebenen ineinandergreifen, können Wahrnehmungsstörungen nicht immer eindeutig körperlichen oder seelischen Ursachen zugeordnet werden. Bei manchen Störungen greifen körperliche und seelische Ursachen ineinander, andere können mal durch körperliche, mal durch seelische Faktoren verursacht sein. Behält man das im Auge, ist eine orientierende Einteilung möglich.

3.1. Körperliche Ursachen
3.1.1. Körperbedingte Störungen der mittelbaren Wahrnehmung

Körperbedingte Störungen der mittelbaren Wahrnehmung spielen in der Psychiatrie eine untergeordnete Rolle. Sie können durch Funktionsstörungen der Sinnesorgane, der zuführenden Nervenbahnen oder jener Bereiche des Zentralnervensystems verursacht werden, die für die Verarbeitung und Bewusstwerdung äußerer Sinnesreize verantwortlich sind.

Bei Agnosien wird zwar gesehen, gehört und geschmeckt, dem Kranken ist es aber nicht mehr möglich, die Sinneseindrücke erinnerbarem Wissen zuzuordnen. Der Kranke sieht, ohne verstehen zu können, was er sieht.

Störungen der sinnlichen Wahrnehmung

Modus Störungen
sehen Blindheit, Amaurose, Myopie = Kurzsichtigkeit, Hyperopie = Weitsichtigkeit, Presbyopie = Alterssichtigkeit
hören Taubheit, Anakusis = Hörverlust, Hypakusis = vermindertes Hörvermögen
riechen Anosmie = Verlust des Riechvermögens, Hyposmie = vermindertes Riechvermögen
tasten Sensibilitätsstörungen, Anästhesie = Verlust des Tastempfindens, Hyästhesie = abgeschwächtes Tastempfinden, Analgesie = Verlust des Schmerzempfindens, Hypalgesie = vermindertes Schmerzempfinden, Thermanästhesie = Verlust des Temperaturempfindens
schmecken Ageusie = Verlust der Geschmackswahrnehmung, Dysgeusie = Fehlfunktion der Geschmackswahrnehmung

Störungen des Erkennens / Agnosien

Modus Störungen
sehen optische Agnosien, z.B.: Wiedererkennen von Gegenständen oder Personen (Prosopagnosie), der Raumstruktur, von Farben, Schriftzeichen (Alexie), Autotopagnosie (Unvermögen Körperteile zuzuordnen bzw. zu benennen), Rechts-Links-Agnosie
hören akustische Agnosie, sensorische Amusie, Sprachverständnisstörungen
riechen olfaktorische Agnosie
tasten taktile Agnosie (Unvermögen, Gegenstände durch Betasten zu erkennen)
Stereoagnosie, Asterognosie
schmecken gustatorische Agnosie

Zwar gelten Agnosien und Störungen der sinnlichen Wahrnehmung nicht als psychiatrische Probleme, sie können sekundär jedoch solche nach sich ziehen; vor allem depressive Entwicklungen bei Verengung des sozialen Handlungshorizonts durch Einschränkung des Kommunikationsvermögens.

Sinnliche Wahrnehmung erdet die Psyche; oder überfordert sie.

Außerdem ist bekannt, dass Schwerhörigkeit zu einer Häufung paranoider Erlebnisweisen führt. Wer schlecht hört, bekommt wenig davon mit, was andere besprechen. Ist er misstrauisch oder hat er ein brüchiges Selbstwertempfinden, vermutet er gehäuft, dass etwas gegen ihn im Gange ist.

Traumwahrnehmung
Das Traumerleben kann als Folge einer Unterbrechung der sinnlichen Wahrnehmung aufgefasst werden. Ist das Bewusstsein schlafbedingt von Sinnesreizen abgekoppelt, erzeugt es seine eigene halluzinative Welt. Da im Tiefschlaf jedoch nicht halluziniert wird, kann der Traum nicht nur als Folge eines Reizentzugs aufgefasst werden. Er scheint im seelischen Haushalt unentbehrliche Funktionen zu haben. Diese sind bis heute kaum verstanden.

