Kern der Hochsensibilität ist es, die Vielschichtigkeit der Erscheinungen zu erkennen und anzuerkennen.
Der Begriff Sensibilität geht auf das lateinische Verb sentire = fühlen, wahrnehmen, empfinden zurück. Sensibilität ist die Fähigkeit eines Organismus, Reize zu empfangen und dadurch Informationen aufzunehmen. Zur Aufnahme von Reizen tastet der Organismus die Wirklichkeit mit Sensoren ab. Zu einem Sensor gehören das äußere Sinnesorgan sowie die Teile des Zentralnervensystems, die die Rohdaten empfangen. Die Empfindlichkeit der Sensoren ist eine neurobiologische Vorgabe, mit der die Natur das Individuum ausstattet.
Sensibilität ist jedoch mehr als ein passiver Empfang, der den Empfänger erreicht, als seien seine Sensoren Mikrophone, die unmoduliert aufzeichnen, was von außen hereinkommt. Sensibilität ist auch ein aktiver Prozess, dessen Steuerung in den Händen dessen liegt, der mit der Gabe betraut ist. Die Bedeutung der aktiven Komponente verdeutlicht das Verb empfinden.
Empfinden ist eine Präfixbildung aus ent- und finden. Analog zu entwässern signalisiert das ent- in empfinden, dass etwas herausgezogen wird: das Gesuchte, das man findet. Finden entspringt wie fahnden der indoeuropäischen Wurzel pent- = treten, gehen. Wer nach etwas fahndet, sitzt nicht nur da und wartet, dass Informationen bei ihm eintreffen. Er geht hinaus und tritt an das heran, dem er die gewünschten Informationen zu entnehmen versucht.
Neben organischen Sensoren und dem Motiv ihres Trägers, der sie auf Elemente der Wirklichkeit ausrichtet, beinhaltet Sensibilität eine weitere Aktivität. Die Wahrnehmung der Reize an sich stellt primäre Informationen bereit, die im Anschluss gedeutet und bewertet werden. Erst die Einordnung des empfangenen Rohmaterials in den Kontext des bisherigen Weltbilds schließt den Prozess der Sensibilität ab. Die Resultate der Bewertung sind Erkenntnisse. Sie bestimmen im nächsten Schritt das Verhalten, mit dem das Individuum auf die abgetastete Wirklichkeit reagiert.
Wie sensibel ein Mensch auf die Welt reagiert, hängt von dreierlei ab:
Drei Komponenten der Sensibilität
Biologische Vorgabe | Psychologischer Umgang | |
Empfindlichkeit und Verarbeitungsmuster des sensorischen Systems | Interesse am erfahrbaren Objekt | Sorgfalt der Informationsverarbeitung |
In der Regel hat der Mensch zwei Augen, zwei Ohren und eine Nase. Eine quantitative Streuung dieser Merkmale hat die Natur nicht vorgesehen. Anders ist es bei der Sehschärfe sowie der Fähigkeit, unterschiedliche Töne oder Gerüche zu erfassen. Es gibt Menschen, die besser sehen, hören und riechen als andere. Meist sind die Übergänge fließend.
Auch das hoch im Konzept der Hochsensibilität verweist auf Unterschiede. Dabei wird Sensibilität aber nicht als separate Qualität einzelner Sinnesorgane verstanden, sondern als umfassende Fähigkeit des Individuums, Informationen aufzunehmen und weiterzuverarbeiten.
Grundregel
Je mehr Details jemand beachtet und je differenzierter er sie bewertet, desto sensibler ist er.
Zweifellos ist die Sensibilität verschiedener Menschen unterschiedlich. Der eine hört das Gras wachsen, ein anderer verschläft einen Wirbelsturm. Den einen stört die Fliege an der Wand, ein anderer schenkt Mäusen im Kühlschrank keine Beachtung.
Sprung oder Übergang
Zunächst hat Sensibilität eine biologische Grundlage. Bevor der Empfang beginnt und Daten bewertet werden, waren Gene aktiv, die die Qualität der Sensoren und die Aktivität des Zentralnervensystems, das die sensorischen Reize verarbeitet, bestimmen. Dabei ist zweierlei möglich:
Möglichkeit A beschreibt einen quantitativen Übergang. Möglichkeit B betont einen qualitativen Sprung. Ihr zufolge ist die Hochsensibilität ein eigenständiges psychobiologisches Persönlichkeitsmerkmal, das analog zu den Blutgruppen nach dem Entweder-oder-Prinzip vererbt wird.
Wir haben gesehen, dass die körperliche Basis der Sensibilität aus zwei Komponenten besteht: dem äußeren Sinnesorgan und den Bereichen des Zentralnervensystems, die die Rohdaten verarbeiten. Die Sehschärfe der Augen kann von Person zu Person stark variieren. Trotzdem wird niemand behaupten, dass fehlsichtige Leute weniger sensibel als normalsichtige sind. Gleiches gilt für das Gehör. Schwerhörige Menschen sind nicht unsensibel. Musikalität und das absolute Gehör sind keine Produkte des Trommelfells.
Offensichtlich liegen die wesentlichen Unterschiede individueller Sensibilitäten nicht auf der äußeren Ebene der Sinnesorgane. Sie sind in den Tiefen des Zentralnervensystems zu verorten, wo die bloße Sensorik in die Psyche des Individuums übergeht.
Da Sensibilität keine Krankheit ist, ist es folgerichtig, von Merkmalen und nicht von Symptomen zu sprechen. Eine hohe Sensibilität zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus. Je sensibler ein Mensch ist...
Zunächst sind diese Merkmale Möglichkeiten, derer sich ein Mensch wie eines Werkzeuges bedienen kann, um sein Dasein in einer komplexen Umwelt zu gestalten.
Sensible Dickhäuter
Der Rüssel eines Elefanten ist ein sensibles Werkzeug. Kein Wunder, dass jeder Elefant den Gebrauch des Rüssels erst erlernen muss. Solange er diese Aufgabe nicht bewältigt hat, kann ihm der Rüssel mehr Last als Vorteil sein.
Auch eine hohe Sensibilität kann, wenn ihr Träger sie nicht nutzbringend steuert, eine Last sein, unter der er leidet. Sensibilität stellt große Datenmengen zur Verfügung. Sie zu ordnen, kann schwierig sein. Sie zu ordnen, braucht Zeit. Es macht aber Sinn, nicht den Datenempfang als Ursache des Leids zu betrachten, sondern das mangelnde Geschick, damit umzugehen sowie das fehlende Wissen um die eigene Gabe.
Es gibt verschiedene Bildverarbeitungsprogramme. Manche sind einfach, andere komplex. Mit komplexen Programmen kann man mehr machen; wenn man weiß, wie es geht. Weiß man es nicht, verheddert man sich in den Menüs und verliert im schlimmsten Fall das Bild, das man bearbeiten möchte. Nicht anders ist es mit der Sensibilität. Ungeübt angewandt entstehen Symptome, denen echter Leidensdruck und Krankheitswertigkeit zukommt.
Gesetzt ein Astronom wird mit einem hochsensiblen Teleskop ausgestattet. Welche Aufgaben kommen dann auf ihn zu? Richtig: Er muss...
Für all das braucht er Zeit und Geduld. Hat man viele Daten zu ordnen, ist das mehr Arbeit als wenn es nur wenige sind. Die Aufmerksamkeit auf das zu bündeln, was in den Vordergrund soll, ist eine Leistung, die zu erbringen ist.
Bevor die Leistung erbracht ist, kann der Astronom von den Reizen, die durch das Teleskop auf ihn einprasseln, überfordert sein. Er kann eine Stressreaktion wegen Reizüberflutung erleben. Dann fühlt er sich angespannt, ungenügend und unbehaglich. Er zweifelt daran, ob er der Aufgabe tatsächlich gewachsen ist. Sein Selbstwertgefühl wird auf die Probe gestellt. Im schlimmsten Fall entwickelt er Schlafstörungen, Grübelzwänge und Versagensängste, die sich zu manifesten psychischen Störungen auswachsen können.
Hochsensible Menschen sind ungeachtet ihrer höheren Empfindsamkeit den gleichen Herausforderungen des Daseins ausgeliefert wie alle anderen auch. Drei Themenfelder sind zu betrachten:
Das Leben birgt eine Menge Gefahren. Je mehr man davon wahrnimmt, desto mehr kann man sich davor fürchten. Wer das Rascheln im Gebüsch nicht hört, kann sich auch keine Sorgen machen, was es bedeuten könnte. Sensible Menschen hören es. Kein Wunder, dass sie Gefahr laufen, der Welt zögerlich zu begegnen. Wo ein weniger sensibler Mensch sagt: Platz da, hier bin ich!, sondiert ein sensibler erst einmal das Terrain. Bis er damit fertig ist, ist das Terrain besetzt; und sein Nachsehen bei der Konkurrenz mit anderen steigert seine Furcht vor den Gefahren des Lebens.
Sensibilität, also die Fähigkeit, die Welt zu erkennen, ist ein Werkzeug der Natur, um Organismen vor den Gefahren der Welt zu beschützen. Je mehr sich ein sensibler Mensch vor den Gefahren des Lebens fürchtet, desto mehr ist er womöglich versucht, die Radarschirme hochzufahren und noch systematischer nach bedenklichen Signalen Ausschau zu halten. Das führt in einen Teufelskreis.
Auch bei der Sensibilität gilt: Die Dosis macht die Medizin. Zu viel davon führt zu immer neuen Datenmengen. Zu viel davon senkt nicht, sondern steigert die Gefahr, weil die Analyse der Datenmengen so viel Zeit kostet, dass rechtzeitig zielführende Handlungen ausbleiben.
Ist er mit dieser Sensibilität auf die Welt gekommen? Ja und nein. Er hat sie auch entwickelt. Seiner Sensibilität ist man nicht passiv ausgeliefert. Man kann sie modulieren, ausrichten und trainieren. Wer sich für Vögel interessiert, richtet sie auf Vögel aus. Wer sich für Gefahren interessiert, richtet sie auf Gefahren aus. Wie viel man unter den Herausforderungen der Sensibilität zu leiden hat, hängt von den Motiven ab, in deren Dienst man sie zum Einsatz bringt.
Es gehört zum Schicksal sensibler Menschen, dass das Leben ihnen viele Informationen zur Verfügung stellt. Das kann, aber muss kein Vorteil sein. Während die Kartoffeln sorgloser Bauern längst in der Furche liegen, beschäftigt sich der sensible mit komplexen Fragen, die Einfluss auf die Ernte haben könnten. Was sagt aber das Sprichwort? Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln. Eine hohe Sensibilität kann dazu führen, dass man die Lösung alltäglicher Aufgaben unnötig verkompliziert und in der Folge ins Hintertreffen gerät. Das ist nicht gut für das Selbstwertgefühl.
Manuel hatte ein Auge auf Katrin geworfen. Markus auch. Da man sich dabei einen Korb einhandeln kann, achtete Manuel auf die subtilsten Signale, die das Objekt der Begierde verließen. Wie war diese Geste, dieser Blick, dieses Lächeln gemeint? Während Manuel seine Analysen unternahm, sah Markus Katrins wippende Hüften und sprach: Hey! Willst du mit mir gehen? Obwohl Manuel Katrin gefiel, gefiel ihr Markus' Entschlossenheit besser.
Wird Sensibilität nicht mit der Bereitschaft verpaart, risikofreudig zur Tat zu schreiten, kann das zu gehäuftem Scheitern und Minderwertigkeitsgefühlen führen. Da Minderwertigkeitsgefühle schwer zu ertragen sind, sucht die Psyche Mittel, um sie abzuwehren. Häufig ergreift sie dabei solche, die kurzfristig helfen, langfristig aber schädlich sind; zum Beispiel Abwertung, Projektion und Idealisierung der eigenen Tugend.
Man kann die Ursache eines Scheiterns als Resultat eigener Fehler betrachten. Dann ist der Weg zur Heilung der Wunde frei. Oder man glaubt, die Welt ist daran schuld, dass man leidet, weil sie unerlaubterweise so ist, wie sie nicht darf. Man projiziert die Ursache nach außen; und wertet die Welt als Ganzes ab.
Der Psychologische Grundkonflikt besteht aus der Rivalität zweier Bedürfnisse: dem nach Zugehörigkeit und dem nach Selbstbestimmung.
Was die Zugehörigkeit betrifft, haben hochsensible Menschen Pech und Glück zugleich.
Sie haben Glück, weil sie dank ihrer subtilen Wahrnehmungsfähigkeit in der Lage sind, mit anderen sensiblen Menschen Bindungen einzugehen, die die Reichhaltigkeit dessen, was an zwischenmenschlicher Begegnung möglich ist, ausloten. Was anderswo an Distanz zu ertragen ist, wird hier durch Vertrautheit aufgewogen.
Auch beim Bedürfnis nach Selbstbestimmung gibt es für hochsensible Menschen Besonderheiten.
Echte Selbstbestimmung läuft nicht im Hauruck-Verfahren. Was viele dafür halten, ist nicht mehr als die unreflektierte Ausführung gesellschaftlicher Introjekte; also automatisierter Verhaltensmuster, die sie im Laufe ihrer Sozialisation absorbiert haben. Echte Selbstbestimmung bedarf eingehender Introspektion, um das Verhalten mit dem Wesen dessen, der es ausführt, in Einklang zu bringen. Hier sind hochsensible Menschen klar im Vorteil. Sie sind in der Lage, Feinheiten zu erkennen, ohne deren Kenntnis ein echter Einklang gar nicht möglich ist.
Die Menschenwelt besteht aus Echtem und Falschem. An manchen Orten überwiegt das Echte, an anderen das Gegenteil. Grundsätzlich ist es so: Falsches tut der Seele weh; vor allem, wenn man es erkennt und es trotzdem in Kauf nimmt. Hochsensible Menschen nehmen auch Falsches intensiver wahr als andere. Das ist der Ausgangspunkt eines großen Teils ihrer Probleme.
Gewiss: Eigentlich ist die Fähigkeit, möglichst viel Falsches wahrzunehmen, ein Vorteil; denn nur wer Falsches wahrnimmt, kann ihm aus dem Weg gehen oder es mutig in Echtes verwandeln. Wäre da nicht das Zugehörigkeitsbedürfnis.
Das Bedürfnis dazuzugehören, ist ein mächtiger Antrieb. Unverstanden und unkontrolliert führt es dazu, dass wir uns übermäßig an Umstände anpassen, die uns nicht guttun; vor allem an die Vorgaben jener Menschen, zu denen wir gehören müssen oder wollen. Dann stehen wir vor der Wahl: Tun wir so, als ob wir mit den anderen übereinstimmen? Setzen wir uns unter Druck, es zu tun oder gehen wir unseren eigenen Weg? Akzeptieren wir, anders als andere zu sein?
Menschen sind Personen. Person entstammt dem etruskischen Wort für Maske. Personen sind Schauspieler auf der Bühne des Lebens. Zwischen dem echten Menschen und dem, was er auf der Bühne vorgibt zu sein, klafft oft eine Lücke. In ihr steckt das Falsche, das seinen Auftritt begleitet. Weniger sensible Menschen übersehen die Lücken der Stimmigkeit leichter. Je sensibler man jedoch ist, desto schwieriger wird es, das Unstimmige auszublenden.
Hochsensible Menschen, die ihr Zugehörigkeitsbedürfnis überschätzen, sind versucht, das Unbehagen, das durch die Wahrnehmung des Unstimmigen ausgelöst wird, einer vordergründigen Zugehörigkeit zuliebe zu verdrängen. Dass sie dazu ihrerseits Echtes durch Masken verbergen, macht die Sache noch schlimmer. Sie leiden dann unter zweierlei: dem Falschen, das von außen kommt und dem Falschen, das sie selbst nicht abzulegen wagen.
Das Gute, das das Falsche, als Gutes maskiert, von uns haben will, kann aus materiellen oder psychologischen Vorteilen bestehen.
Hochsensible kommen vom Grübeln über Erlebtes nicht los, wenn sie den Schritt nicht wagen, der stimmt; und wenn sie bei der Reflektion des Erlebten verbleiben, statt von gewonnenen Erkenntnissen zum Handeln überzugehen.
Sensibilität ist eine Gabe, durch die man beschenkt und belastet wird. Zugleich ist die Gabe eine Aufgabe, die man zu erfüllen hat. Je sensibler jemand ist, desto größer mag die Herausforderung sein, desto größer ist aber auch der Gewinn, der bei einer Lösung der Aufgabe winkt. Es macht Sinn, eine hohe Sensibilität als mächtiges Werkzeug aufzufassen, dessen Gebrauch durch angemessene Maßnahmen verbessert werden kann. Geeignet können Maßnahmen auf zwei Ebenen sein:
Greifen wir erneut das Beispiel des Astronomen auf, dem der Fortschritt ein sensibles Teleskop spendiert. Im Vergleich zum alten liefert das neue Teleskop vom selben Himmelsausschnitt zehn Mal mehr Daten. Da kann er sich leicht drin verirren. Er löst das Problem, indem er sowohl die Quantität als auch die Qualität der akzeptierten Reize kontrolliert. Konkret: Er fragt sich, welche Daten nützen mir wirklich und wie viele davon kann ich derzeit verwerten? Er fokussiert das Gerät daher selektiv auf den Himmelskörper, dem sein Interesse tatsächlich gilt; und blendet das Übrige aus. Dieselbe Taktik kann einem hochsensiblen Menschen nützlich sein.
Naturerfahrungen mögen weniger sensiblen Menschen so reizarm erscheinen, dass sie im Wald Radio hören. Für sensible Menschen ist die Stille einer Lichtung interessant genug, sodass sie niemals an ein Radio dächten. Hochsensible Menschen können bewusst Umgebungen aufsuchen, wo die Qualität der Reize vor der Quantität im Vordergrund steht. Sie können dorthin gehen, wo es viel Echtes und wenig Falsches gibt.
Medien sind Reizübertragungsmaschinen. Ohne ein Medium erführen wir nicht, dass in Sumatra ein Bus von der Fahrbahn abkam. Das meiste, was Konsumenten technischer Medien erreicht, ist nicht weiter verwertbar. Es macht keinen Sinn, sich mit unerfreulichen Dingen zu befassen, die man nicht beeinflussen kann. Das gilt für jeden. Für hochsensible Menschen gilt es erst recht. Dank ihres hohen Unterscheidungsvermögens sind sie aber besonders befähigt, Irrelevantes von dem zu unterscheiden, was ihnen tatsächlich guttut. Sie brauchen den Mut und die Zeit, es zu tun.
Das Konzept der Hochsensibilität verzichtet darauf, seelisches Leid grundsätzlich als pathologisch zu betrachten. Das ist ein wichtiger Schritt. Er öffnet den Weg zu mehr Selbstakzeptanz.
Es ist richtig: Im Gefolge unverstandener und schlecht austarierter Sensibilität kann es zu psychischen Turbulenzen kommen. Zu nennen sind Depressionen, Angststörungen, somatoforme Störungen, Suchterkrankungen, problematische Persönlichkeitsentwicklungen und andere mehr. Solche Erscheinungen nur als defizitär zu bewerten oder als Folge traumatischer Erfahrungen, die nicht rückgängig zu machen sind, kann jedoch zusätzlich entmutigen.
Eine Begabung wirft erst dann Früchte ab, wenn ihr Wert erkannt und ihre Handhabung geschult wird. Das gilt für künstlerische Begabungen im Speziellen genauso wie für Sensibilität allgemein. Wer seine Sensibilität als Wert anerkennt, muss gegebenenfalls aber einen Preis dafür zahlen.
Ein sensibler Mensch, der sich so, wie er ist, akzeptiert, hat auch zu akzeptieren, dass das Leben ihm bei der Suche nach Zugehörigkeit besondere Regeln vorgibt. Wenn er nicht versucht, für die Gemeinschaft mit anderen anders zu sein, als er ist, kann er im Einklang mit sich selbstbestimmt leben.
Selbstakzeptanz ist kein Vorsatz, der sich verwirklicht, weil man ihn aufstellt. Selbstakzeptanz ist ein Prozess, der Schritt für Schritt vorangeht, sobald man das, was es zu akzeptieren gilt, klar erkennt. Etwas klar zu erkennen heißt, es im Zusammenhang mit allen Faktoren zu sehen, die seine Erscheinung mitbedingen.
Silvia hört in der Nachbarschaft ein leises Geräusch, das sie eigentlich nichts angeht. Sie ist aber so irritiert, dass sie sich nicht mehr auf ihre Masterarbeit konzentrieren kann.
Dass Silvia das Geräusch bewusster wird als einem anderen, mag Ergebnis einer überdurchschnittlichen Sensibilität sein. Ihre Irritation ist aber nicht nur Ergebnis einer sensorischen Sensibilität, sondern auch persönlicher Muster im Umgang mit der Wirklichkeit. Dieselbe Sensibilität ist daher zu nutzen, um durch Selbstreflektion zu verstehen, warum sie sich ausgerechnet auf dieses Geräusch so fokussiert, dass es zu einem Störfaktor wird.
Hunde, Pinguine und Prinzessinnen
Hunde nehmen feinste Gerüche wahr, ohne dass sie von ihrer extremen olfaktorischen Sensibilität aus der Bahn geworfen werden. Pinguine und Robben hören aus dem Stimmengewirr hunderter Artgenossen auf hundert Meter Distanz die Stimme ihrer Jungen heraus, ohne dass sie das Stimmengewirr in den Wahnsinn treibt. Offensichtlich können Lebewesen hochsensibel sein, ohne darunter merklich zu leiden; wenn sie sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Sensible Prinzessinen gibt es zweierlei Art: Die einen sind so mit der perfekten Anpassung der Welt an ihre momentane Befindlichkeit beschäftigt, dass selbst eine Erbse unter zwanzig Matratzen zum Hindernis wird. Andere nutzen ihre Sensibilität, um tiefere Schichten ihrer selbst und deren Verbindung zur Wirklichkeit auszuloten. Die erste Art erlebt das Leben als Ärgernis, die zweite ist mit sich und ihrer Sensibilität im Reinen.
In Wirklichkeit gibt es nur eine Art Prinzessinnen. Die glückliche Prinzessin ist eine ehemals unglückliche, die nicht mehr darauf wartet, dass die Welt sie vollkommen annimmt, sondern die die Welt und sich selbst angenommen hat.