Neurose


  1. Begriffsbestimmung
  2. Abgrenzungen
  3. Psychologische Ursachen
  4. Gesellschaftliche Faktoren
  5. Behandlung und Verhütung
Erkennen Sie Ihr Ego. Verdrängen Sie es nicht.

Der Neurotiker versucht, andere für seine Zwecke zu vereinnahmen. Der Gesunde lässt sie über sich selbst bestimmen.

1. Begriffsbestimmung

Im Begriff Neurose tauchen zwei griechische Wurzel auf: Neuron [νευρον] = Nerv und -ose [-ωσις]. Die griechische Nachsilbe [-ωσις] kann hier ungefähr mit der deutschen -keit übersetzt werden. Eine Neurose ist also eine "Nervlichkeit". Gemeint ist eine Krankheit, die etwas mit den "Nerven" zu tun hat.

Obwohl der Begriff bereits 1776 von Cullen eingeführt wurde, verschaffte ihm erst Sigmund Freud nachhaltige Verbreitung. Das psychoanalytische Erklärungsmodell vieler psychischer Störungen fußte lange Zeit auf Freuds Konzept des ungelösten Ödipuskomplexes (1910), den er als ausschlaggebende Ursache aller sogenannten neurotischen Erkrankungen ansah. Freuds Konzept wird heute nur noch von wenigen Psychiatern geteilt, sodass der Begriff weitgehend aus der offiziellen psychiatrischen Nomenklatur (ICD und DSM) verdrängt wurde.

Ursache der Verdrängung ist zweierlei:

  1. Das psychoanalytische Krankheitsmodell denkt eine kausale Verursachung mit, die mit streng wissenschaftlichen Mitteln nicht objektiviert werden kann. Die heutige Psychiatrie bevorzugt daher beschreibende Diagnosen, die auf eine begleitende Benennung der Ursachen mangels Beweisbarkeit verzichten.

  2. Freuds hypothetische Erklärung der Neurose als eine Folge unbewusster ödipaler Triebkonflikte erscheint den meisten Psychiatern heute als verallgemeinernd, unpräzise oder gar abwegig.

Dass die konkreten Ursachen psychischer Störungen nicht beweisbar sind, macht Modelle, die sie in grundlegende Kategorien einzuteilen versuchen aber nicht nutzlos. Die Abgrenzung ist zu plausibel um sie völlig zu verwerfen. Dass eine Psychose nach LSD-Konsum eine kategorial andere Ursache hat als eine Soziale Phobie wird kaum jemand bezweifeln. Deshalb macht der Versuch einer theoretischen Unterscheidung von neurotischen und nicht-neurotischen Störungen Sinn. Sie ist in der Praxis außerordentlich befruchtend. Ohne sie würde nur symptomatisch behandelt. Die Menge verordneter Psychopharmaka würde drastisch steigen.

2. Abgrenzungen

Drei wichtige Kategorien der Psychiatrie sind zu unterscheiden:

2.1. Neurose und Psychose

Alle seelischen Störungen lassen sich zunächst zwei Mechanismen zuordnen, durch die sie im Organismus entstehen.

  1. Psychosen sind Folge organischer Veränderungen und materieller Einflüsse.

  2. Neurosen sind Folge persönlicher Reaktionsweisen auf innerseelische Zustände und äußere Realitäten.

Polare Gegensätze

Psychose Neurose
Die Ursachen der psychotischen Symptome liegen jenseits der Psyche. Sie wirken von außen darauf ein. Neurotische Symptome entstehen von innen aus der psychischen Dynamik heraus.
Die Symptome sind grundlegend nur mittelbar zu beeinflussen; zum Beispiel durch Substanzen, die in den Stoffwechsel eingreifen oder physikalische Maßnahmen (z.B. EKT). Die Symptome sind unmittelbar und mittelbar zu beeinflussen; mittelbar durch Substanzen, unmittelbar durch seelische Aktivität, also durch Erkenntnis, Wahrnehmung, Deutung und Willensakte.
Psychotische Störungen können durch Substanzen verursacht werden, z.B. durch medikamentöse Nebenwirkungen. Oder sie werden absichtlich herbeigeführt, um die Symptome von Neurosen auszugleichen; zum Beispiel durch den Einsatz von psychotropen Substanzen, die das Bewusstsein verändern. Neurotische Symptome können zu Substanzmissbrauch führen, im Sinne einer krankhaften Lösungsstrategie.