Psychologische Experimente mit Versuchs­personen in schallisolierten, abgedunkel­ten und mit lauwarmem Wasser gefüllten Containern haben gezeigt, dass eine extreme Abschirmung gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Außenreizen (sensorische Deprivation) zu Halluzinationen führen kann. In seltenen Fällen gilt das auch bei sensorischer Überreizung, also bei Überflutung mit Sinnesreizen.

Toxisch bedingte Störungen der mittelbaren Wahrnehmung sind Folge von Alkoholkonsum oder Drogeneinnahme.

Qualitative Veränderungen der Wahrnehmung / sensorische Störungen

Modalität Störungen
Farbe lebhaftere Farbwahrnehmung
Größe Mikropsie (alles erscheint kleiner), Makropsie (alles erscheint größer), Heautometamorphopsie (veränderte Größen- oder Distanzwahrnehmung von Körperteilen)
Gestalt Heautoskopie (Wahrnehmung eines Doppelgängers in der eigenen Gestalt), Dysmorphopsie (verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers), Metamorphopsie, Dysmetropsie (verzerrte Wahrnehmung von Objekten)
Distanz Empfinden eines ungewöhnlichen Abstands zu den Objekten der Wahrnehmung (Nähe ≙ Peloposie oder Ferne ≙ Porropsie bzw. Teleopsie), auch Wahrnehmungsspaltung genannt
Raum und Zeit veränderte Wahrnehmung der geometrischen Raumstruktur
veränderte Wahrnehmung des Ablauftempos der Zeit (Zeitlupe oder Zeitraffer)
Haften optischer Eindrücke im Gesichtsfeld
Klang veränderte Wahrnehmung akustischer Reize (veränderter Klang von Stimmen, z.B. hohl, roboterartig, Micky-Maus-Effekt, Nachhall-Effekt)

3.1.2. Körperbedingte Störungen der unmittelbaren Wahrnehmung
Körperbedingte Störungen der unmittelbaren Wahrnehmung beruhen vermutlich auf Störungen im Stoffwechsel der Neurotransmitter.

Störungen der unmittelbaren Wahrnehmung durch körperliche Ursachen spielen eine wichtige Rolle. Zahlreiche Erkrankungen, die die Struktur oder den Stoffwechsel des Gehirns betreffen, verursachen Psychosen. Zu den wichtigsten Symptomen der Psychosen zählen Trugwahrnehmungen, also Halluzinationen. Außerdem kann es zu Ich-Störungen kommen.

Beide Symptomgruppen bezeichnet man als produktiv. Der Begriff verweist darauf, dass es sich bei Trugwahrnehmungen nicht um die verzerrte Wahrnehmung tatsächlicher Sinnesreize handelt, die mittelbar von außen kommen, sondern um eigenständige Produkte des Gehirns.

Ähnliches gilt für die besondere Wahrnehmungsqualität, die sich zu sogenannten Ich-Störungen verdichtet. Dabei glaubt der Kranke zu spüren, wie ihm fremde Gedanken und Gefühle von außen, also von anderen Personen eingeflößt werden. Die Gedanken fühlen sich nicht inhaltlich, sondern qualitativ verändert an; nämlich nicht dem Ich zugehörig. Man spricht auch von einer Störung der Meinhaftigkeit. Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich tatsächlich um eine veränderte Wahrnehmung oder bloß um eine wahnhafte Überzeugung handelt.

Alkohol und Drogen verursachen nicht nur Veränderungen der mittelbaren, sondern auch der unmittelbaren Wahrnehmung. Seelische Phänomene werden im Rausch anders empfunden oder neu entdeckt. Halluzinogene Drogen gelten auch als psychedelisch. Das heißt: Sie decken Qualitäten auf, die ohne Drogenwirkung nicht wahrnehmbar sind.

