Dogma


  1. Begriffsbestimmung
  2. Funktionen
  3. Aufklärung und Religion
  4. Dogmen, Demokratie und Individualität
Dogmatische Kulturformen haben Hass in Gottesbilder projiziert. Dort beten sie ihn an und nennen ihn barmherzig.

Dogmen sind Burgen in denen sich die Angst vor der Erkenntnis verschanzt.

Ziel muss die Eingrenzung aller sein. Das ist nur möglich, wenn man alle ausgren­zenden Lehren hinter sich lässt.

1. Begriffsbestimmung

Das Fremdwort Dogma = Lehrsatz ist griechischen Ursprungs. Er geht auf die Verben dokein (δοκειν) bzw. dokeuein (δοκευ­ειν) = meinen, scheinen zurück. Obwohl der Begriff die Unge­wissheit seiner Inhalte offen benennt, ging die Bewusstheit verloren, dass dogmatische Glaubenssätze bloß Meinung und Anschein sind. Sie fiel dem Macht­anspruch von Religionen zum Opfer, die ihre Meinung zur Gewissheit erklärten und als Verwalter der vermeintlichen Gewissheit Zustimmung fordern.

2. Funktionen

Das Dogma ist ein Werkzeug konfessioneller Glaubensformen. Jenseits davon hat es auch im Rahmen gesellschaftspolitischer Utopien Bedeu­tung, deren Hoffnungen in der Regel nicht auf Erkenntnis, sondern Hypothesen beruhen. Die Konfession, also das Bekenntnis, besteht darin, den spezifischen Lehrsätzen der jeweiligen Weltanschauung zuzustimmen. Durch die Zustimmung anerkennt man den Anspruch der konfessionellen Gruppierung, unangefochten über wahr und unwahr zu entscheiden sowie den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen der Über­prüfung zu entziehen. Durch den Akt des Bekennens tritt man der entsprechenden Gruppe bei und verpflichtet sich, zu anderen Gruppen auf Abstand zu gehen.

Die Zugehörigkeit zu religiösen Bekenntnissen kommt meist ohne Bekenntnisakt zustan­de. Die Mitgliedschaft der meisten ist Ergebnis frühkindlicher Fremdbestimmung. Die meisten sind nie beigetreten. Sie wurden zu Mitgliedern gemacht. Sie unterlassen den Austritt aus Gewohnheit und Desinteresse; oder weil für das Bekenntnis von Zweifeln am Bekenntnis eine Ausgrenzung droht, die erhebliche soziale Nachteile mit sich bringt.

Verwechslungen
Glaube, Religion und Konfession werden oft miteinander verwechselt; oder gar gleichgesetzt. Tatsächlich sind es unterschiedliche Kategorien.

Kategorie Inhalt Funktion
Glaube... ist das Für-wahr-halten unbe­wiesener Aussagen. dient der Ergänzung einer lückenhaften Erkenntnis zu einem geschlos­senen Weltbild.
Religion... ist die Hinwendung zu den Grundlagen der Existenz sowie die Rückführung des Identitäts­gefühls aus der Vorstellung in die Wirklichkeit. dient der Lösung seelischer Probleme durch endgültige Sinngebung und Selbst­findung.
Konfession...
Bekenntnis...
ist ein politischer Akt des Einzelnen, durch den er auf seine Position im sozialen Umfeld Einfluss nimmt. dient dem Schutz vor der Aggression des Umfelds durch Beitritt zu einer schützenden und ihrerseits potenziell aggressiven Gruppe.

Wissen ist Macht, Glaube Vermutung. Das Dogma kompensiert das Minderwertig­keitsgefühl des Glaubens indem es gegen Wissen auftrumpft. Es putscht sich an die Macht.

2.1. Politisch

Ursprung aller westlichen Konfessionen ist der alttestamentarische Glaube. Die Macht­ergreifung Moses' und seiner Anhänger sowie die Eroberung Kanaans war von einer Mythenbildung begleitet, die Krieg und Machtanspruch rechtfertig­ten. Um Kritik an der politischen Führung im Keim zu ersticken, formulierte der Glaube eine Reihe von Lehrsätzen, deren Verneinung bei Todesstrafe verboten war...

Das 1. Gebot sagt: Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Gemeint ist der Gott, den Moses als seinen Auftraggeber nennt. Da jede Missachtung der Gebote als sündig gilt, ist jede Missachtung zu unterdrücken.

