Wille


  1. Begriffe
  2. Wille und Begehren
  3. Wille und Selbstbehauptung
Solange ich darauf Wert lege, so oder anders zu sein und dies oder jenes zu haben, bin ich mir selbst zu eng.

In einer Wirklichkeit ohne Widrigkeiten wäre der Wille überflüssig.

1. Begriffe

Wille entspringt dem Verb wollen. Wollen geht auf die indogermanische Wurzel ṷel- zurück, von der auch das Verb wählen abgeleitet ist. Jeder Willensakt setzt eine Wahl voraus, jede Wahl eine Entscheidung zwischen mindestens zwei Möglichkeiten. Sich entscheiden zu können, beruht auf der Freiheit, es zu tun. Wem die Freiheit dazu fehlt, der hat auch keine Wahl.

Verhaltensweisen können durch zwei Faktoren ausgelöst werden:

  1. durch unbewusste Reiz-Reaktions-Schemata
  2. durch bewusste Entscheidungen

Wird ein Verhalten durch ein Reiz-Reaktions-Schema ausgelöst, findet keine bewusste Wahl statt. Ein solches Verhalten entspricht entweder einem rein biologischen Automatismus oder einer Gewohnheit. Biologische Automatismen sind von der Phylogenese vorgegeben. So atmet der Mensch auch dann, wenn er sich nicht jedes Mal dafür entscheidet. Gottlob!

Gewohnheiten sind erworbene Muster, die zu individuellen Automatismen umgegossen sind. Die meisten menschlichen Verhaltensweisen, die im Alltag zur Anwendung kommen, sind mehr oder weniger automatisiert. Sie beruhen auf der vorbewussten Erwartung, dass ein Verhalten, das früher zu gewünschten Ergebnissen geführt hat, auch in Zukunft dazu führen wird. Dank automatisierter Gewohnheiten sind wir in der Lage, ein Auto durch den Verkehr zu steuern und im Geiste zugleich mit anderen Dingen beschäftigt zu sein.

Der Wille setzt ein, wenn kein passender Automatismus für ein auftretendes Problem vorliegt oder wenn die Entscheidung ansteht, ob man entgegen einer Gewohnheit handeln sollte. Zum Willen gehört aber nicht nur die Wahl. Es gehört auch die Anstrengung dazu, das angepeilte Ziel gegen den Widerstand der Wirklichkeit durchzusetzen. Dadurch gerät echter Wille im Gegensatz zum bloßen Wunsch mit dem Umfeld in Konflikt.

Willkür

Dem Begriff Willkür haftet heute eine missbilligende Bewertung an. Willkür gilt als Unrecht, das sich ein Machthaber anmaßt, um sich auf Kosten Ohnmächtiger Vorteile zu verschaffen. Zweifellos hat der Wille das Potenzial zu derlei Zwecken missbraucht zu werden.

Tatsächlich benennt der Begriff die Freiheit der Entscheidung gleich zweifach. Kür geht auf das veraltete Verb kiesen = prüfen, wählen zurück. Im englischen to choose = wählen klingt der gemeingermanische Ursprung des Verbs noch deutlich an. Beim Eiskunstlauf folgt die Kür der Pflicht. Damit ist jener Teil der sportlichen Darbietung gemeint, bei der der Eisläufer frei wählen kann, welche Kunststücke er vorführt. Der Wille, der aus Möglichkeiten wählt, ist das ausführende Organ der Freiheit, über sich selbst zu bestimmen.

2. Wille und Begehren

Willensakte beruhen auf einer Wahl. Die Wahl erfolgt weder zufällig noch auf dem Boden beliebiger Willkür. Der Mensch kann...

Er kann sich aus dem Stegreif aber nicht willkürlich dazu entscheiden, was er will. Was er tatsächlich will, hängt von seinen Begierden ab, die ihrerseits Ausdruck seines Selbstbilds und seiner Realitätsdeutungen sind.

Begierden aller Art sind die wesentlichen Motivationen des menschlichen Verhaltens. Jede Begierde ist ein Haben- oder Seinwollen. Jedem Haben- oder Soseinwollen entspricht der Impuls, sich etwas anzueignen, sich durch etwas zu bereichern oder über das eigene Sosein zu bestimmen.

Spielarten des Begehrens
  • etwas haben wollen
  • etwas sein wollen
  • etwas erleben wollen
  • etwas gelten wollen
  • etwas darstellen wollen
  • etwas bewirken wollen
  • etwas erreichen wollen

oder aber...