3.2. Seelische Ursachen
3.2.1. Seelisch bedingte Störungen der mittelbaren Wahrnehmung

Zu den seelisch bedingten Störungen der mittelbaren Wahrnehmung, also Störungen der Wahrnehmung und Zuordnung äußerer Sinnesreize zählen Fehlwahrnehmungen (z.B.: Illusionen oder Pareidolien), die posttraumatisch bei schweren seelischen Erschütterungen vorkommen oder bei extremen Spannungszuständen von Menschen mit ausgeprägten emo­tional-instabilen Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ.

Pareidolien gibt es auch bei psychisch Gesunden, zum Beispiel im Rahmen physiologischer Ängste in bedrohlich empfundenen Situationen (Betreten des Kellers). Die Ergänzung schwer deutbarer Sinnesreize zu Gestalten wird als Phänomen der Gestaltwahrnehmung erklärbar. Auch das Heraussehen von Figuren aus amorphen Tintenklecksen (Rorschach-Test) oder das Deuten der Zukunft aus dem Kaffeesatz ist strukturell mit der Pareidolie verwandt.

Der psychogene Schwindel, also das Gefühl, der Boden auf dem man geht, sei schwammig und unsicher, kann als seelisch bedingte Störung der Wahrnehmung gleichgewichtsregulierender Sinnesreize gedeutet werden. Als seelisch bedingt gelten auch die dissoziativen Störungen der mittelbaren Wahrnehmung.

Seelisch (mit)-bedingte Veränderungen der mittelbaren Wahrnehmung

Typ Beschreibung
Illusion
Fehlwahrnehmung
Illusionäre Verkennung tatsächlich gesehener Objekte, zum Beispiel Gesichter und Personen
Pareidolie Herauslesen oder Heraushören vermeintlich komplexer optischer oder akustischer Strukturen aus einfachen Sinneseindrücken (Stimmen aus Wasserrauschen, Gestalt aus Schatten im dämmerigen Wald)
dissoziative Wahrnehmungs­störungen dissoziative (veraltet hysterische) Blindheit, dissoziative Sensibilitätsstörungen, psychogene Schwerhörigkeit, psychogene Ageusie, psychogene Anosmie
Gleichgewichts­störung Gefühl von Gangunsicherheit und Schwindel als sogenanntes Angstäquivalent (somatisierter Ausdruck eines Angsterlebens)
Entfremdungs­erlebnis
Derealisation = diffus veränderte Wahrnehmungs­qualität der Realität an sich (entrückt, wie durch Schleier, befremdlich, unvertraut)
Depersonalisation = gleiche Erfahrung des eigenen Körpers bzw. eigener seelischer Inhalte (Dann handelt es sich eigentlich um eine Störung der unmittelbaren Wahrnehmung.)

Viele der genannten Wahrnehmungsphänomene treten gehäuft bei psychiatrischen Erkrankungen auf, die nachweislich oder vermutlich körperliche Ursachen haben:

3.2.2. Seelisch bedingte Störungen der unmittelbaren Wahrnehmung

Seelisch bedingte Wahrnehmungsstörungen sind als neurotisch aufzufassen. Sie betreffen in der Regel unmittelbar Wahrnehmbares, vor allem Gefühle und Impulse. Man spricht auch von einer Alexithymie, also vom Unvermögen, die eigenen Gefühle auszulesen. Mehr oder weniger starke Störungen der Gefühlswahrnehmung sind sehr verbreitet. Sie reichen so tief in die Normalpsychologie hinein, dass der "normale Mensch" gelegentlich als Normopath bezeichnet wurde.

