Stolz


  1. Begriffe
  2. Entwicklungspsychologische Bedeutung
  3. Entgleisungen
  4. Kontraste
Kontrapunkt des Stolzes ist das Schamgefühl. Wer stolz ist, will sich zeigen, wer sich schämt, versteckt sich.

Der eine ist stolz auf das, was er ist, ein anderer dankbar für das, was er sein darf.

Jeder Stolz beruht auf der Illusion des separaten Ich. Das Ego mag stolz darauf sein, etwas zu können. Übersieht es dabei, dass das, was in ihm zustande kommt, nur gemeinsam mit dem errichtet wird, was außerhalb von ihm liegt, versteift es sich in eine Festigkeit, die in Wirklichkeit keinen Bestand hat. Dankbarkeit ist die Brücke, die dort weiterführt, wo Stolz vor dem Abgrund steht.

Stolz kann Tugenden schützen hinter die man sich willentlich zu stellen hat. Er kann aber Tugenden beugen, indem er die Eitelkeit über sie stellt.

1. Begriffe

Stolz geht wie die Stelze auf die indogermanische Wurzel stel- = stehen machen, aufstellen zurück, der unschwer erkennbar auch das Verb stellen entspringt. Die weitere sprachliche Verwandtschaft des Begriffs Stolz ist breit gefächert. Sie erstreckt sich über sämtliche Ableitungen des Verbs stehen, das seinerseits auf die indoeuropäische Wurzel st[h]ā- zurückzuführen ist. Ohne dass es größerer Erklärungen bedürfte, sind Sinn und Klang des gleichen Gedankens aus folgenden Wörtern herauszuhören: Stadt, Stätte, Stuhl, Gestade, stet, stur, Gestell, Stab, stemmen, stauen.

Wie es die Nachbarn sehen
Die englischen Begriffe pride und proud sind über altfranzösisch prud aus lateinisch prōde = vorteilhaft bzw. prodesse = nützlich sein zu uns gekommen. In prodesse finden wir die Wörter pro = für, vor, hervor und esse = sein. Die kommunikative Botschaft des Stolzes wird vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Wurzeln deutlich; ebenso die individualpsychologische Funktion.

Im Französischen gibt es zwei Begriffe, die das Bedeutungsspektrum des Stolzes abdecken: orgueil und fierté. Orgueil kann auf das althochdeutsche urguol = bemerkenswert, hervorragend zurückgeführt werden. Fierté entspringt dem lateinischen Adjektiv ferus = ungezähmt, wild und dem lateinischen Verb fidere = glauben, vertrauen.

Die französischen Entsprechungen fokussieren zwei Bedeutungsfacetten des Stolzes:

Eine enge psychologische Verbindung besteht zwischen dem Stolz und dem Ehrgefühl. Wenn es heißt: Ich bin zu stolz, um zu..., dann sträube ich mich, mich zu einer Tat herabzulassen, die mir unehrenhaft erschiene.

2. Entwicklungspsychologische Bedeutung

Stolzieren ist eine Karikatur des aufrechten Gangs.

Stolz ist eine wichtige Triebkraft bei der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Dementsprechend taucht die Wurzel stehen auch im Eigenschaftswort eigenständig auf. Auf dem Weg aus der völligen Abhängigkeit des Säuglingsalters hin zur selbstbewussten Selbständigkeit eines gesunden Erwachsenen hat die Natur den Erwerb einer typisch menschlichen Eigenschaft vorgesehen: sich aufzustellen, da zu stehen und aufrecht durch die Welt zu gehen. Wir wissen, dass es Kinder mit erheblichem Stolz erfüllt, wenn ihnen der aufrechte Gang ein erstes Mal gelingt. Dabei wird ihnen vom Umfeld in der Regel begeistert applaudiert. Dafür, dass es nun stehen kann, bekommt das Kind von Menschen, die seine Selbständigkeit begrüßen, Bestätigung. Wir hören es: Bestätigung soll den Stolz auf das Erreichte stützen. Stützen heißt zum Stehen bringen.

Wenn das Kind andere überragt, weil es fähig ist, dann ist das sein Schicksal. Wenn es fähig ist, weil es überragen will, ist es sein Hochmut.

Die Fähigkeit, selbständig zu stehen, kann als symbolische Etappe auf einem langen Weg betrachtet werden. Mit dem Erwerb einer jeden neuen Fertigkeit stellt sich das Kind unter Seinesgleichen; oder es gelingt ihm sogar, andere zu überragen. Dabei spielt der Stolz auf das Erreichte als angenehme und damit begehrenswerte Gefühlsqualität eine wesentliche Rolle. Stolz ist eine Komponente des Selbstwertgefühls.

