Vermutlich regulieren Sie Ihr Selbstwertgefühl flexibel und angemessen. Ihr Interesse an der Steigerung des Eigenwerts bleibt im Rahmen üblicher psychologischer Muster. Es ist weder zu erwarten, dass Sie übermäßig zur Abwertung anderer neigen, noch dazu, Ihre Qualitäten ständig in den Vordergrund zu stellen. Wer selbstbewusst genug ist, Ihnen aufrecht zu begegnen, kann ungeachtet etwaiger Kompetenzunterschiede eine fruchtbare Beziehung mit Ihnen gestalten.
Wenn etwas anders läuft, als Sie es sich wünschen, und im normalen Menschenleben passiert das fast täglich, kommt aber auch bei Ihnen schnell ein Ärger hoch, der zu abwertenden Urteilen führt.
Die Ursache des Ärgers liegt in einem psychologischen Reflex. Instinktiv identifizieren wir uns mit einem Selbstbild. Wir sind dies und das, und nichts anderes. Zu diesem Selbstbild gehört der Anspruch, dass die Dinge so laufen, wie wir es erwarten. Kommt es anders als gewünscht, fühlen wir uns durch den abweichenden Lauf der Dinge zurückgesetzt. Offensichtlich ignoriert die Wirklichkeit unsere Interessen! Sind denn unsere Wünsche, Pläne und Absichten in ihren Augen nichts wert?
Gegen die Angst, uns selbst entwertet zu fühlen, setzen wir Ärger und abwertende Urteile ein. Durch diese Manöver erheben wir uns im Geiste über jenen Faktor, durch den wir uns ignoriert fühlen. Empörung hebt uns fiktiv empor.
Abwertende Urteile dienen dazu, uns vor der Gefahr eigener Entwertung zu schützen. Durch das Urteil vollziehen wir eine Ur-teilung. Wir teilen die Wirklichkeit in zwei Hälften. In der guten sitzen wir, in der schlechten das, was unseren Plänen widerspricht. So trennen wir uns von dem, was uns schaden könnte; zumindest in der Phantasie.
Tatsächlich ist die Wirklichkeit komplexer. Das, was unsere Pläne durchkreuzt, kann eine Quelle höchsten Nutzens sein. Wenn wir im Reflex verwerfen, was uns ärgert, drohen Chancen verlorenzugehen.
Was uns ärgert... So hieß es eben. Und schon haben wir wie Hans im Glück vorschnell etwas aus der Hand gegeben: die Verantwortung für unsere eigenen Gefühle.
Wenn wir meinen, es ärgert uns statt wir ärgern uns, schreiben wir dem Es, über das wir uns ärgern, die Macht zu, unsere Gefühle zu bestimmen. Kurzfristig mag das unser Selbstwertgefühl stützen, weil wir dem Hindernis Bosheit zuordnen und uns im Kontrast damit Tugend. Langfristig wird es unser Selbstwertgefühl jedoch untergraben. Langfristig ist es für das Selbstwertgefühl besser, Gefühle als Werkzeuge zu betrachten, durch die wir selbst unser Verhalten steuern. Wer sich ekelt, trachtet danach, Abstand herzustellen. Wer wütend wird, trachtet danach, einen Gegner zurückzuschlagen. Wer Angst hat, trachtet danach, Gefahren zu vermeiden.