Zwei wichtige Ursachen für Störungen der Gefühlswahrnehmung sind hervorzuheben:

Grundmotiv
Das Grundmotiv seelisch bedingter Störungen der unmittelbaren Wahrnehmung ist die Stabilisierung jenes Selbstbildes, mit dem sich das Ich gleichsetzt. Was es von seinem wahren Wesen nicht wahrhaben will, was sich der Erkenntnis aber durch seine Gegenwart anbietet, blendet das neurotische Ich durch Abwehrmanöver aus. Neurose ist zu glauben, etwas zu sein, was man nicht ist, und zu verhindern, dass man den Irrtum erkennt.
  1. Man ignoriert Gefühle, weil man Angst vor ihren Konsequenzen hat.
  2. Man verdrängt Gefühle, weil man sie als unangenehm und nutzlos empfindet.

Um sich unliebsame Gefühle und Impulse vom Halse zu halten, setzt man psychische Werkzeuge ein: sogenannte Abwehrmechanismen. Verbreitete Mechanismen sind:

3.2.3. Selektive Wahrnehmung

Unter Umständen kann man auch die selektive Wahrnehmung als seelisch bedingte Wahrnehmungsstörung auffassen.

Die selektive Wahrnehmung filtert die Wirklichkeit je nach Bedürfnis gemäß bestimmter Suchregeln. Im Umkehrschluss heißt das: Sie blendet aus. Was nicht zum Bedürfnis passt, nimmt sie nicht wahr. Allerdings ist das in der Regel nicht krankhaft. Es gehört zum normalen Realitätsbezug.

Drängt ein ehrgeiziger Vater seine Tochter jedoch ständig zum Leistungssport, ohne zu erkennen, dass das Kind ihm mit zusammengebissenen Zähnen folgt, um seine Liebe zu gewinnen, könnte man durchaus von einer seelisch bedingten Wahrnehmungsstörung mit pathologischer Bedeutung sprechen.

Gestörte Wahrnehmung durch kulturelle und soziale Einflüsse
Kulturell und sozial bedingte Denkgewohnheiten haben einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung. Auch sie führen zu einer Selektion des Wahrnehmbaren, sodass vorwiegend das wahrgenommen wird, was zum Denkmuster passt. Anderes wird ausgeblendet. Je mächtiger kulturelle Denkmuster sind und je größer die Bereitschaft des Individuums, entsprechende Muster ungeprüft zu übernehmen, desto stärker wird die Wahrnehmungsfähigkeit seelisch bedingt eingeschränkt.
3.2.4. Fokussierungsstörung

Als Gegenteil der selektiven Wahrnehmung ist die Fokussierungsstörung zu erkennen. Dem Kranken gelingt es nicht, aus dem Spektrum des Wahrnehmbaren das herauszufiltern, was zu einem momentanen Vorhaben gehört. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit ständig abgelenkt:

  1. durch allfällige Sinnesreize von Wahrnehmungsobjekten der äußeren Realität
  2. durch wechselnde Wahrnehmungsobjekte der inneren Realität: Einfälle, Ideen und Gedanken, die stets neue Impuls auslösen, sich dem frisch Aufgetretenen zuzuwenden.

Dem Kranken gelingt es nicht, sich auf Relevantes zu konzentrieren. Das klassische Beispiel einer Fokussierungsstörung ist die ADHS. Auch bei der ADHS ist es vermutlich so, dass sich seelische und somatische Ursachen ergänzen.

4. Abgrenzungen

Von den bisher benannten Wahrnehmungsphänomenen sind seelische Erlebnisweisen abzugrenzen, die entweder...

4.1. Wahnwahrnehmung

Bei der Wahnwahrnehmung werden äußere Objekte korrekt wahrgenommen, es wird ihnen aber eine Bedeutung zugesprochen, die ihnen objektiv kaum zukommen kann.

Am Südeingang der City-Arkaden kam mir ein Mann mit Hut entgegen. Da wusste ich, dass ich mich vor dem Betreten der Arkaden hüten sollte.

Tatsächlich ist die Wahnwahrnehmung keine Wahrnehmungsanomalie. Sie ist eine wahnhafte Interpretation korrekt wahrgenommener Objekte.