  • etwas nicht sein wollen
  • nicht als etwas gelten wollen
  • etwas nicht erleben wollen

Die existenzielle Grundlage des Begehrens ist das Dasein an sich. Zu existieren heißt, in einen Raum hineinzuragen, in dem das Existierende anderem begegnet und der Zeit unterworfen ist. Durch die Begegnung mit anderem ist das Existierende dessen Einflüssen ausgesetzt. Die Einflüsse des anderen auf das Existierende können förderlich sein. In der Summe führen sie aber dazu, dass alles Existierende in seiner Existenz bedroht ist und auf Dauer untergehen wird. Jede zusammengesetzte Struktur unterliegt dem Gesetz der Entropie. Exemplarisch gilt das für den Körper, aber auch für die Person, die sich als Repräsentant des Körpers begreift.

Lebende Organismen reagieren auf die Bedrohung ihres Daseins durch Eigenaktivitäten, die dem Untergang entgegenwirken. Sie stärken sich durch Vereinnahmung anderer Strukturen. Im Gegensatz zu den meisten anderen lebenden Organismen ist sich der Mensch der Bedrohung seines Daseins bewusst. Dementsprechend sind seine Strategien zur Sicherung seines persönlichen Daseins komplex. Er unterliegt dem ständigen Impuls, sich durch irgendetwas zu bereichern. Die Objekte seiner Begierden können in vier Gruppen aufgeteilt werden:

  1. Nahrungsmittel, also organische Substanzen zur Sicherung seiner biologischen Existenz
  2. sinnliche Erfahrungen zwecks prägnanter Erkenntnis seiner unmittelbaren Umwelt
  3. soziale Ränge und Positionen, aus denen heraus er so optimal wie möglich im eigenen Interesse auf die Strukturen seines Umfelds einwirken kann
  4. abstrakte Erkenntnisse über die Wirklichkeit an sich sowie Bewusstheit seiner selbst

Der Impuls, sich etwas anzueignen, ist einerseits unentbehrlich, um überhaupt eine separate Existenz als Individuum zu ermöglichen. Begierden erstrecken sich vom bloßen Hunger bis zum spirituellen Wissensdurst. Sie stehen damit am Anfang der gesamten menschlichen Kultur. Begierden sind aber zugleich die wesentlichen Risikofaktoren, die psychisches Leid begründen. Ungesteuerte Begierden führen dazu, dass gesundes oder zumindest normales Erleben krankhaft entgleist.

Die Ursache der Entgleisung liegt in den irrigen Identifikationen, die das Ich durchführt, um sich selbst zu bestimmen. Das normale Ich entwirft ein Selbstbild. Es setzt sich dazu mit objektiven Sachverhalten gleich, die es dann für sich selbst hält. Es glaubt: Ich bin dieser Körper. Ich bin diese konkrete Person, die diese und jene Position innehat oder innehaben sollte, die bestimmte Meinungen und Vorstellungen von der Wirklichkeit hat.

Da jede Gleichsetzung mit etwas Objektivem immer nur eine Gleichsetzung mit etwas Partiellem, also mit einem Bruchstück sein kann und in der Regel mit etwas Kleinem, das dem Ozean des Nicht-Ich gegenübersteht, steigern Identifikationen das Gefühl, ausgeliefert und bedroht zu sein. Als Reaktion auf das Gefühl werden all jene Begierden verstärkt, durch die sich das Individuum bereichern will und sich damit mächtiger zu machen versucht.

3. Wille und Selbstbehauptung

Einen eigenen Willen braucht das Individuum zu zweierlei:

  1. um von ihm selbst festgelegte Ziele anzusteuern.
  2. um auf Zuständen zu beharren, die in seinen Augen günstig sind.

Wille ist der Vorsatz, darüber zu bestimmen, wie etwas in naher oder fernen Zukunft sein soll. Er dient dazu, der Person Vorteile zu verschaffen, die sie noch nicht hat und Positionen zu halten, die sie nicht verlieren will. Damit ist der Wille ein Repräsentant des Ich. Er dient der Selbstbehauptung der Person in einer widrigen Wirklichkeit.

Vorsätze

Es ist erstaunlich, wie oft selbst die besten Vorsätze scheitern. Das liegt an einer Verkennung der Wirklichkeit. Vorsätze sind Versuche des Egos, die Macht zu übernehmen. Das Ego sagt durch seinen Vorsatz: Ich bestimme, was morgen sein wird. Es soll so sein, wie ich es will. Es macht aber nur wenig Sinn, nach Macht zu greifen, solange man seine Ohnmacht übersieht. Was man übersieht, darüber kann man stolpern.