Der neurotische und der psychotische Mechanismus der Krankheitsentstehung kann als polarer Gegensatz dargestellt werden. Der Mensch ist jedoch eine psychosomatische Einheit. Im konkreten Fall kommt es oft zu einer Vermischung beider Elemente. Die theoretische Klarheit der polaren Gegensätze geht verloren.

Subjektive Diagnostik
Die Körpermedizin hat messbare Fakten vor sich. Sie misst Laborwerte, Blutdruck, Fieber und Herzfrequenz. Beim Röntgen sieht man Knochenbrüche und Tumore. Mit dem Stethoskop hört man verdächtige Geräusche.

Die Psychiatrie hat es schwerer. Nichts von dem, was sie zu heilen versucht, ist durch objektive Mittel messbar. Auch Psychotests sind Ausdruck subjektiver Denkmodelle. Deshalb sind diagnostische Kategorien nur unscharf abzugrenzen. Niemand kann verbindlich entscheiden, was als normal, neurotisch, psychotisch oder persönlichkeits­gestört aufzufassen ist.

2.2. Psychogene Psychosen

Nicht alles, was wie eine organisch, endogen oder stofflich verursachte Störung aussieht, ist eine Psychose im eben definierten Sinne. Endogen heißt von innen heraus. Gemeint ist dabei nicht aus der Persönlichkeitsdynamik heraus, sondern aus der stofflichen Grundlage heraus. Der Begriff bezeichnet die vermutliche Ursache endogener Psychosen sowie endogener Depressionen und Manien. Als deren Ursache nimmt man Stoffwechselstörungen an.

Psychotische Symptome, zum Beispiel Wahn, können auch durch seelische Aktivität verursacht werden. Man spricht von einer psychogenen Psychose. Man könnte das Phänomen auch als "neurotische Psychose" bezeichnen. Der Begriff hat sich jedoch nicht eingebürgert.

Ob seelische Aktivität zu einer Neurose oder zum Bild einer Psychose führt, hängt von der Wahl der Abwehrmechanismen ab. Allen Abwehrmechanismen gemeinsam ist ihr Versuch, die Wirklichkeit anders zu deuten, als sie ist.

Art der Abwehr und ihre Folgen

Der Widerstand gegen die Akzeptanz der Wirklichkeit ist entweder...
neurotisch oder psychotisch
Die Wirklichkeit wird grundsätzlich anerkannt. Die Wirklichkeit wird verworfen.
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit wird durch Abwehr­mechanismen verzerrt. Die Wirklichkeit wird durch ein Wahnbild ersetzt.

Als Beispiele psychogener Psychosen können paranoide Entwicklungen bei Schwerhörigen oder bei sozialer Isolation sowie die Folie à deux (französisch: Verrücktheit zu zweit) genannt werden.

2.3. Neurose und Persönlichkeitsstörung

Die Unterscheidung zwischen Neurose und Persönlichkeitsstörung ist theoretisch klar. In der Praxis ist sie oft willkürlich.

Tatsächlich gehen beide Kategorien fließend ineinander über. Persönlichkeitsstörungen werden regelhaft durch chronisch kränkende Erlebnisse hervorgerufen, die nicht angemessen verarbeitet werden. Da die Kränkungen meist in der frühen Kindheit beginnen, ist eine Abgrenzung gegenüber angeborenen Charaktereigenschaften schwierig. Zudem entscheiden angeborene Charaktereigenschaften ihrerseits darüber mit, ob der Betroffene auf Kränkungen angemessen reagiert oder nicht.

Angemessen oder nicht
Der Begriff angemessene Reaktion ist schnell gewählt. Objektiv definiert ist er nicht. Folgende Definition könnte konsensfähig sein: Die Reaktion auf ein kränkendes Ereignis ist angemessen, wenn sie...

  1. das Wohlbefinden der gekränkten Person wiederherstellt,
  2. ihre Persönlichkeits­entwicklung fördert,
  3. und das Umfeld, in das sie eingebettet ist, nicht schädigt.

3. Psychologische Ursachen

Neurosen entstehen durch die Eigenaktivität der Psyche. Das gilt ebenso für den Teil einer Persönlichkeitsstörung, der keiner angeborenen Charakterneigung entspricht. Um den Grundmechanismus der Patho­genese, also der Krankheitsentstehung, zu verstehen, gilt es, Struktur und Psychodynamik des bewussten Individuums zu betrachten. Zur Struktur gehört der Unterschied zwischen Selbst und Selbstbild. Zur Psychodynamik gehört die Reaktion auf Infragestellungen des Selbstbilds.

3.1. Selbst und Selbstbild

Das bewusste Individuum existiert als faktische Realität. In Wirklichkeit ist es zu jedem Zeitpunkt so, wie es zu diesem Zeitpunkt eben ist. Innerhalb der Wirklichkeit vollzieht es einen Wandlungsprozess. Manches wandelt sich dabei. Anderes bleibt, wie es ist.

Ich-Ideal
Als Ich-Ideal bezeichnet man das Bild des Ich, das man als Soll annimmt. Ich sollte so und so sein. Der normale Mensch geht davon aus, dass er dem Bild zum Teil entspricht. Den anderen Teil nimmt er entweder als fehlend hin, oder er versucht, sich dem Bild anzupassen.

Zum Bewusstsein gehört aber auch, dass sich das Individuum ein Bild von sich macht. Dieses Bild setzt sich aus drei Komponenten zusammen:

  1. aus dem, was man vom eigenen Wesen tatsächlich erkennt.
  2. aus dem, was man sich einbildet zu sein, weil man es gerne wäre.
  3. aus dem, was man anstrebt zu sein, weil man es als Soll betrachtet.

Wie neurotisch ein Mensch ist, hängt von der Ausrichtung seiner seelischen Haltungen, seinen Identifikationen und seinem Urteil über sich selbst ab.

Unterschiede

Gesund Neurotisch
Der Gesunde schaut auf sich selbst. Er versucht zu erkennen, wie er tatsächlich ist. Er neigt dazu, das Erkannte zu akzeptieren. Widersprüche nimmt er als kreative Spannung an. Er vertraut darauf, dass sich Erfolg im Leben einstellt, wenn er sich selbst treu bleibt. Der neurotische Mensch schaut auf den Erfolg. Er fragt nicht, wie er wirklich ist, sondern wie er sein sollte, damit er vom Leben, und vor allem von anderen, bestätigt wird. Widersprüche deutet er als Schwäche und Missstand. Passt das, was er von sich selbst erkennt, nicht zu seinem Plan, bekämpft er es.
Der Gesunde identifiziert sich mit sich selbst. Der Kranke identifiziert sich mit seinem Selbstbild. Sein Ziel ist nicht die Bejahung seiner selbst, sondern die Verwirklichung seines Ich-Ideals.
Ich bin, wie ich bin. Ich will werden, wie ich sein sollte.
Was ich tatsächlich bin, bejahe ich. Was ich tatsächlich bin, lehne ich ab, wenn es nicht meiner Vorstellung entspricht.

3.2. Kränkung, Erleben und Widerstand

Durch den Lauf der Dinge wird jedes Selbstbild infrage gestellt. Wenn etwas erkennbar wird, was man bisher anders sah, steht man vor der Wahl:

Eine Erkenntnis zu akzeptieren, heißt mehr, als dass man sie abnickt. Wirklich akzeptiert wird eine Wahrheit nur, wenn man die Gefühle, die sie auslöst, bis zum Ende erlebt. Wenn man den Kelch nicht austrinkt, bleibt der Bodensatz zurück. Oft enthält er den eigentlichen Nährstoff.

Bei der Entscheidung, ob man eine Erkenntnis akzeptiert oder nicht, spielt die Qualität der Gefühle, die durch die Erkenntnis ausgelöst werden, eine wesentliche Rolle. Angenehme Gefühle sind leicht zu akzeptieren, unangenehme nicht. Je nachdem, mit welchem Gefühl man auf eine Erkenntnis reagiert, begrüßt man sie oder man empfindet sie als Bedrohung, die abzuwehren ist.

Die Entscheidung, die man an dieser Stelle trifft, ist die Entscheidung über gesund oder krank. Weicht man dem Erlebnis unangenehmer Erfahrungen aus, indem man sich diverser Abwehrmechanismen bedient, um das Unerwünschte aus dem Bewusstsein zu vertreiben, entsteht ein chronischer Konflikt zwischen Selbstbild und Wirklichkeit; und damit zwischen Selbstbild und Selbst, denn das Selbst ist Ausdruck der Wirklichkeit.

Gefühle sind mehr als die Farben der Lebendigkeit. Sie liefern Erkenntnisse, ohne die das Selbstbild steckenbleibt.
3.2.1. Erfahrung und Erkenntnis

Das Gefühl, das durch eine Erkenntnis ausgelöst wird, ist nicht nur eine Reaktion, die man annimmt oder bekämpft. Das Gefühl beinhaltet seinerseits Erkenntnisse. Oft sind es solche, die nicht willkommen sind.

Schmerzhafte Erkenntnisse betreffen nicht nur Vorstellungen über soziale Positionen, sondern auch über die eigene Persönlichkeitsstruktur. Fehlt der Mut, der Struktur ins Auge zu sehen, beginnt ein innerer Kampf gegen die Verwirklichung des wahren Selbst. In der Konsequenz vertieft das Selbstwertzweifel.

3.2.2. Ereignis und Reaktion

Um die Gefahr zu mindern, Teile seiner selbst abzulehnen, gilt es, zwischen Ereignis und Reaktion zu unterscheiden. Unterscheidet man nicht, vermengt man zwei Kategorien; und schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Integration
oder
projektive Identifikation?

Der Verursacher eines Gefühls ist nicht das Ereignis oder der, von dem es angestoßen wird. Der Verursacher ist die eigene Neigung, so und so zu reagieren. Wer seine Reaktion dem Ereignis zuordnet, lehnt nicht nur Verantwortung für sich ab. Er festigt ein Selbstbild, in dem er intime Teile seiner selbst unter die Herrschaft anderer stellt. Wird das sein Selbstwertgefühl stärken?

Oft fasst man das Ereignis und die Reaktion darauf als Einheit auf. Man betrachtet Gefühle als Begleiterscheinungen der Ereignisse. Fühlt sich das Ganze unangenehm an, versucht man nicht nur eine Wiederholung des Ereignisses zu verhindern, sondern man weist die ganze Erfahrung als vermeintlich schädlich zurück. Man verdrängt, verleugnet oder rationalisiert sie. Wer gemachte Erfahrungen aber zurückweist, weil sie weh tun, untergräbt die eigene Integrität.

3.2.3. Narzisstische Verzerrung

Die normale Realitätsdeutung sieht die Person als Partikel in einem Feld. Während vom Feld nur ein Bruchteil zu erkennen ist, stehen der Person ihre eigenen Belange unübersehbar vor Augen. In der Folge neigt sie dazu, ihre Bedeutung zu überschätzen.

Derzeit bevölkern...

... Menschen die Erde. Eine unvorstellbare Zahl! Legt man sie der Berechnung zugrunde, kommt einer einzelnen Person eine Bedeutung von...

Die Zahl erscheint nur, wenn Ihr Browser JavaScript zulässt.

Grundirrtum

Der Grundirrtum der Neurose liegt darin, dass der Einzelne seiner Person mehr Bedeutung zumisst, als ihr in Wirklichkeit zukommt. Davon auszugehen, dass der eigenen Person kaum Bedeutung zukommt, ist ein Impfstoff, der den meisten psychischen Erkrankungen zuverlässig vorbeugt.

Ihre Person hat kaum Bedeutung. Bedeu­tung haben nur Sie selbst. Unterscheiden Sie zwischen sich und Ihrer Person. Sie selbst sind das, was Sie sind. Ihre Person ist das, als was Sie erscheinen.

Evolution und Individuation

Dass sich der Einzelne instinktiv große Bedeu­tung beimisst, ist ein nützliches Werkzeug der Evolution. Wie sonst fände er den Eifer, für seinen Vorteil zu streiten. Was für die Phylo­genese der Spezies notwendig ist, führt individualpsychologisch oft auf ein Minenfeld unrealistischer Erwartungen.

Diese Zahl beschreibt die soziale Bedeutung. Eine der vielen Personen hat ausge­rechnet, dass bislang einhundert Milliarden Menschen lebten. Also Pi mal Daumen noch zwei Nullen mehr für jeden Einzelnen was seine historische Bedeutung angeht. Eine Berechnung der kosmi­schen Bedeutung des Einzelnen ersparen wir uns aus Rücksicht auf die beschränkten Möglichkeiten des Taschenrechners. Man sieht also: Die Bedeutung des Einzelnen tendiert in Wirklichkeit gegen Null; selbst wenn man den humanoiden Rassendünkel pflegt und andere Geschöpfe bei der Zumessung ausklammert.

Den meisten neurotischen Phänomenen wäre die Grundlage entzogen, schriebe der Einzelne seiner Person nur so viel Bedeutung zu, wie ihr tatsächlich zukommt.

Auch bei anderen neurotischen Störungen schimmert die Überschätzung der eigenen Bedeutung durch die vordergründigen Erscheinungen hindurch.

Es gehört zur Funktionsweise des Ego, die Bedeutung der Person zu überschätzen. Es gehört zur Reifung der Person, diesen Irrtum zu durchschauen.

Der beschriebene Zusammenhang zwischen Überschätzung der eigenen Bedeutung und seelischem Leid beschäftigt auch die spirituelle Tradition. Dort wird versucht, sich aus der Anhaftung ans Ego zu lösen. So lautet die Sprachwahl des Buddhismus.

Das Ego, aus dessen Zugriff sich der spirituelle Mensch zu befreien versucht, ist keine eigenständige Instanz. Das Ego ist begrifflicher Repräsentant eines Selbstbilds, das das Ich mit der Person gleichsetzt und deren Belangen eine so überragende Bedeutung zuspricht, dass die Person es partout nicht unterlassen kann, darüber nachzudenken.

Größenwahn und Größenirrtum

Die realitätsfremde Einschätzung der eigenen Bedeutung betrifft nicht nur das neurotische Selbstbild. Beim psychotischen Selbstbild wird sie erst recht virulent. Ein Kernsymptom der Psychose ist das Beziehungserleben. Der Kranke bezieht alles auf sich; als stünde er im Mittelpunkt der Welt, als habe er eine solche Bedeutung, dass sich alles und jeder mit ihm befasst. Was bei der Neurose Irrtum bleibt, wird bei der Psychose zum Wahn. Bei der Neurose zieht das Trugbild leise an den Strip­pen, bei der Psychose drängt es lautstark in den Vordergrund.

4. Gesellschaftliche Faktoren

Betrachtet man das bisher Gesagte, könnte man meinen, Neurosen seien ausschließlich individualpsychologische Fehlentwicklungen. Das ist falsch. Das Grundprinzip der Neurose ist Untreue zu sich selbst. Wer sich selbst nicht annimmt, wie er ist, sondern gegen Teile seines Soseins ankämpft und sich Bildern anzupassen versucht, leidet neurotisch.

Daraus folgt unmittelbar, dass der Anpassungsdruck, den das soziale Umfeld auf das Individuum ausübt, ein mächtiger Faktor bei der Verursachung von Neurosen ist.

4.1. Trauma und Missstand

Neurotische Entwicklungen können durch einzelne Ereignisse angestoßen werden. Solche Ereignisse nennt man traumatisch, also verletzend. Ist das Trauma groß, löst es eine posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine posttraumatische Belastungs­störung ist eine Sonderform der neurotischen Entwicklung. Punktuelle Traumata können Gewaltakte, sexueller Missbrauch oder schwere Demütigungen anderer Art sein.

Als Erwachsener ist man Missständen ausgesetzt. Als Kind ist man Ihnen ausgeliefert.

Häufiger werden Neurosen aber nicht durch wuchtige Einzelereignisse ausgelöst, sondern durch dauerhafte psychosoziale Missstände, denen man besonders in der Kindheit ausgeliefert ist. Traumatisierend sind Missstände vor allem dann, wenn sie den Eigenwert des Individuums leugnen und/oder sein Selbstbestimmungsrecht infrage stellen. Der Verzicht des Einzelnen auf sein Selbstbestimmungsrecht wird in der Regel durch die Drohung erzwungen, ihn bei mangelndem Gehorsam aus der Gemeinschaft zu verstoßen oder ihm gezielt zu schaden. Wenn du nicht tust, was wir wollen, grenzen wir dich aus oder wir bestrafen dich. Zu den chronisch traumatisierenden Umständen gehören:

Grundregel

Je mehr jemand durch andere lebt, als aus sich selbst heraus, desto neurotischer ist er.
Einbeziehungen

Ein persönliches Beziehungsverhalten ist neurotisch, wenn einer den Anderen für seine Zwecke vereinnahmt; und erst recht, wenn sich die Partner wechselseitig zu vereinnahmen versuchen. Vereinnahmung kann auf zweierlei Arten vonstattengehen:

  1. unmittelbar fordernd mit unverblümtem Dominanzanspruch
  2. manipulativ durch verdeckte Beeinflussung

Unmittelbar fordernd sind ich-starke Personen, die es aus narzisstischem Anspruch heraus oder zur Abwehr unbewusster Verlustängste für selbstverständlich halten, sich ins Leben anderer einzumischen. Ihnen ist klar, dass sich der Andere so oder so verhalten sollte; und wehe, der Betreffende hält sich nicht an die Vorgaben der Regie.

Noch häufiger sind manipulativ neurotische Muster. Sie werden sowohl von ich-starken als auch von ich-schwachen Persönlichkeiten eingesetzt. Manipulativ ist jedes Verhalten, das verdeckt darauf abzielt, das Denken, Fühlen und Handeln des Gegenübers zu steuern.

Gewiss: Auch gesundes Verhalten beeinflusst das Denken, Fühlen und Handeln des Umfelds. Im Gegensatz zum neurotischen ist die Beeinflussung aber kein verdecktes Motiv. Der Gesunde handelt in Übereinstimmung mit sich selbst und respektiert die Reaktionen des Umfelds. Der Neurotiker spielt die Rolle, von der er sich den gewünschten Effekt auf andere erhofft. Er will die Reaktion des Umfelds bestimmen. Kaum je ist ihm bewusst, wie sehr er es tut.

Eine Sonderform ist das gleichgültige Elternhaus. Gleichgültige Eltern fordern zwar keinen Verzicht auf die Selbstbestimmung, sie senden aber eine pathogene Botschaft: Du bist uns egal. Das Desinteresse solcher Eltern verunsichert das Kind, indem sie ihm das Gefühl schützender Zugehörigkeit vorenthalten. Die resultierende Angst des Kindes untergräbt dann dessen Mut, über sich selbst zu bestimmen.

4.2. Identifikation und Reaktionsbildung

Zwei Mechanismen spielen bei der Entstehung posttraumatischer Störungen eine große Rolle: Identifikation und Reaktionsbildung.

In der Praxis verzahnen sich beide Mechanismen. Dadurch entstehen individuell unterschiedliche Muster.

4.3. Der Ödipuskomplex

Obwohl der Ödipuskomplex, so wie Freud ihn als Ursache neurotischer Störungen beschrieben hat, heute nur noch von wenigen Therapeuten als pathogener Faktor in den Vordergrund gestellt wird, liefern die Betrachtung seines Konzepts und seine kulturhistorische Einordnung wichtige Erkenntnisse.

4.3.1. Theoretisches Konzept

Der Begriff Ödipuskomplex bezieht sich auf einen altgriechischen Mythos. Ödipus soll seinen Vater Laios getötet und dessen Witwe Iokaste, also seine Mutter geheiratet haben. Freud behauptet, dieser Mythos verweise auf zweierlei:

  1. eine Erfahrung, die Söhne in der Vorzeit in archetypischer Regelmäßigkeit faktisch machten und die in einem kollektiven Unbewussten der Völker abgespeichert sei (→ Totem und Tabu).

    In der Urhorde hätten sie gemeinsam ihren tyrannischen Vater ermordet um sich dessen Frauen anzueignen. Aufgrund des Schuldgefühls, das das Verbrech­en nach sich zog und um ihre Schuld durch Gehorsam zu sühnen, hätten sie den toten Vater vergöttert und sich ihm fortan rituell untergeordnet. So seien aus dem Konflikt ambivalenter Gefühle - der Bewunderung väterlicher Macht und der Schuld, die Macht durch Mord entthront zu haben - Kultur und Religion entstanden.

  2. eine innerseelische Dynamik, die in der Psyche des männlichen Kleinkindes im Rahmen der regulären Entwicklung ablaufe.

    Der Sohn habe den Wunsch, es den Söhnen der Urzeit gleichzutun. Er spüre den Impuls, seinen Vater zu ermorden, weil er die Mutter begehre und den Vater als Konkurrenten um deren Liebe empfinde. Da er den Vater zugleich liebe, erlebe er den Impuls schuldhaft und fürchte vom Vater zur Strafe kastriert zu werden.

Gemäß freudianischer Deutung stehe die Verdrängung des Schuldgefühls und die Verleugnung der mörderischen Impulse an der Wiege sämtlicher Neurosen.

4.3.2. Kulturhistorische Einordnung

Freuds Beschreibung der ödipalen Dynamik ist überwiegend individualpsychologisch. Zwar spricht er vom tyrannischen Vater, aber so, als sei der eine Figur der Vorzeit gewesen, die damals per Vatermord aus der Welt geschafft wurde, um fortan den Weg zu einer kulturellen Entwicklung zu öffnen, in der Väter keineswegs tyrannisch oder kastrierend sind, sondern Vermittler einer höheren Tradition, die dem Gemeinwohl diene und Söhnen keinerlei Anlass gebe, berechtigterweise aggressive Impulse gegen sie zu entwickeln. Deshalb sei die ödipale Aggression schuldhaft und die Kastrationsangst eine Projektion in Ambivalenzkonflikten gefangener Kinder auf schuldfreie Väter.

Mit dieser Darstellung bleibt Freud ein gehorsamer Sohn der patriarchalischen Kultur, deren Werte er, trotz all der geistigen Freiheit, die man bei der Lektüre seiner Werke genießen kann, als Introjekte verinnerlicht hat. Er übersieht, dass die Kastrations­drohung der jüdisch-christlichen Kultur keineswegs nur eine umherlichternde Angst­phantasie dreijähriger Knaben ist, sondern Alltag im konfessionell geprägten Milieu.

Die Betrachtung der ödipalen Thematik belegt...

  1. die große Bedeutung, die kulturellen Vorgaben bei der Entstehung neurotischer Erkrankungen zukommt.
  2. wie die Identifikation mit dem Aggressor dazu beiträgt, Ursache und Wirkung zu verwechseln.

Zeugenaussage

Ein afghanischer Flüchtling: In Afghanistan sind 90% der Leute psychisch krank. Wenn er damit Einschränkungen der gedanklichen Freiheit meint, die durch dogmatische Introjekte verursacht werden, mag er damit richtig liegen.

Der Auftrag des hebräischen Gottes an alle männlichen Erben Abrahams, ihre Söhne in den Gehorsam zu zwingen und sie gegebenenfalls auf Befehl zu töten, dringt in das Kinderzimmer eines jeden Elternpaares vor, das sich ernsthaft einer abrahamitischen Konfession verschreibt.

2 Moses 13, 8:*
Du sollst es deinem Sohne einschärfen...

5 Moses 13, 7-12:*
Wenn dein Bruder... oder dein Sohn oder deine Tochter oder die Frau an deiner Brust oder dein Freund, den du so lieb hast wie dein Ich, dich heimlich verführen wollen... andern Göttern (zu) dienen... so darfst du... nicht... sie schonen... Dem Tod sollst du sie überliefern! Deine Hand soll sich zuerst gegen sie erheben, um sie zu töten...

Die ödipale Aggression, die Freud bei seinen Analysen oft entdeckt haben mag und ihre kulturelle Sublimation ist daher nicht der Ursprung der Religion, sondern eine Folge pseudoreligiöser Irrwege, die Väter dazu anstiften, ihre Söhne einem Anpassungsdruck auszusetzen, der massiv mit Gewalt und Ausgrenzung droht. Die Beschneidung ist in diesem Zusammenhang unschwer als symbolische Kastration zu erkennen. Tatsächlich religiöse Väter fordern nicht den Gehorsam ihrer Söhne. Sie fördern deren Freiheit.

Sublimation

Sollten auch Sie ödipale Aggression und Begierde in sich tragen, kann eine sublimative Lösung vorgeschlagen werden, die weder Reue noch Schuld mit sich bringt. Befreien Sie die Wahrheit aus dem Zugriff von Irrtum und Selbstbetrug. Da auch Schönheit eine Inkarnation des Wahren ist, wird die gefreite Wahrheit einst als Weib erscheinen, das sich Ihnen hingeben wird. Nächte werden Seide sein.

5. Behandlung und Verhütung

Bei der Behandlung neurotischer Störungen spielen Medikamente eine nachgeordnete Rolle. Gegen Angst, Zwang und Depression können vor allem Antidepressiva wirksam sein. Die kausale Behandlung fußt auf Psycho- und Verhaltenstherapie. Dabei gilt es, den Patienten zu ermutigen, sein wahres Selbst zu akzeptieren, pathogene Introjekte zu verwerfen und freimütig seine Interessen zu vertreten.

Sobald man den Mechanismus versteht, der die neurotische Entwicklung auslöst, ergeben sich Ansätze und Grundregeln zur Heilung und Verhütung von selbst.

Neurotische Psychopathologie ist der Versuch, etwas anderes zu sein, als das, was man ist.

* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.