4.2. Déjà vu, Déjà vécu

Beim vermeintlichen Wiederkennen von Personen oder Situationen [Déjà vu (französisch: bereits gesehen) bzw. Déjà vécu (bereits erlebt)] handelt es sich ebenfalls um keine Wahrnehmungsstörung. Das Faktische wird gestaltgetreu wahrgenommen, wie es ist. Durch eine Erinnerungsfälschung, hat der Betroffene aber das Gefühl, die entsprechende Person bereits zu kennen oder das aktuelle Erlebnis bereits erlebt zu haben.

Erinnerungsfälschungen können als bloße Irrtümer auf bloßer Ähnlichkeit beruhen. Als eindeutig pathologische Phänomene kommen sie bei Temporallappenepilepsie vor. Das deutet darauf hin, dass die Identifikation eines aktuellen Wahrnehmungsobjekts mit einem erinnerten ein eigenständiger neuropsychologischer Mechanismus ist.

4.3. Leibhaftige Bewusstheit

Bei der leibhaftigen Bewusstheit handelt es sich um eine Präsenzhalluzination. Im Gegensatz zu den eigentlichen Halluzinationen fehlt aber ein erkennbares Wahrnehmungsobjekt.

Obwohl ich niemanden sehen kann, bin ich mir sicher, dass da jemand ist.

4.4. Eidetische Bilder

Eidetische Bilder abrufen zu können ist eine Sonderbegabung. Sie kommt gehäuft bei autistisch veranlagten Personen vor. Dabei können gelesene Texte oder vordem wahrgenommene Objekte so deutlich aus der Erinnerung vorgestellt werden, dass es dem Eidetiker möglich ist, Details des erinnerten Materials so korrekt wiederzugeben, dass der Nicht-Eidetiker vor Neid erblasst. So manchem eidetisch Begabten ist seine Erinnerungsfülle aber eine irritierende Last, sodass er die Begabung als Plage empfindet.

4.5. Synästhesie
Vorstellung oder Wahrnehmung
Die Plastizität synästhetischer Wahrnehmungen kann unterschiedlich sein. Am einen Ende des Spektrums mag sie kaum von regelhafter Wahrnehmung zu unterscheiden sein, am anderen geht sie in eine übernormal lebhafte Vorstellung über. So ergibt sich die Frage, ob bei der Synästhesie tatsächlich etwas wahrgenommen wird oder ob das Phänomen auf assoziativer Vorstellung beruht. Immerhin: Es fällt nicht schwer, dumpfem und stechendem Schmerz unterschiedliche Farben oder Töne zuzuordnen. Selbst die Aussage, Schmerz sei dumpf oder stechend, assoziiert ihn bereits mit stumpf oder spitz; also mit der optischen Wahrnehmung geometrischer Formen. Und jeder weiß, was mit hellen und dunklen Klängen gemeint ist.

Unter einer Synästhesie (griechisch synaisthanomai [συναισ-θανομαι] = mitempfinden) versteht man ein Mitschwingen sinnlicher Erfahrungsfelder, die durch den tatsächlichen Sinnesreiz primär nicht angesprochen sind. So kann es zum Hören von Farben kommen oder umgekehrt: Töne werden zeitgleich zum Klang auch visuell-farblich wahrgenommen; in der Regel nicht als eine Überlagerung des optischen Wahrnehmungsfelds, sondern parallel dazu vor einem inneren Auge. Auch andere Synästhesien werden berichtet:

Während eine Minderheit synästhetische Wahrnehmungen als spontane Begabung erlebt, kommen sie bei der Mehrzahl bestenfalls unter dem Einfluss psychedelischer Drogen vor. Bestenfalls heißt aber nicht, dass es anzuraten wäre, aus Neugier bedenkenlos solche Drogen einzunehmen. Das könnte statt netter Effekte üble Folgen haben. Es ist davon auszugehen, dass eine spontane Begabung zur Synästhesie durch Übung fortentwickelt werden kann.