Nützliche und übertriebene Betonungen

Man kennt sie: Eltern, die sich nach jedem Strich, den ihr Nachwuchs auf einem Blatt Papier hinterlässt, vor Begeisterung erdrosseln, sodass Auktionshäuser in Übersee glauben, der Welt sei ein neuer Caravaggio geschenkt.

Um die Lust des Kindes auf weitere Fortschritte anzuregen, kann es förderlich sein, seinen Stolz auf bislang Vollbrachtes zu steigern; und ihm dabei mehr Lob als Dünger zu spendieren, als es ein Kunstkenner vor der dritten Tasse Kaffee für angebracht hält. Es ist richtig: Stolz kann eine wichtige Funktion erfüllen. Er kann helfen, um von unten etwas aufzubauen. Lassen wir einen solchen Stolz getrost gewähren. Und je jünger das Kind ist, desto dicker kann man bei der Stimulation dieses Stolzes auftragen, ohne dass sich die Bauchspeicheldrüse entzündet.

Die übertriebene Belobigung durchschnittlicher Leistungen kann aber auch jene Facette des Stolzes füttern, die weniger ungezähmtem Selbstvertrauen entspricht, und umso mehr einem idealisierten Selbstbild, dessen Glanz nur beizubehalten ist, wenn man sich angewöhnt, hochmütig auf andere herabzublicken. Ein solcher Stolz ist eine Sackgasse. Er vergiftet das Miteinander. Er hebt nicht von unten nach oben. Er macht das Unten bloß glauben, bereits oben zu sein. Tatsächlich ist das Unten nur oben, wenn es nie aus dem Auge verliert, dass es unten bleibt, obwohl es oben ist.

3. Entgleisungen

Wer stolz darauf ist, überlegen zu sein, zeigt damit an, dass er es nicht ist.

Die bisherige Untersuchung hat bestätigt, was wir bereits wussten: Wie wohl fast allem im Leben ist auch der nützlichen Seite des Stolzes eine dunkle zugeordnet. Über stet und stur hat der Stolz etwas mit Versteifung zu tun. Da Stolz einem erhabenen Selbstwertgefühl entspricht, neigt der Mensch dazu, sich daran festzuhalten. Da der aufrecht Stehende nicht nur steht, sondern sich durch das Stehen nach oben erhebt und damit besser erkennbar wird, kann er nach dem Gefühl des Stolzes süchtig werden. Daher macht er dreierlei:

  1. Er will immer wieder neu bewundert werden, weil ihm die Bewunderung bestätigt, dass sein Stolz berechtigt ist.
  2. Er frönt der Illusion, durch diese oder jene Eigenschaft mehr wert als andere zu sein.
  3. Um sein Selbstwertgefühl auf hohem Niveau zu halten, neigt er dazu, andere abzuwerten; weil er im künstlich erzeugten Kontrast zum vermeintlichen Unwert anderer stolzer dasteht, als es ihm ohne die Entwertung der anderen gelänge.

Die narzisstische Persönlichkeit ist der typische Repräsentant dieser Dynamik. Der narzisstische Mensch ist stolz auf seine Fähigkeiten oder Eigenschaften. Nur selten genügt ihm jedoch die Anerkennung, die er sich selber zollt. Er verlangt die Bestätigung seines besonderen Wertes durch andere; und zwar in Wort und Tat. Bekommt er nicht das, was er haben will, greift er zu drastischen Mitteln. Er wertet andere ab, entweder zur Strafe für die Verweigerung des narzisstischen Tributs oder um verborgene Zweifel an seinem Selbstwert abzuwehren.

Todsünden
Stolz (lat.: superbia) gilt im christlichen Glauben als eine der sieben Todsünden. Würde die Kirche dem Himmel nicht im gleichen Zuge eine andere Todsünde andichten, nämlich Zorn und Rachsucht (lat.: ira), wäre es leichter, den wahren Kern ihres Urteils über den Stolz zu erkennen. Stolz ist eine Qualität, die unauflöslich mit dem Ego verbunden ist. Wer über sein Ego hinauswill, kommt nicht umhin, ihn hinter sich zu lassen. Metaphorisch könnte man sagen: Wer zum wahren Leben aufsteigt, erkennt, dass jeder Stolz zum Tode verurteilt ist.

4. Kontraste

Stolz hat etwas mit Kontrasten und Anerkennung zu tun.