Willentliche Selbstbehauptung verstrickt die Person in Konflikte. Wer nichts will, leistet keinen Widerstand. Wer etwas will, ruft Widerstände auf den Plan. Im Kontext des Psychologischen Grundkonflikts ist der Wille ein Werkzeug zur Selbstbestimmung. Individuelle Willensakte drohen daher, Einbettungen und Zugehörigkeiten zu riskieren. Zugehörigkeiten bieten ihrerseits Vorteile, die die Person nicht missen will, weil Zugehörigkeiten vor etlichen Widrigkeiten des Daseins schützen.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist individualpsychologisch älter als das Bedürfnis, über sich selbst zu bestimmen. Zugehörigkeit ist für das Überleben des Säuglings unverzichtbar. Selbstbestimmung gewinnt erst im Laufe der Individuation, also der weiteren Persönlichkeitsentwicklung an Bedeutung. Zugehörigkeit schützt nahtlos vor Lebensangst. Der Anspruch, aus einem klar formulierten Willen heraus über sich selbst zu bestimmen, bringt Risiken mit sich, weil er die schützende Einbettung infrage stellt.

Bewusster Wille, Depressivität und Lebensangst
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist tief in der menschlichen Psyche verankert. Da der Wille, frei über sich selbst zu bestimmen, Zugehörigkeit aufs Spiel setzt, ist die Versuchung groß, sich das, was man will, gar nicht erst bewusst zu machen. Misst man der Angstvermeidung durch Zugehörigkeit überwertig viel Bedeutung zu, kann es daher sein, dass man keine Ziele definieren kann, die dem Leben eine selbstbestimmte Richtung geben. Die fehlende Selbstbestimmung mündet dann in eine depressive Verstimmung ein, die die Bereitschaft zu einer zielführenden und damit stabilisierenden Willensbildung weiter untergräbt. Resultat sind verstärkte Lebensangst, Zögerlichkeit, Prokrastination und Unentschlossenheit. Der Verzicht auf willentliche Selbstbestimmung hat den Zweck, Konfrontationen zu vermeiden, die die Lebensangst erfahrbar machen.

Nachhaltig kann Angst nur überwunden werden, wenn man sie erfahrbar macht. Angst zu umgehen, indem man vermeidet, was sie ins Bewusstsein ruft, mag für den Moment entlasten. Vermeidung untergräbt jedoch das Selbstwertgefühl, weil sie der Person die Anerkennung durch sich selbst entzieht. Wer Gefahren immer nur vermeidet, hat nichts, worauf er stolz sein könnte. Langfristig bewirkt der Verzicht auf eigenwillige Selbstbestimmung daher nicht, dass die Angst aus dem Leben verschwindet, sondern dass sie stärker wird. Depressive, ängstlich-vermeidende und abhängige Persönlichkeitsmuster sind das Resultat.

Manche Menschen wissen genau, was sie wollen. Sie sind bereit, sich bei jeder Gelegenheit gezielt für ihre Interessen einzusetzen. Sie gehen voran und scheuen keine Konflikte. Andere warten ab, welche Signale das Umfeld sendet; und tun dann das, was zum Umfeld am besten zu passen scheint.

Keines der Muster ist ein Rezept, das einen optimalen Weg durchs Leben weisen könnte. Da ein optimaler Weg sowieso nicht definiert werden kann, wird es kein Fehler sein, sich das, was man eigentlich will, klar bewusst zu machen, ohne der Illusion zu erliegen, es gelte, den eigenen Willen jederzeit durchzusetzen. Denn der eigene Wille steht nur für das, was das Ego aus dem begrenzten Horizont seiner Realitätsdeutungen für richtig hält.

Wille und Bedürfnis
Oben hieß es: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist individualpsychologisch älter als das Bedürfnis, über sich selbst zu bestimmen. Individualpsychologisch stimmt das. Ohne nahtlose Zugehörigkeit, die die vorgeburtliche und die nachgeburtliche Existenz überhaupt ermöglicht, kann das Menschenkind nicht leben. Zugehörigkeit ist für die Existenz von Embryo und Säugling unentbehrlich. Erst nachdem das Kind sich selbst als einer eigenwilligen Instanz bewusst geworden ist, beginnt sein Versuch, individuell über die eigene Person zu bestimmen.

Leben an sich ist jedoch bereits Selbstbestimmung. Im Gegensatz zum unbelebten beruht die Existenz des belebten Partikels auf Mechanismen, deren Ziel es ist, seinen Bestand zu sichern. Der unbelebte Partikel überlässt sich passiv physikalischen Gesetzen, der belebte versucht, die Gesetze so zu nutzen, dass er ihnen nicht mehr passiv unterliegt.

Der Impuls zur Selbstbestimmung liegt dem Individuum daher inne, bevor sein individualpsychologisches Bedürfnis dazu erwacht. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit liegt so gesehen nicht am Ursprung der Ereigniskette, sondern ist eine Etappe des ursprünglich blinden Willens auf dem Weg zu seinem Erwachen. Vollständig erwacht, erkennt der Partikel, dass er sich letzten Endes nur in vollständiger Zugehörigkeit vollständig selbst bestimmen kann.