Anatta (Pali - अनत्त) bzw. Anatman (Sanskrit अनात्मन्) ist gemäß der buddhistischen Ontologie eines der drei Wesensmerkmale der Wirklichkeit. Die beiden anderen sind Anicca und Dukkha. Anicca kann als Vergänglichkeit, Dukkha als Leid übersetzt werden. Gemäß dem Buddhismus sind alle Erscheinungen vergänglich, leidbehaftet und ichleer. Diese Sichtweise vollständig zu verinnerlichen, entspreche der Verwirklichung des Nibbana (Pali - निब्बन), eines Zustandes der völligen Befreiung vom Leid.
Nibbana heißt Verlöschen. Beim Übergang ins Nibbana erlischt der Versuch, vor sich selbst eine persönliche Eigenständigkeit zu behaupten, die der Wirklichkeit nicht entspricht. Nibbana ist ein Eingeständnis der Wahrheit, das die Vorrangigkeit des persönlichen Interesses nicht nur taktisch verleugnet, sondern faktisch verwirft.
Die Vorsilbe An- verneint. Atman bzw. Atta heißt Einzelseele, individuelles Ich. An-Atman heißt kein individuelles Ich. Der Buddhismus betont, dass es keine individuelle Einzelseele gibt, die als eigenständige Instanz all dem gegenübersteht, was sie selbst nicht ist. Anatta wird daher auch durch den Begriff Ichlosigkeit übersetzt. Anatta benennt die Uneigenständigkeit aller objektivierbaren Sachverhalte; und dazu gehört auch die Person, die man im Spiegel zu Gesicht bekommt und deren Gedanken, Impulse und Gefühle als vergängliche Inhalte des Bewusstseins erkennbar werden.
Die dualistische und die monistische Religionsauffassung gehen dabei verschiedene Wege. Der Dualismus glaubt an die eschatologische Existenz der Person. Daher predigt er eine taktische Abkehr von egozentrischen Motiven, um das verzichtbereite Ego für ein vorgestelltes Paradies zu qualifizieren. Da er die Idee des eigenständigen Egos aber nicht aufgibt, bleibt die Egozentrik trotz taktischer Abkehr erhalten und führt zu seelischen Verwerfungen.
Die monistische Religionsauffassung geht davon aus, dass es ein eigenständiges Ego abseits des Absoluten gar nicht gibt. Sie predigt daher keinen taktischen Verzicht, um den Zorn des Absoluten auf sein Gegenüber abzuwenden. Sie baut darauf, dass die Einsicht in das tatsächliche Wesen der Wirklichkeit dazu führt, dass der Drang der Person, sich über ihre wahre Bedeutung hinaus zu erhöhen, faktisch verblasst.
Dualismus bedarf des Glaubens. Mystik folgt der Einsicht. Dualistischer Glaube macht an der Person halt. Mystik überschreitet sie. Dualismus versucht die Quadratur des Kreises. Er will dem Absoluten begegnen. Monismus erkennt, dass es jenseits des Absoluten nichts gibt, das ihm begegnen könnte.
Der Begriff Ich kann auf zweierlei Art verstanden werden.
Als separate Instanz, die einem Nicht-Ich gegenübersteht und das Nicht-Ich nicht als Komponente ihrer selbst anerkennt.
Version A entspricht der konventionellen Definition, die Personen im Alltag verwenden um die Kommunikation zwischen Ich und Du zu gestalten.
Version B entspricht einem metaphysischen Konzept, das als uneingeschränkt authentische Instanz allen erkennbaren Inhalten der Wirklichkeit zugrunde liegt. Die Verwendung des Begriffs Ich im Zusammenhang mit dieser Instanz ist problematisch, weil er durch die konventionelle Definition mit egozentrischen und damit dualistischen Konnotationen beladen ist. Das gleiche gilt für den Begriff Instanz. Auch er ruft prompt Vorstellungen auf den Plan, die eine Spaltung der Wirklichkeit in Teile voraussetzt. Instanz geht auf lateinisch instare = bestehen auf, nachsetzen, bedrängen zurück. Der Begriff benennt damit das selektive Eigeninteresse eines Teiles gegenüber anderen.
Instanz kann durch Prinzip ersetzen werden. Damit wird dem Erkennenden, was immer sein wahres Wesen auch sein mag, eine übergeordnete Rolle vor dem Erkannten zugestanden.
Die separate Instanz, die davon ausgeht, dass ihr Wesen von anderem kategorisch abgegrenzt werden kann, kann als Person bzw. relatives Selbst bezeichnet werden. Das erkennende Prinzip entspricht dem absoluten Selbst, das das eine Selbst aller Erscheinungen ist.
Unterscheidet man begrifflich zwischen den beiden Definitionen des Ich, wird das Konzept des Anatta verstehbar. Ein separates Ich, das unabhängig vom Nicht-Ich existieren würde, gibt es nicht. Jede Person geht unabtrennbar aus dem Kontext hervor, in den sie zeitlebens eingewoben ist. Das persönliche Ich erscheint nur als ein relatives Gegenüber des Nicht-Ich. Es wird ebenso vom Nicht-Ich mitbestimmt wie es selbst Einfluss auf das Nicht-Ich hat. Eine Grenze, die das eine vom anderen kategorial abtrennt, ist nicht erkennbar. Persönliches Ich und Nicht-Ich sind gemeinsam Welt.
Mitbestimmung
Wenn es heißt, das persönliche Ich habe ebenso Einfluss auf das Nicht-Ich wie es umgekehrt durch dieses mitbestimmt wird, ist zu beachten, dass der Begriff ebenso nicht quantitativ aufzufassen ist; zumindest nicht pauschal. In der Summe wird das persönliche Ich ungleich mehr vom Nicht-Ich mitbestimmt als umgekehrt. Alles, was es erlebt oder bewirkt, wird ihm durch das Nicht-Ich ermöglicht; und das nicht nur, weil das Nicht-Ich dem Ich Objekte zur Verfügung stellt, auf die es einwirken kann, sondern weil das Nicht-Ich Grundlage aller Fähigkeiten des persönlichen Ich ist, überhaupt etwas zu bewirken.Nur punktuell kann das Verhältnis umgekehrt sein. Wenn ich ein Unkraut aus dem Beet entferne, ist mein Einfluss auf das Unkraut größer als dessen Einfluss auf mich. Trotzdem bestimmt die wehrlose Pflanze über mich mit. Ihre Präsenz löst in mir ein Verhalten aus, das die momentane Erscheinung meines Daseins entscheidend beeinflusst. Wer steuert an dieser Stelle tatsächlich den Fortgang der Wirklichkeit? Zwei Aussagen sind gleichermaßen gültig:
Als Personen glauben wir wunders, was wir in unserem Leben alles zu bestimmen hätten. Dabei sind wir winzige Module, deren individuelles Mitbestimmungsrecht sich auf einen Horizont beschränkt hinter dem sich ein schier unendliches Kraftfeld erstreckt, aus dem heraus unser Schicksal geschmiedet wird.
Das absolute Selbst verweist auf das Erkannte; und zwar nicht in einem konkurrierenden Sinne, indem es Ich und Nicht-Ich als jeweils unabhängige Einheiten auffasst, die miteinander rivalisieren. Es ist Erkennen an sich. Ichlosigkeit heißt, dass das persönliche Ich nicht mit seinem Selbst identisch ist. Das persönliche Ich entsteht aus dem absolutem Selbst. Das absolute Selbst des Ich besteht aber nicht aus der Person, die beim Gespräch mit einem Du ich sagt.
Auf dem Weg zur Befreiung von seelischem Leid, gilt es zu erkennen: Ich bin nicht das, als was ich erscheine. Ich bin das, was die Erscheinung hervorbringt.
Befreit wird der Erkennende jedoch von jenem Leid, das er sich bis dahin durch seine egozentrische Sichtweise auf die Wirklichkeit selbst zufügt. Das unumgängliche, also existenzielle Leid, das zum Dasein unentrinnbar gehört, wird weiterhin erfahren, ohne jedoch durch das verengte Selbstbild des Egos überflüssigerweise dramatisiert zu werden. Je deutlicher das Ich erkennt, dass es als Abgespaltenes zwar vorübergehend existiert und daher auch bittere Erfahrungen macht, dass es aber nur im absoluten Selbst wirklich ist, desto mehr fällt die Vernichtungsangst, die den meisten seelischen Störungen zugrunde liegt, von ihm ab. Was für ein Segen, wenn ich nicht mehr glaube, ein bedrohter Teil zu sein, der sich zur Abwehr der Bedrohung auf Gedeih und Verderb verbessern, bewahren, beschneiden, vergrößern, verkleinern, anpassen, belehren, ermahnen und bereichern muss. Was für ein Segen, wenn ich sagen kann: Ich bin, was ich bin. Und das zu sein, ist in Ordnung.