Politisch gesehen vereinheitlichen Dogmen das Denken. Die Vereinheitlichung entsprach den militärischen Zielen des Aufbruchs nach Kanaan. Der Sieg über die Völker Kanaans und die Inbesitznahme ihres Landes bedurfte der gemeinsamen Anstrengung aller hebräischen Stämme. Kultureller Pluralis­mus und Meinungsvielfalt standen dem im Wege. Das Dogma schaffte sie ab.

Orthodox geht auf Griechisch orthos (ορθος) = recht, richtig und doxa (δοξα) = Meinung, Anschauung, Lehre zurück. Analog zum orthodoxen Judentum, das die alttestamentarischen Lehrmeinungen rechtmäßig vertritt, haben dessen Abspaltungen und Nachahmungen, also die christlichen und moslemischen Konfessionen jeweils eigene Dogmen formuliert, deren Funktion es ist, ihrer Lehre die einzig richtige Sichtweise zu bescheinigen und damit alle Macht für sich zu reklamieren.

Warnen oder drohen
Auch nicht-dogmatische Religionen, zum Bei­spiel der Buddhismus, haben Lehrmei­nungen. Ihre Lehren künden üble Konsequenzen an, falls man sie nicht beherzigt. Leid ist in ihren Augen eine lehrreiche Folge falschen Handelns. Sie warnen davor und versichern zugleich, dass es niemals zu spät ist, dem Leid zu entkommen. Der Weg zum Heil bleibt für jeden offen, bis er es erreicht.

Im Gegensatz zur undogmatischen Lehre warnt das Dogma nicht. Es droht. Ihm nicht zu folgen, führe nicht zu läuterndem Leid, sondern zu endgültiger Strafe. Die Strafe dient der Rache. Sie quält mit der bloßen Absicht, weh zu tun. Um jeden zum Bekenntnis zu nötigen, verkündet das Dogma eine Liebe, die hasst.

2 Thessalonicher 1, 6-10:*
Es ist ja gerecht... wenn... Jesus sich offenbaren wird... in Feuerflammen und Vergeltung übt an denen, die Gott nicht kennen und sich nicht beugen dem Evangelium... Sie werden bestraft werden mit ewigem Verderben... wenn er kommt, um... verherrlicht... und bewundert zu werden...

Der Unterschied zwischen der Warnung der einen und der Drohung der anderen hat für das Zusammenleben von Gläubigen und Ungläubigen weitreichende Folgen.

2.2. Psychologisch

Dogmen haben nicht nur politische Funktionen. Sie stehen auch in Bezug zu den psy­chologischen Grundbedürfnissen des Menschen: dem nach Zugehörigkeit und dem nach Selbstbestimmung.

2.3. Religiös

Religiöse Dogmen können Menschen darauf hinweisen, dass sich die Wirklichkeit nicht im Horizont sinnlich erfahrbarer Realität erschöpft. Dadurch können sie Gläubige...

Keine Aussage kann das Unbedingte enthalten. Kein Dogma, das Aussagen über das Unbedingte macht, kann daher gelten. Wer Dogmen für unverrückbar hält, lebt im Irrtum.

Die Ziellinie religiöser Rückbindung geht jedoch über die Einbindung in soziale Gemein­schaften und den Gehorsam gegenüber einer Gottesperson hinaus. Die Ziellinie liegt in der Desidentifikation von allem Objektiven. Das Individuum findet zum Absoluten, wenn es jede Bindung an Objektives als vorläufig erkennt. Solange es sich mit Objektivem gleichsetzt, bleibt es versucht, sich mit Dogmen zu begnügen, die als Haltgeber erkenn­bar sind. Die Wahrheit liegt aber nicht im Dogma, sondern in dem, worauf es im besten Fall verweist. So ist der unverrückbare Lehrsatz Außenposten eines Selbstbilds, das sich an Bedingtes klammert und dem der Mut fehlt, sich dem Unbedingten anzuvertrauen.

Religiöse Suche nach dem Unbedingten, kann ihr Ziel nur erreichen, wenn sie alles Bedingte hinter sich lässt. Vertiefte Religion fängt jenseits der Lehrsätze an. Alles diesseits davon ist vorläufig und endet zu früh. Diesseits der Dogmen bleibt Religion Abwehr von Angst. Sie wird zum Versuch, sich als Ego zu erhalten, statt auf der Suche nach dem Selbst über das Ego hinauszugehen.