Wer das Wahre in seine Obhut nimmt, verbündet sich mit dem Leben.

5. Das Wahre annehmen

Viel war von Wahrnehmungsstörungen die Rede. Da könnte man meinen, der Wahrnehmung sei nicht zu trauen. Das Gegenteil ist der Fall; trotz ihrer Anfälligkeit für Irrtümer und Unvollständigkeit. Worauf sonst sollte man vertrauen, als auf die eigene Fähigkeit, als wahr Erkanntes auf- und anzunehmen?

Vorläufiges Wissen

Nachdem ich etwas wahrgenommen habe, nehme ich an, dass wahr ist, worauf mich das Angenommene verweist.

Ich nehme an, dass... Das heißt: Ich vermute. Es heißt nicht: Ich habe Gewissheit.

Es könnte sein, dass der Baum halluziniert war. Es könnte sein, dass sich der Widerwille nicht gegen das vordergründige Objekt richtet, an dem er sich entzündet, sondern gegen die Lust, auf das Objekt zuzugreifen. Dann wäre er eine Reaktionsbildung gegen einen Impuls, den ich fürchte.

Die Erkenntnis des Wahren ist für zweierlei notwendig:

  1. Für die Orientierung der Person auf der Bühne des Lebens

    Stellen Sie sich vor, im Marzipanrezept wäre als Zutat Bauchfleisch angegeben. Pfui!

  2. Für die Befreiung des Ich aus den Grenzen des Selbstbilds

Kurzum: Das Wahre führt und heilt.

Nicht dass sich die Wirklichkeit, deren Wahrsein wir wahr­nehmen könnten, vor uns verbirgt, die Wahrnehmung des Wahren wird vielmehr durch Faktoren eingeschränkt, die uns selbst anhaften:

Nicht nur bei den kleinen Gaunern, die uns schon beim Zähneputzen aus dem Badezimmerspiegel treuherzig in die Augen schauen, ist in Sachen Vertrauenswürdigkeit gesunde Skepsis angebracht, sondern auch bei Medien. Von Medien wird so manches als Wahrheit angeboten, was nur eine Maske des tatsächlich Wahren ist oder völlig daran vorbeigeht.

Wer sich das Wahre als Fertigware liefern lässt, statt sich darum zu bemühen, nimmt oft etwas zu sich, dem wahrer Nährwert fehlt.

Wahrnehmung ist trotz der Offensichtlichkeit des Wahrnehmbaren keine Wahrbekommung. Wer sich das Wahre nehmen will, kann nicht darauf vertrauen, dass das, was er umsonst bekommt, bereits das Wahre ist. Wer sich das Wahre nehmen will, muss sich darum bemühen. Das Wahre im Wahrnehmbaren ist eine Braut, die umworben werden will.

Zudem gilt: Der Zyklus vollständiger Wahrnehmung ist nicht abgeschlos­sen, indem man einen Sachverhalt kognitiv erkennt. Zur Wahrnehmung gehört auch, das als wahr Erkannte anzunehmen. Geschieht das nicht, beobachtet man das Wahrgenommene aus der Ferne. Die heilende und wohlmeinend führende Wirkung, die vom Wahren ausgeht, kann bei dem, der auf Distanz bleibt, nicht wirken.

Das als wahr Erkannte anzunehmen, erfordert eine Stellungnahme. Erst, wenn man sich dem Wahren zuwendet und sich seiner Wirkung überlässt, fließt seine Kraft ungehindert in die seelische Entwicklung ein.

Ein vollständiger Wahrnehmungszyklus besteht aus zwei Schritten:

  1. Zuerst werden Sachverhalte mittelbar oder unmittelbar erkannt. Dabei gilt es, sie von Vermutungen und Urteilen zu unterscheiden.

  2. Im zweiten Schritt wird das Wahrgenommene nicht nur als wahr erkannt, sondern als wahr angenommen. Erst so wird es zum Baustein der seelischen Entwicklung.

Praktische Konsequenzen: