Multiple Persönlichkeit / Dissoziative Identitätsstörung


  1. Beschreibung
    1. 1.1. Begriffe und Zuordnungen
    2. 1.2. Kernsymptome
    3. 1.3. Verdachtsmomente
    4. 1.4. Übergänge und Unterschiede
    5. 1.5. Pseudo-DIS
  2. Innerseelische Vorgänge
    1. 2.1. Biographische Ursachen
    2. 2.2. Verdrängen und dissoziieren
    3. 2.3. Wahrnehmung und Vorstellung
  3. Lösungsstrategie

1. Beschreibung

Verteilung der Geschlechter

Die dissoziative Identitätsstörung tritt überwie­gend bei Frauen auf. Ihr Anteil beträgt 80-90 %. Daher spricht diese Seite meist von Patientinnen; obwohl die Störung auch bei Männern auftreten kann.

1.1. Begriffe und Zuordnungen

Die multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) wird auch als disso­ziative Identitätsstörung (DIS) bezeichnet. Unter dissozia­tiven Störungen versteht man seelische Zustände, bei denen Teile des Erlebens aus dem Bewusstsein abgespalten sind.

Obwohl durch die Abspaltung und Ausblendung von Erlebnis­inhalten durchaus eine Störung der Persönlichkeit entsteht, haben sich die Autoren der Klassifikationssysteme entschlos­sen, die MPS nicht den Persönlichkeits­störungen zuzuordnen.

Stattdessen wird sie sowohl von der internationalen Klas­sifikation der Krankheiten (ICD-10: F44.81) als auch von der amerikanischen (DSM-VI: 300.14) als dissoziative Störung bezeichnet.

Zu diskutieren ist, ob der Begriff Identitätsstörung nicht dem einer Identifikations­störung Platz machen sollte; denn die Identität dissoziierender Personen bleibt durch den Prozess der Dissoziation unberührt. Was wechselt, sind unbewusst vollzogene Iden­tifikationen mit jeweils unterschiedlichen Persönlichkeitsmodellen bzw. Eigenschafts­clustern (englisch cluster = Bündel). Gestört ist nicht die Identität der Person, sondern deren Identifikation mit einem integrierten Selbstbild.

Frauendomäne

Als Ursache der auffälligen Geschlechter­verteilung sind geschlechts­spezifische Begabungen und Interessen anzunehmen. Auch wenn es zahlreiche Abweichungen von dieser Regel gibt, so trifft sie doch zu: Frauen haben statistisch gesehen eine höhere soziale Intelligenz. Sie können sich besser als Männer in die Persönlichkeit anderer Menschen einfühlen und sind als Resultat dieser Intuition kontaktfähiger. Das führt dazu, dass sie auch im Umgang in dem eigenen seelischen Erleben eher in der Lage sind, die thematische und ästhetische Zugehörig­keit bestimmter Verhaltensmerkmale zu erfassen... und sie in einem kreativen Schritt zu personali­sieren.

1.2. Kernsymptome

Bei der dissoziativen Identitätsstörung tritt die Kranke zu verschiedenen Zeiten als je­weils unterschiedliche Persönlichkeit auf. Die Persönlichkeiten unterscheiden sich durch...

Die Aktivierung unterschiedlicher Persönlichkeiten orientiert sich an situativen Erforder­nissen. Je nach Lage der Dinge werden verschiedene Eigenschaftsbündel ausagiert.

Als agieren bezeichnet die Psycho­analyse ein Handeln, das als Ausdruck verdrängter oder abgespaltener Motive ausgeübt wird, ohne dass der Handelnde seine Motive reflektiert. Der Begriff geht auf lateinisch agere = handeln, bewegen zurück.

Neben der Primärpersönlichkeit, die die Patientin der Außenwelt in der Regel zuwendet, zeigt sich, angepasst an spezifische Situationen, mindestens eine, oft aber mehrere Sekundärpersönlichkeiten. Im Schnitt mögen es 5-15 sein. Es wurden auch Fälle beschrieben, bei denen die Zahl der Sekundärpersönlichkeiten weit höher gewesen sein soll.

Diagnosekriterien gemäß DSM-VI

Komplex-partiell nennt man spezielle Formen epileptischer Anfälle, bei denen es nicht zum Verlust des Bewusstseins kommt, sondern zu veränderten Erlebnisweisen, in deren Verlauf komplexe Handlungen durchgeführt werden, an die sich der Kranke nach dem Anfall nicht mehr oder nur noch unscharf erinnert. Die epileptische Verursachung eines solchen Anfalls ist im EEG zu erkennen.

Zu den Kernsymptomen der DIS gehört eine psychogene Gedächtnisstörung.

Eine psychogene Gedächtnisstörung wird durch psychische Prozesse - sogenannte Abwehr­mechanismen - hervorgerufen. Psychogene Gedächtnisstörungen sind von hirnorganischen oder toxischen Störungen abzugrenzen. Zu den hirnorganischen Gedächtnisstörungen gehören jene, die durch Abbauprozesse (z.B. Alzheimer-Krankheit) verursacht werden. Als Beispiel für toxisch verursachte Gedächtnis­störungen ist der Filmriss nach Alkoholexzess bekannt. Hinter der psychogenen Gedächtnisstörung steht ein Motiv, hinter der organischen und toxischen nicht.

Im Extremfall weiß eine Teilpersönlichkeit nicht, was die andere erlebt hat. Dann ist der entsprechende Gedächtnisinhalt vollständig abgespalten. Meist kommt es aber nur zu teilweisen Abspaltungen, sodass die Erinnerung daran, was man unter der Dominanz der jeweils anderen Persönlichkeit tat, bloß ausgedünnt, verblasst, entrückt oder wie nicht zu einem selbst gehörig erscheint.

Symptome, die an dissoziative Elemente bei der Entstehung psychischer Probleme denken lassen

Ist der jeweilige Gedächtnisinhalt ganz abgespalten, kann es sein, dass die eine Persönlichkeit nichts von der Existenz der anderen ahnt. Dann weiß die Jungfrau tatsächlich nicht, wie sie zum Kinde kam. Liegt eine teilweise Abspaltung vor, wissen die verschiedenen Persönlichkeiten voneinander. Sie beurteilen sich wechselseitig und rivalisieren um den Einfluss auf die Primärperson.

1.3. Verdachtsmomente

Über die Häufigkeit der DIS sind sich Psychiater uneinig. Sogar die Existenz der Störung überhaupt ist heftig angezweifelt worden. Spontan gibt es nur wenige Personen, die von sich aus eine Persönlichkeitsspaltung im vollumfänglichen Sinne einer MPS benen­nen oder Probleme beschreiben, die an die Existenz von Sekundär­persönlichkeiten denken lassen, von denen sie selbst nichts wissen.

Vermutlich sind bei vielen seelischen Problemen aber dissoziative Mechanismen im Spiel, die zu komplexen Störungen beitragen; ohne dass die Patientinnen so weit gehen, sich als Spielfeld unabhängig voneinander handelnder Sekundär­persönlichkeiten zu verstehen.

Was ihnen stattdessen auffallen mag, sind plötzliche Stimmungs­wechsel, unerklärliche Launen, sprunghaftes Verhalten, Ände­rungen ihrer Vorsätze und Urteile über Lebensumstände oder Elemente der Außenwelt, deren Hin- und Herwogen ihnen selbst rätselhaft erscheint. Erst durch gezieltes Hinterfragen werden dann dissoziative Muster erkennbar, deren Effekte man als unterschwellige oder teilweise dissoziative Identitätsstörungen verstehen kann.

1.4. Übergänge und Unterschiede

So exotisch den meisten das Vollbild einer DIS erscheinen mag, tatsächlich ist sie ein extremes Endergebnis weit verbreiteter psychologischer Phänomene:

  1. der Anwendung unterschiedlicher Charakterrollen je nachdem, in welcher Situation man sich befindet
  2. der selektiven Verhaltensrelevanz bestimmter Erinnerungs- und Erfahrungselemente je nach angewandter Rolle
Der wesentliche Unterschied zwischen polarisiertem Rollenspiel und manifester Identitätsstörung liegt in der Abspaltung von Gedächtnis­inhalten. Da Gedächtnisinhalte ganz oder teilweise abgespalten werden können, sind Übergänge anzunehmen.

Auch im Normalfall kommuniziert der Mensch nicht mit einer einheitlichen Identität, in die sämtliche biographische Erfahrungen gleichberechtigt eingebettet sind. Auch der normale Mensch zeigt je nach Situation und den Zwecken, die er darin anstrebt, unterschiedliche Gesichter. Mal sind die Unterschiede diskret, mal sind sie so deutlich polarisiert wie im folgenden Fall:

Dass man Bernd nicht als multiple Persönlichkeit bezeichnet, hat Gründe:

Obwohl Bernd nicht als multiple Persönlichkeit gelten kann, ist davon auszugehen, dass sein Verhalten Tina gegenüber von bestimmten Gedächtnisinhalten beeinflusst wird, die in der Firma weit weniger bewusstseinsnah und verhaltenswirksam sind, die er den Kollegen gegenüber folglich in den Hintergrund schiebt, Tina gegenüber aber nicht; zum Beispiel: wie unwichtig seiner Mutter oft sein Befinden war.

Es ist daher sinnvoll, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der dissoziativen Identi­tätsstörung und anderer Seelenzustände aufzuzeigen.

Vergleich der DIS mit anderen Zuständen

Funktions­niveau Gedächtnis Perso­nifizie­rung
Vollständige DIS Die Gedächtnisinhalte sind vollständig abgespalten. Die Teilpersönlichkeiten können sich gegenseitig nicht unmittelbar wahrnehmen. Sie können nur anhand der Effekte ihres jeweiligen Handelns aufeinander schließen. +
Teilweise DIS Die Gedächtnisinhalte sind teilweise abgespalten. Die Teilpersön­lichkeiten nehmen einander wahr. Sie haben einen eingeschränkten oder verblassten Zugang zu den jeweils gegenseitigen Erinnerungen. +
Unter­schwellige DIS
Polarisiertes Rollenspiel
Borderline-Störung
Sämtliche Gedächtnisinhalte sind grundsätzlich jeder Rolle zugänglich. Je nach Rolle und Situation rücken sie aber selektiv in den Hinter- oder Vordergrund, sodass stark abweichende Verhaltensmuster entstehen. -
Klassische Persönlichkeits­störung Bestimmte Gedächtnisinhalte werden dauerhaft verdrängt. Die übrigen sind grundsätzlich immer zugänglich. -
Integrierte Persön­lichkeit Alle Gedächtnisinhalte sind ihrem Gewicht entsprechend ins Selbstverständnis der Person eingebettet. -

Mit Personifizierung ist die namentliche Abgrenzung der unterschiedlichen Erlebensvarianten und damit die ausdrückliche Definition von Teilpersönlichkeiten gemeint.

1.5. Pseudo-DIS

Die Diagnose einer DIS wird selten gestellt. Es kann sein, dass das Folge mangelnder Achtsamkeit psychiatrischer Untersucher ist. Andererseits wird die Diagnose aber auch gestellt, wo keine DIS vorliegt. Ursache dafür können Motive der Patientinnen sein oder solche der Untersucher.

Die absichtliche Personifizierung von Verhaltensmustern kann langfristig integrierend sein, sie kann kurzfristig aber auch Symptome einer DIS vorspiegeln, die keine sind.

2. Innerseelische Vorgänge

Zur Entstehung und Aufrechterhaltung der MPS führt der Gebrauch eines besonderen Abwehrmechanismus: der Dissoziation biographischer Erinnerungen. Dabei werden so­wohl Erinnerungen an weit zurückliegende traumatische Schlüsselerlebnisse ausgeblen­det, als auch solche, die unter der Dominanz einer Teilpersönlichkeit aktuell anfallen. Wie Abspaltungen vonstattengehen, lässt sich beleuchten, indem man sich die biographischen Ursachen vor Augen führt, die vor allem bei schweren Formen der Identitätsstörung aufzudecken sind.

2.1. Biographische Ursachen

Überdurchschnittlich häufig findet man in der Vorgeschichte von Frauen, die unter dem Vollbild einer DIS leiden, Missbrauchs- und Gewalterfahrungen. Häufig stammen die Täter aus dem familiären Umfeld. Das ist kein Zufall. Die besondere Erlebniskon­stellation, die solchen Erfahrungen zugrunde liegt, bahnt die Entstehung dissoziativer Abspaltungen.

Um die Situation zu bewältigen, entwarf Jennifers Vorstellung zwei Varianten ihres Selbstbilds. Zur einen gehörte das Unvereinbare; samt Angst, Schmerz und Scham, die es begleiten mochte. Um die Grenze deutlich zu machen, nannte Jennifer dieses Bild Simone. Zur zweiten gehört die Normalität, für die die abgespaltene Erfahrung fortan keine Rolle mehr spielte und die folglich auch weiterhin als Jennifer firmiert.

Da das Bewusstsein ausblendet, was man nicht als zur Wirklichkeit gehörig zählt, rückte die Erinnerung an das Unvereinbare Schritt für Schritt in den Hintergrund; bis sie entweder ganz aus Jennifers Blickfeld verschwand oder nur noch schemenhaft zu erkennen war.

