Gebet setzt sich aus zwei Teilen zusammen: der Vorsilbe Ge- und dem Verb bitten. Die Vorsilbe Ge- signalisiert analog zur ihrer Funktion im Begriff Gewissen auch beim Gebet eine Versammlung. Wer betet, versammelt sich vor dem, an den er das Gebet richtet.
Bitten geht auf althochdeutsch beitten = zwingen, drängen, fordern zurück. Dessen Ursprung wird im indoeuropäischen bheidh- = binden, flechten verortet.
Wer um etwas bittet, versucht den Gebetenen in seinem Sinne zu lenken. Dabei geht er davon aus, dass zur Beeinflussung des Gegenübers eine drängende Kraft vonnöten ist, die es dazu bringt, sich einbinden zu lassen. Ohne die drängende Kraft der Bitte würde der Gebetene nicht zum Vorteil des Bittstellers handeln, sondern den Impulsen folgen, die er ohne Eingriff von außen für richtig hält.
In der religiösen Praxis der Menschheit wird Intensität oft durch Inflation ersetzt. Ohne echte Sammlung werden Gebetsformeln wiederholt, Gebetsmühlen gedreht und Rosenkränze gleiten durch die Finger, während der vermeintlich Betende sich keineswegs vor dem Heiligen versammelt, sondern im Geiste woanders ist.
Bitten sind nicht selten inständig oder flehentlich. Damit wird der drängende Charakter der Bitte betont. Wer inständig bittet, besteht auf der Erfüllung seiner Wünsche. Er stellt nicht nur einen Antrag. Er fordert. Inständig ist eine Lehnübersetzung aus lateinisch instans = dringend, drohend, heftig.
Heute wird das Wort bitte oft dazu benutzt, den fordernden Ansatz, den die Bitte in sich trägt, freundlich zu ummänteln. Das Wort bitte beschwichtigt den Gebetenen, der auf die Forderung ansonsten unwirsch reagieren könnte. Wer bitte sagt, signalisiert: Ich bedränge dich nicht von oben. Ich appelliere von unten. Eine ähnliche Funktion hat das Wort flehen. Es ist mit niederländisch vleien = schmeicheln und altenglisch flāh = trügerisch verwandt. Wer fleht, fällt womöglich auf die Knie, um die Größe des Angeflehten zu unterstreichen. Trotzdem will er über dessen Taten bestimmen.
Im religiösen Gebet wendet sich der Bittsteller an Gottheiten. Um Gottheiten für die eigenen Zwecke einzubinden, bedarf es der Versammlung aller drängenden Kräfte, über die der Bittsteller verfügt. Die Bündelung der drängenden Kräfte wird durch die Vorsilbe Ge- angezeigt.
Die ursprüngliche Form des Gebets ist das Bittgebet. Beim Bittgebet wendet sich der Betende mit seinem Anliegen an göttliche Kräfte.
Das Dankgebet ist dem Bittgebet logisch nachgeordnet; obwohl man auch für etwas danken kann, um das man nicht gebeten hat. Nachdem der Wunsch, der im Gebet zum Ausdruck kam, in Erfüllung ging, dankt man den göttlichen Kräften, deren Wirkung man die Erfüllung des Wunsches zu verdanken glaubt.
Widerspruch
Das Bittgebet ist paradox. Der Betende wendet sich in der Hoffnung auf Hilfe vertrauensvoll an Gott. Zugleich signalisiert das Bittgebet aber mangelndes Gottvertrauen. Wer auf die Weisheit göttlicher Beschlüsse vertraut, kann eigentlich keinen Sinn darin sehen, sie zu beeinflussen.Das Dankgebet hat eine andere Funktion als das Bittgebet. Durch das Bittgebet will man etwas haben. Durch das Dankgebet will man etwas geben. Oft bleibt im Dankgebet die einbindende Zielsetzung des Gebets jedoch aktiv. Indem sich der Betende dankbar zeigt, sichert er sich für die Zukunft den Beistand der göttlichen Macht. Wenn ich mich als dankbar erweise, wird Gott meine Bitten auch morgen erhören.
Neben dem religiösen Ziel - der Einbindung göttlicher Kräfte in menschliche Pläne - haben Gebete drei weitere Funktionen:
Psychologische Funktion
Das Beten ist ein innerseelisches Regulativ.
Soziale Funktion
Dazu gehört das gemeinschaftliche Beten zur Festigung einer Gruppenidentität und zur Einbindung in die Gemeinschaft.
Politische Funktion
Eine politische Funktion hat das demonstrative Beten. Dabei geht es um den Einfluss auf das Umfeld.
Demonstrative Gebete
Politisch motiviert sind öffentlich betende Präsidentschaftskandidaten, reumütige Canossapilger oder ehemalige KGB-Offiziere, die sich nach dem Wechsel des politischen Systems als orthodox entpuppen. Demonstratives Beten, dessen Ziel darin beruht, für andere sichtbar zu sein, kann auch als Schutzmantel gegen deren Aggression vonnöten sein. Einer Vielzahl von Kirch-, Moschee- und Synagogengängern wird dieses Motiv bekannt vorkommen.Da beim demonstrativen Gebet keine Sammlung des Geistes vor Gott zustandekommt, der Betende vielmehr an den Effekt denkt, den seine Geste bei anderen bewirkt, ist der Begriff Gebet inhaltlich unberechtigt.
Zur Praxis des Gebets gehört die Vorstellung mindestens einer göttlichen Person, die dem Betenden als eine Instanz gegenübersteht, die er selbst nicht ist. Das Ich des Betenden wendet sich an das Du einer göttlichen Person. Der Betende geht dabei von zweierlei aus:
Dass die göttliche Macht sich dazu entscheiden kann, schädigend oder fördernd ins Leben des Betenden einzugreifen.
Dass er selbst in der Lage ist, die Entscheidungen der göttlichen Macht durch Gebete zu beeinflussen.
Der Glaube an eine göttliche Ebene der Wirklichkeit genügt für sich allein nicht, um zum Gebet zu motivieren. Zumindest Bittgebete setzen voraus, dass Gott überhaupt dazu bereit ist, zum Vorteil des Beters korrigierend in den Lauf der Dinge einzugreifen. Zwei theologische Konzepte stehen sich hier gegenüber: der Theismus und der Deismus.
Zwei Konzepte
Theismus | Deismus |
Gott hat die Welt geschaffen. Auch danach greift er von außen in den Ablauf der Ereignisse ein: durch Offenbarungen, Beauftragung von Propheten und Klerikern zur Vermittlung von Befehlen und zur Umsetzung seiner weiteren Pläne, die je nach Ablauf der Geschichte wechseln können. | Gott hat die Welt geschaffen. Da er aber von Anfang an alles in die Bahnen gelenkt hat, die er haben wollte, erübrigt sich jedes weitere Eingreifen. Die Weltgeschichte verläuft ohne punktuelle Eingriffe durch eine Instanz, die ihr nicht sowieso immanent wäre. |
Um Gott zu etwas zu bewegen, machen Gebete Sinn. | Durch Gebete kann Gott zu nichts bewegt werden. Die einzige Wirkung des Gebets kann in der Besinnung des Betenden auf die göttliche Ebene und/oder die Schaffung eines sozialen Zusammenhalts bestehen. |
Bitt- und Dankgebete sind animistischen bzw. heidnischen Ursprungs. Die Praxis des Gebets wurde von den politisch-konfessionellen Religionen des abrahamitischen Kulturkreises übernommen; obwohl ihre Anwendung dort theologisch gesehen nicht nachvollziehbar ist.
In der heidnisch-animistischen Vorstellung ist die Götterwelt plural. Der Frage, wer von den verschiedenen Göttern die Welt geschaffen hat und wem daher als grundlegendem Prinzip ultimative Macht zukommt, wird nur wenig Bedeutung beigemessen. Wichtig ist, welcher Gott für welchen Lebensbereich zuständig ist und durch welche Opfer, Gebete, Beschwörungen oder Rituale er in der gewünschten Weise beeinflusst werden kann.
Unterworfene Götter
Die Götter des polytheistischen Jenseits handeln nicht nach einem gemeinsam durchdachten Plan. Ihre Entscheidungen entsprechen somit keinem Entwurf, dem Endgültigkeit zukäme. Da jeder Gott nur seinen Machtbereich verwaltet, sind polytheistische Götter keine absoluten Weltbeherrscher. Vielmehr sind sie ihrerseits der Dynamik ihrer eigenen Rivalität unterworfen. Die Idee einer abschließend übergeordneten Ebene, eines Ganzen, das eine Götterwelt, eine Menschenwelt und eine Unterwelt überspannt, kann vom polytheistisch Gläubigen zwar gedacht werden, sie wird aber nicht formuliert; schon gar nicht als Bild eines personalisierten Übergottes, dem als einzigem wahrhaft göttliche Macht zugeschrieben wird.
Da die Geschicke der Menschenwelt im Polytheismus nicht durch einen allmächtigen Gott gelenkt werden, sondern durch konkurrierende, erscheint es folgerichtig, sich um den Beistand des einen oder anderen Gottes zu bemühen. Logisch ist das, weil es in der klassisch heidnischen Vorstellung...
Die Ausrufung eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes, der keinen Konkurrenten neben sich hat, hätte das Ende des Bittgebets und jener Spielart des Dankgebets bedeuten müssen, dessen Ziel darin besteht, sich auch für die Zukunft das Wohlmeinen dieses Gottes zu sichern.
Zur Rechtfertigung der Alleinherrschaft über alle Hebräer, wie sie der alttestamentarische Glaube für sich gefordert hat, ist die Ausrufung eines Gottes, dem die drei genannten Eigenschaften zugesprochen werden, logisch konsequent. Das gilt in gleichem Maße für die beiden Seitenzweige der alttestamentarischen Tradition: das Christentum und den Islam.
Allmacht heißt: Widerstand gegen diesen Gott, also gegen seine Priesterschaft, ist sinnlos. Über kurz oder lang muss jede Opposition scheitern.
Allwissen heißt: Da dieser Gott alles weiß, hat er das Wissen, aus dem heraus er alles richtig macht. Jeder Zweifel an der Weisheit seiner Beschlüsse ist Unsinn. Also besteht auch kein Zweifel daran, dass Gottes Entscheidung, diesen oder jenen Menschen zum Propheten zu ernennen, unverrückbar richtig ist.
Allgüte heißt: Da dieser Gott in allem nur Gutes tut, kann sich niemand beklagen, dass das, was er zu erdulden hat, Unrecht wäre. Selbst wenn ein solcher Gott einem mutwillig schadet, müsste man ihm dafür danken.
Es ist jedoch ebenso logisch: Wenn eine allwissende und barmherzige Allmacht eine Welt erschafft, kann diese Welt nur schlechter werden, wenn die Allmacht sich durch die Gebete ihrer unwissenden, und gewiss nicht allgütigen, Geschöpfe dazu drängen ließe, den ursprünglichen Plan des Weltverlaufs zu ändern.
Obwohl die jüdische, christliche und islamische Gebetspraxis, ihrem theologischen Selbstverständnis gemäß, eigentlich nur Schaden anrichten kann, wird sie mit Eifer praktiziert. Jeder sieht sich in diesen Glaubenswelten dazu befugt, der allwissenden Allmacht zu sagen, was sie besser machen soll. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass der Sinn solcher Gebete nur psychologisch, sozial oder politisch sein kann.
Ob das Gebet dazu führen kann, eine Gottheit zu beeinflussen, die dem Beter als entrückte Instanz gegenübersteht, bleibt ungeklärt. Wahrscheinlich ist es nicht.
Die Gebete von Auschwitz
Wir können davon ausgehen, dass sich die Gefangenen in Auschwitz millionenfach im Bittgebet an Jahwe wandten. Wir können sicher sein, dass er das meiste, worum er gebeten wurde, nicht erfüllt hat. Wir können daher ebenfalls sicher sein, dass das Gebet, auch wenn es zur Verhinderung grotesken Unrechts vorgetragen wird, keine Wirkung im Sinne einer dualistischen Theologie hat.
Selbst wenn der eine oder andere Wunsch der KZ-Insassen in Erfüllung ging und selbst wenn er nur deshalb in Erfüllung ging, weil Jahwe tatsächlich eingriff, liegt die Ursache der Erfüllung nicht im Gebet. Sie liegt in Jahwes willkürlicher Entscheidung, die er aus eigenem Gutdünken heraus getroffen hat.
Damit Jahwe solche Willkürentscheidungen treffen kann, bedarf er aber keinesfalls der Inbrunst eines Beters. Also ist das Beten zu Jahwe im theologischen Sinn unwirksam. Wenn es ihn tatsächlich gibt, wie die Bibel ihn sich denkt, tut er sowieso, was er will. Das scheint nicht zum erkennbaren Vorteil derer zu sein, die zu ihm beten.
Dass die Kraft des Gebets, was seine Wirkung auf entrückte Götter betrifft, im Nirvana der Illusion versickert, heißt nicht, dass Gebete unwirksam wären. Ihre Wirksamkeit ist innerseelisch und psychosozial; und könnte, wenn man Gott nicht als alten Mann betrachtet, sondern das eigene Selbst als seinen Ausdruck, sogar eine Wirkung erzielen, die den eigentlichen Absichten des Gebets nahekommen kann.
Die Funktionen des Gebets können in fünf Kategorien eingeteilt werden:
Die heidnische Funktion des Gebets ist jene, die ihm das klassische Heidentum ebenso wie die konfessionellen Religionen primär zuschreiben: Die Einbindung einer göttlichen Wirkmacht für die persönlichen Zwecke des Beters. Die heidnische Funktion setzt regelhaft die Vorstellung einer oder mehrerer abgrenzbarer Gottespersonen voraus, die von außen in das Schicksal des Einzelnen eingreifen.
In der dualistisch gespaltenen Welt konfessioneller Religionen hat sich die Zahl der jenseitigen Akteure auf zwei reduziert: den absolut Guten und den absolut Bösen. Erklärbar ist das Verhältnis der gegensätzlichen Kräfte durch drei Denkmodelle:
Das absolut Gute hat nicht die Macht, das absolut Böse zu entkräften. Dann gibt es faktisch zwei Götter. Das Böse ist eine eigenständige Instanz.
Wird das Böse als Werkzeug des Guten gesehen, gibt es zwischen Gut und Böse keinen unüberwindlichen Gegensatz.
Selbst wenn der heidnische Vorsatz sein Ziel verfehlt, hat das mit heidnischer Absicht vorgetragene Gebet innerseelische Effekte, die der Betende als Vorteil erlebt. In der Vorstellung des heidnischen Beters hat das Gebet, auch wenn das konkrete Anliegen nicht in Erfüllung geht, positive Langzeiteffekte:
Wiederholte Gebete um dieselbe Vergünstigung könnten langfristig zum Erfolg führen. Der Glaube daran, dass der Beter irgendwann erhört wird, ermutigt ihn, Härten geduldig zu ertragen.
Selbst wenn der konkrete Wunsch nie erfüllt wird, könnte das im Gebet gezeigte Vertrauen in die Gottesperson dazu führen, dass man im Jenseits dafür belohnt oder im Diesseits beschützt wird.
Beide Sachverhalte führen auch dann zu einer Entängstigung, wenn die zeitnah erhoffte Wirkung des Gebets ausbleibt. Der Beter lebt in der Vorstellung, das Richtige getan zu haben, sodass er keine Schuld daran trägt, wenn er später trotzdem leiden muss. So bleibt ihm immerhin das Schuldgefühl erspart.
Tatsächlich kann sich vieles zum Besseren wenden, wenn der autosuggestive Effekt des Gebets im Sinne eines positiven Denkens zu einem guten Gewissen führt, das Ängste vermindert und Zuversicht fördert, indem er den Betenden glauben lässt, er habe sich des Beistands einer Allmacht versichert.
Es liegt auf der Hand: Das Gebet führt zur Erwartung positiver Verläufe; wenn man denn glaubt, dass Gott durch Gebete zu beeinflussen ist. Glaubt man zudem daran, dass bereits Gegebenes nicht Resultat blinder Zufälle und damit blanker Ungerechtigkeit ist, sondern Ergebnis des weisen Ratschlusses einer wohlmeinenden Übermacht, fällt es leichter, sich mit Unveränderlichem kreativ zu arrangieren; statt sich kräftezehrend daran zu reiben.
Der Glaube an den Lieben Gott kann im Umkehrschluss aber auch dazu führen, dass man jeden Missstand als vermeintlich gottgegeben hinnimmt und in untätiger Hoffnung auf bessere Zeiten im Jenseits verharrt. Vieles, was im christlichen Abendland erlitten wurde, wurzelt in dieser Psychodynamik. Erst die Aufklärung hat pragmatisch zielführendem Handeln wieder Auftrieb verschafft.
Mit dem innerseelischen Effekt der Entängstigung ist der psychosoziale verwoben. Gebete werden meist im Rahmen gruppenspezifischer Glaubensvorstellungen vollzogen. Das führt auf zweierlei Weise zu einer Befriedigung des Zugehörigkeitsbedürfnisses; und somit ebenfalls zu einer Abwehr von Ängsten:
Gemeinsame Gebete im Rahmen eines Gottesdienstes führen unmittelbar zum Erlebnis sozialer Zugehörigkeit. Das Gefühl, gemeinsam mit anderen zu tun, was von allen als richtig anerkannt wird, ist Grundlage jeder kulturellen Gemeinschaft.
Allein vollzogene Gebete, zum Beispiel das Vaterunser, deren Ablauf und Inhalt konfessionell vorgegeben sind, führen ebenfalls zu einem Erlebnis sozialer Zugehörigkeit, weil man sich im Geiste mit der eigenen Glaubensgemeinschaft verbunden fühlt.
Die politische Funktion des Gebets kommt besonders dann zum Tragen, wenn Religion in politische Zielsetzungen eingebunden wird. Das war bei den Pharaonen so, bei Nebukadnezar, im antiken Griechenland und im alten Rom. Die politische Funktion ist eindeutig taktisch. Sie wird von Mächtigen zum Zwecke der Machtausübung und von Unterworfenen als Selbstschutz angewandt. Unterworfenen dient sie zur Abwehr von Fremdaggression.
Die Vereinnahmung der Religion zu politischen Zwecken perfektioniert hat der hebräische Nationalismus, der mit der Ausrufung des mosaischen Gottes die Grundstruktur der abrahamitischen Religionen ins Leben rief. Weder im klassischen Judentum noch im Christentum und dem Islam gibt es ein vollgültig anerkanntes Interesse an mystisch religiöser Bemühung; nämlich der Frage, wie das konkrete Individuum einen eigenständigen inhaltlichen Bezug zum Göttlichen herstellen kann. Stattdessen steht die formale Anpassung des Einzelnen an vorgeschriebene Lebensformen im Vordergrund.
Für die verschiedenen Konfessionen der abrahamitischen Glaubenswelt ist Religion zunächst kein Mittel des Einzelnen, um sich am Magnetfeld des Absoluten auszurichten, sondern ein Mittel Gottes, der mit Hilfe einer Priesterschaft jene politischen Ziele verfolgt, die im Interesse der Führer des Glaubens sind. Religion ist hier nicht Suche von unten nach oben, sondern Dekret von oben nach unten. Das Recht, sie angemessen zu gestalten, wird dem Einzelnen aus der Hand genommen. Religion wird unter dem Dach von Ge- und Verboten kollektiviert.
Politische Ziele
Hand in Hand mit der Politisierung der Religion steigt der Druck auf den Einzelnen, sich deren Vorgaben anzupassen. Tut er es nicht, riskiert er als Gottloser, Frevler, Abweichler oder Ketzer diffamiert, ausgegrenzt und gegebenenfalls umgebracht zu werden.
Psalm 7, 13-14:*
... wenn einer sich nicht bekehrt, spannt er seinen Bogen und zielt mit ihm. Er richtet auf ihn die Todeswaffen...
Psalm 101, 8:*
Jeden morgen will ich alle Frevler im Land vernichten...
Hier setzt die politische Funktion des Gebets aus Sicht der Ohnmächtigen ein: Indem man die geforderten Gebetsrituale für alle sichtbar vollzieht, schützt man sich vor der Aggression des gläubigen Umfelds. Besonders in der islamischen Welt spielt die politische Funktion des demonstrativen Gebets bis heute eine große Rolle.
Sollte Gott tatsächlich entrückt, allwissend und barmherzig sein, sollte er jedes Gebet ignorieren, das aus der Welt begrenzter Horizonte stammt und eine Änderung innerweltlicher Abläufe erbittet.
Da Menschen miteinander konkurrieren, können Gebete keinen Einfluss auf innerweltliche Erfolge haben, ohne dass aus dem einen Gott für alle ein Gott zum Nachteil anderer wird. Das ist im Großen so, wenn Priester die Waffen verfeindeter Nationen segnen, aber auch im Kleinen, wenn Oliver und Erich es gleichzeitig auf die süße Sanela abgesehen haben oder der FC Barcelona genauso gewinnen will wie Real Madrid.
Neben der Vorstellung eines entrückten Gottes, gibt es aber auch die mystische Sichtweise. Sie unterscheidet sich kategorisch vom Bild dualistischer Lehren. Während Gott den Menschen aus Sicht der dualistischen Theologie als Produkt in eine Wirklichkeit stellt, die ihm selbst nicht angehört, ist der Mensch gemäß mystischer Auffassung Ausdruck Gottes selbst.
Mystisch gedacht wäre es möglich, dass Gebete nicht nur intrapersonelle Wirkung zeigen, zum Beispiel im Sinne einer Entängstigung, sondern den Horizont der Person überschreiten und das Göttliche dazu bewegen, dem Betenden Einblick in eine Dimension der Wirklichkeit zu gewähren, die er sonst nie zu Gesicht bekäme.
Es ist schwer vorstellbar, dass ein Gebet, das so etwas bewirkt, eines von der Art konkreter Wünsche ist. Wenn sich das Göttliche vor dem Auge des Betrachters zeigen soll, muss der Betrachter nach ihm Ausschau halten; was er nur dann von blendenden Absichten ungehindert tut, wenn er sagt: Es reicht, wenn ich erkenne und so bin, wie mich Gott mir als Ausdruck seiner selbst gegeben hat. Sobald er sich dem Göttlichen mit Wünschen nähert, hat er das Bild des Gewünschten vor Augen. Das Bild wird ihm den Blick verstellen.
Die Wendung Gott dazu bewegen... sollte nicht wörtlich genommen werden. Es mag sein, dass etwas stattfindet, ohne dass es neben Gott jemanden gibt, der es bewirkt. Mystiker neigen dazu, es so zu sehen. Mehr noch: Man muss nicht glauben, dass man Gott überhaupt anbeten könnte. Ginge das, wäre er Zielscheibe menschlichen Tuns. Niemand kann aber mit Gott etwas machen. Wenn es so scheint, als bete man Gott an, dann betet man eine Vorstellung von Gott an.
Man kann zweierlei:
Sobald man nach dem strebt, was sein soll, sieht man von dem ab, was jetzt ist. Dabei wird auf zwei Ebenen abgesehen:
Etwas anzustreben setzt ein Bild voraus, dessen Verwirklichung angestrebt wird. Um das Gewünschte anzusteuern, muss es im Auge behalten werden. Wird es das, kann das Auge nicht mehr voll auf das ausgerichtet sein, was tatsächlich ist.
Etwas anzustreben setzt ein Werturteil voraus. Indem ich etwas anstrebe, stelle ich den Wert dessen, was ist, infrage. Wird der Wert eines Wirklichkeitsaspektes angezweifelt, wird ihm Beachtung entzogen.
Zwei Seiten einer Medaille
Wir sehen, was ist. Gott ist, was er sieht. Wer Gott zum Guten beeinflussen will, muss selbst besser werden.
So unvermeidlich es für den Menschen sein mag, etwas anzustreben, und sei es auch nur, diesen Gedanken zu formulieren, so groß ist auch die Gefahr, dass er dabei missachtet, was bereits gegeben ist.
Dank ist die Anerkennung dessen, was gegeben ist. Das echte Dankgebet kann daher nur in absichtsfreier Wahrnehmung liegen, das heißt: in einem Sehen, das keinen Zukunftsplan verfolgt, also auch nicht die Absicht, sich eine Gunst durch den Akt des Dankens zu sichern. Ein solches Dankgebet kann durch Meditation verwirklicht werden.
Sich von der Welt zu lösen fällt leichter, wenn man ihr dankt. Es ist unmöglich, wenn man ihr Vorwürfe macht. Vorwurf ist Forderung: die Forderung, anders zu sein. Forderungen zu stellen, heißt gebunden zu sein. Dank entlässt die Welt aus ihrer vermeintlichen Pflicht. Die Welt aus ihrer Pflicht zu entlassen, heißt frei zu sein.
* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.