Nichts hat mehr Blasphemie beseitigt als die Aufklärung.

3. Aufklärung und Religion

Das Anliegen der Aufklärung ist niemals abgeschlossen. Ihre Werte sind stets von Verirrung bedroht. Verirrung ist jeder Vorsatz, der das Individuum entrechten will.

Die einfältige Einbindung ausgrenzender Glaubenslehren birgt ein Risiko für das Wohlergehen aller. Dass die politische Mitte die Kritik an solchen Lehren zugun­sten beflissener Einigkeit ver­meidet, ist falsch verstan­dene Toleranz.

Sura 9, 28-29:**
... nur Schmutz sind die Götzendiener... Bekämpfet, die an Gott nicht glauben...

Jeder Glaube grenzt aus, wenn er für Unglauben Strafe androht.

Schlüsselverdienst der europäischen Aufklärung war es, dem Einzelnen das Recht zu verschaffen, offen an vorgegebenen Lehrsätzen zu zweifeln. In der Folge entdeckte der Mensch dass...

Das führte zur Formulierung der Menschenrechte, zur Entdeckung des Peni­zillins und zur Entwicklung von Impfstoffen, die millionenfach Leben geret­tet und maßloses Leid verhindert haben.

Bahnbrechend für die Aufklärung war das Zeitalter der Renaissance. Renaissance heißt Wiedergeburt. Wiedergeboren wurde der Respekt vor dem Individuum, der in der Antike im Ansatz bekannt und der über Epochen hinweg durch die Forderung blinden Gehorsams ersetzt war.

Dogmatische Religionen neigen dazu, der Individualität misstrauisch gegenüberzustehen. Intellek­tuell hat das zwei Ursachen:

  1. Individualität wird mit Egozentrizität verwechselt.
  2. Dogmatische Religionen glauben, Egozentrizität sei durch Gehorsam überwunden.
Individualität und Egozentrik
Individualität und Egozentrizität sind keineswegs vergleichbar. Im Gegenteil: Sie sind Gegensätze.

Die Überschreitung der Egozentrizität ist Aufgabe und Inhalt jeder Religion, nicht aber die Leugnung des Wertes und die Unterdrückung der Individualität. Alle religiösen Ansätze, die die Egozentrizität durch Vereinheitlichung überwinden wollen, erreichen das Gegenteil. Eine Glaubenspraxis, die das Heil im Gehorsam sieht, entrinnt dem Ego nicht. Sie stärkt es. Gehorsam ist kein Weg zum Absoluten. Er ist ein Festhalten am Eigennutz.

4. Dogmen, Demokratie und Individualität

Erstaunlich
Erklärten Gegnern der Religionsfreiheit wird erlaubt, die freie Wahl religiöser Wege im eigenen Einflussbereich soweit zu bekäm­pfen, wie es ihnen möglich ist. Mancher glaubt, Religionsfreiheit beruhe darauf, ihren Gegnern freie Hand zu lassen.

Tatsächlich ist es so: Religion ist die Suche nach Freiheit. Nichts, was Freiheit abschaf­fen will, ist wahre Religion.

Demokratie fußt unmittelbar auf dem Respekt vor dem Individuum. Ohne diesen Respekt ist Demokratie undenkbar; denn ohne ihn bleibt der Mensch Untertan der jeweils stärksten Gewalt.

Es gibt keinen dogmatischen Glauben, der den Wert des Indivi­duums uneingeschränkt anerkennt. Während die Aufklärung die Macht des Christentums beschnitt, pflegt die islamische Welt fast ungebrochen eine Tradition, die das Recht des Einzelnen, über sich selbst zu bestimmen, verneint. Zwischen Islam und Demokratie liegt ein tiefer Graben. Wird dieser Graben übersehen, geht das zu Lasten der Freiheit. Vielen fehlt der Mut, sich davor zu fürchten.

Die Festlegung des Geistes auf antike bzw. mittelalterliche Vorstellungsbilder hat die geistige Entwicklung der westlichen Hemisphäre für lange Zeit eingefroren. Bis heute besteht Nachholbedarf.


* Die Heilige Schrift / Familienbibel / Altes und Neues Testament, Verlag des Borromäusvereins Bonn von 1966.
** Der Koran, (Komet-Verlag, ISBN 3-933366-64-X), Übersetzung von Lazarus Goldschmidt aus dem Jahr 1916.