2.2. Verdrängen und dissoziieren

Integriert ist eine Persönlichkeit, wenn sie sämtliche Erlebnisse gleichberechtigt in den Fundus der Erfahrungen übernimmt, aus dem heraus sie in der Folge ihren Bezug zur Wirklichkeit gestaltet. Zur Integration von Erfahrungen gehört es:

Der Mensch neigt jedoch dazu, irritierende Erfahrungen und schmerzliche Gefühle, die mit ihnen in Verbindung stehen, von sich zu weisen, indem er nicht hinsieht und das Schmerzliche durchlebt, sondern sich abwendet und es zu ignorieren versucht. Dieser Impuls führt zur Verdrängung. Man verleugnet Erkenntnisse, die man nicht ins Selbstbild integrieren will oder kann. Das Bewusstsein blendet dazu jene Erlebnisse aus dem biographischen Kontext aus, die gefürchtete Erkenntnisse mit sich bringen.

Zwei Muster

Bei der Verdrängung bleibt der zurückgewiesene Inhalt verborgen. Bei der Dissoziation erreicht er von Zeit zu Zeit die Oberfläche und bestimmt von dort aus das Verhalten der Realperson.

Durch die Verdrängung wird die Integrität der Persönlichkeit gestört. Statt dass sie sich unbefangen der Wirklichkeit zuwendet, vermeidet sie fortan, was die verleugnete Erkenntnis ins Bewusstsein heben könnte. Je nachdem, was nicht wahrgenommen werden soll und je nachdem, welche Mittel zur Abwehr der gefürchteten Erkenntnis zur Anwendung kommen, entsteht diese oder jene Persönlichkeitsstörung.

Auch bei der DIS wird das Gefürchtete verdrängt. Es wird aber nicht durchgehend in der Verdrängung gehalten, sondern es bahnt sich den Weg zur Oberfläche, indem es in einem abgespaltenen Erlebnisfeld zum Ausdruck kommt und von dort aus das Verhalten der Realperson eine Zeit lang steuert. Statt dass sich die eine Persönlichkeit ständig verbiegt, treten abwechselnd zwei Muster auf, über deren Charakter ein jeweils unterschiedliches Repertoire nicht integrierter Erfahrungen bestimmt.

Wahrzunehmen heißt, das Wahrgenommene in den Bestand des als wahr Anerkannten aufzunehmen.
2.3. Wahrnehmung und Vorstellung

Die Wirklichkeit wird wahrgenommen. Sie wird nicht ausgedacht. Da der DIS ein Widerstand dagegen zugrunde liegt, die Wirklichkeit ohne Auswahl wahr­zunehmen, ist die Wahrnehmung der multiplen Persönlichkeit betont selektiv. Mal nimmt sie von dem, was sie tut, wünscht, erinnert und erlebt den einen Teil wahr, mal einen anderen.

Statt sich zu regulieren, indem sie sich dem Wahrnehmbaren so anvertraut, wie es in ihrem Blickfeld auftaucht, versucht sie, die Widersprüche des Lebens durch Vorstel­lungsmanöver unter Kontrolle zu bringen. Dazu gehört die Personifizierung wider­sprüchlicher Regungen und Sichtweisen.

Nicht Annegret tut das, Chantal jenes und Käthe dieses, sondern ich tue mal dies, mal das und mal jenes.

3. Lösungsstrategie

Es gibt keine medikamentöse Behandlung, die nachweislich etwas gegen die DIS bewir­ken könnte. Der heilende Ansatz ist psychotherapeutisch. Medikamente können zum Einsatz kommen, wenn im Rahmen der DIS Folgeerkrankungen auftreten, die medika­mentös erreichbar sind; zum Beispiel eine Depression nachdem die DIS zum Scheitern einer wichtigen Beziehung geführt hat.

Jede Dissoziation entspricht einer mangelnden Integration ausgeblendeter Erlebnisse und daraus resultierender Erkenntnisse in den Gesamtzusammenhang des Selbstbilds. Jede Heilung dissoziativer Störungen beruht folglich auf der Einbettung der vermie­denen Elemente in den Erfahrungskontext einer einheitlich erlebten Persönlichkeit.

Dazu gilt es, die Personifizierung innerseelischer Widersprüche aufzuheben und die Widersprüchlichkeit selbst als Wesenszug der Existenz zu akzeptieren. Je nachdem, wie bitter die Gefühle sind, die die Patientin bislang vermeidet, kann der Weg zum Ziel lang und steinig sein.