Der Kontakt

Die Etymologie der Begriffe...


3. Verbindung

Am Schalter in Mainz fragt ein Bahnkunde nach der nächsten Verbindung nach Brüssel. Dem Schalterbeamten ist klar, dass der Mann mit dem Zug fahren will und kaum mit dem Hinweis auf ein Seilende zufrieden wäre, welches bis nach Brüssel reicht und das er sich gegen Gebühr um den Bauch binden kann.

Stellt derselbe Bahnkunde vor Abfahrt des Zuges telefonisch eine Verbindung mit Brüssel her, um seine Ankunft anzukündigen, ist zwar ein Kabel im Spiel, doch auch hier genügt es nicht, dass er das Kabel packt und sich daran festhält. Beim Telefonieren will er sich in Form eigener Gedanken, durch Grüße, Aufträge oder einen gefälligen Schwatz durch das Kabel hindurch nach Brüssel übertragen. Dabei besteht die eigentliche Verbindung in dem, was beim Herüber-und-hinüber als Impuls empfangen wird.

Chemische Verbindungen sind keine bloßen Verknüpfungen unterschiedlicher Moleküle und Atome, die durch elektromagnetische Schnüre zusammengehalten würden wie ausgediente Schuhe im Sammelcontainer. In chemischen Verbindungen entstehen durch die Dynamik heftiger Reaktionen neue Substanzen, Eigenschaften und Möglichkeitsfelder, die durch die Grundbestandteile allein nicht hätten verwirklicht werden können. Bahnt sich nach der Ankunft in Brüssel eine chemische Verbindung aus erotisierenden Düften und hormonellen Sekretionsvorgängen an, kann es durch eine Kaskade uralter Verhaltensschemata sogar zur Entstehung von Möglichkeitsfeldern kommen, an die der Schalterbeamte in Mainz neun Monate vorher nicht gedacht hätte.

Die etymologische Analyse des Begriffes der "Verbindung" wird zeigen, dass eine Verbindung keine starre Mechanik ist, deren Gestänge sich in einem reglosen Nahesein erschöpft. Eine "Verbindung" ist vielmehr ein strukturierter Verband dynamischer Muster, in deren Spiegel der Geist sein Ebenbild erkennt. Der Geist entdeckt beim Betrachten der "Verbindung", dass er selbst der Liebesbote zwischen allem ist, was zur eigenen Existenz der Trennung bedarf.

Neue Erkenntnisse, die er mit alten verknüpft, führen diesen Geist über seine Horizonte hinaus; er reift mit der Komplexität seines Wissens. Der Takt seiner Sekunden sind die Aha´s, durch die er tropfenweise wacher wird. Während er sich so den Schlaf aus den Augen reibt, wird er im gleichen Zuge immer jünger, denn der reine Geist ist ein stetes Erwachen und der Augenblick seiner ständigen Geburt. Der reine Geist erinnert sich an nichts, weil er alles stets noch vor sich hat. Und wenn er sich nach einem allerletzten Tod doch je erinnern wird, dann so, dass seine Erinnerung als frische Gegenwart erscheint, in deren Schoß seine Geburt gerade eben erst beginnt.

3.1. "Ver" führt hinaus

"Ver" ist eine bemerkenswerte Vorsilbe. Sie ist mit dem Wesen der Menschen, die sie tagtäglich verwenden, verwoben und liefert Indizien dafür, dass die Bedeutung der Begriffe und die Grammatik der Sprache nicht nur sekundäre Erfindungen des menschlichen Geistes sind, sondern zu dessen leibhaftigem Gewebe gehören.

Über eine Kette sprachlicher Varianten, die den unterschiedlichen Mundarten der indoeuropäischen Völker entsprechen, lässt die Vorsilbe "ver" sich bis zu ihrer Urform "per" zurückverfolgen, die sich im Laufe der Jahrtausende als so robust erwiesen hat, dass sie uns in vielen Fremdwörtern noch heute unverformt entgegentritt. Zur Zeit der Feuersteine und der Bronzeschwerter meinte das "per" ein "Hinausführen-über". Man benutzte das Wort, wenn man von Hunger getrieben und der Spur einer Beute verführt in Gebiete vordrang, die man bis dahin noch niemals betreten hatte. Dort angekommen, war man perplex, dass die Welt größer ist, als man dachte.

Um einen Vorgeschmack vom Wesen der Ursilbe zu bekommen, sollen zunächst die Abkömmlinge des ursprünglichen Begriffs aufgezählt werden. So kann man unter dem Eindruck der bunten Verwandtschaft etwas von der Bedeutungstiefe des untersuchten Begriffsfeldes erahnen. Die Schar der Kinder und Kindeskinder hört sich folgendermaßen an: "ver-", "vor", "vorne", "fordern", "für", "Fürst", "fort", "früh", "Frühling", "fern", "Frau", "fremd", "First", "Frist", "Priester", "fromm", "fahren" und "Gefahr."

Man spürt, dass die Versammlung der hier Genannten so vielsagend ist, dass man von ihr ausgehend tausend und eine Nacht über das Menschsein nachdenken kann. Um uns in der Weite der Möglichkeiten nicht zu verlieren, packen wir am ursprünglichen Zipfel an und untersuchen als erstes die Sinnfacetten der Vorsilbe "ver":

Einige dieser Facetten sind mit Bedeutungen dreier gotischer Varianten des ursprünglichen "per" in Verbindung zu bringen. Gotisch gab es die Vorsilben "faír = heraus", "faúr = vor, vorbei" und "fra = weg". Wenn man genau hinhört, stellt man fest, dass es sich beim gemeinsamen Nenner dieser Drei im weitesten Sinne um Variationen des Themas der Verwandlung bzw. der Veränderung handelt. Da stellt sich etwas heraus. Da geht etwas vorbei. Da ist etwas weg, was es früher einmal gab. Auf alle Fälle ist jetzt irgend etwas anders, als es bisher war.

Bei den meisten Verben ist die Vorsilbe "ver" am besten zu verstehen, wenn man ihr ohne Umschweife die ursprüngliche Bedeutung der indoeuropäischen Wurzel zugrunde legt. Das ursprüngliche "Hinausführen-über" im Sinne einer Fortbewegung, eines Impulses, einer Verwandlung, die von einer engen Vergangenheit in eine zukünftige Weite führt und die sich über der vergangenen Enge in die Freiheit entlässt, ist in allen Varianten als eigentliches Motiv gut erkennbar. Je nachdem von welcher Perspektive aus man das "Hinausführen-über" aber betrachtet, bekommt es einen Beigeschmack, der an die unterschiedlichen gotischen Stränge erinnert.

In den Verben "veranstalten", "verkaufen", "verlosen", "vergöttern", "veröffentlichen" und "verkünden" steht das "heraus" im Vordergrund.

Beim "Vergessen", "Verarbeiten", "Verbrauchen", "Verdauen", "Verschwenden" und "Sichverkrümeln" denkt man an das "weg".

Beim "Verpassen", beim "Verpfuschen" und "Verheeren" sieht man, wie gute Gelegenheiten ungenutzt vorüberziehen, wie man am Ziel vorbei das Falsche trifft oder wie das schwedische Heer im dreißigjährigen Krieg plündernd das geplagte Deutschland durchquert.

3.2. Ohne Herausforderer bliebe man zurück

Mit "ver" verwandt ist "vor". Vom "vor" führt der Weg nach "vorn" und zum "fordern". Die Verwandtschaft von "ver" und "vor" wird verständlich, wenn man sich den Vorgang des "Hinausführens" vor Augen hält. Was über seinen Ursprung hinausführt, liegt vor.

"Fordern" (eigentlich: vordern) ist eine Steigerungsform des Wortes "vor". Es meint, dass jemand vom Geforderten verlangt, hervorzukommen. Der Herausgeforderte bewegt sich von hinten nach vorne. Er kommt voran und schließlich vorne an, wohin ihn der Herausforderer ja auch haben will.

Verbindungen fordern dazu heraus, voran zu gehen. Soll eine Verbindung entstehen, ist es erforderlich, dass man aus sich herauskommt. Ist jemand schüchtern, klagt er beim Therapeuten, dass er genau das nicht kann. Also bringt die Herausforderung des Kontaktes die Partner in Bewegung, indem sie beide über sich selbst hinausführt. Erst indem man Herausforderungen annimmt, kommt man wirklich voran. Begegnung ist Fortschritt.

3.3. Für, fort und fern

Wenn man sich auf eine Verbindung einlässt, muss man sich für den Kontakt entscheiden, und im Kontakt entscheidet man sich für die Person des anderen. Ohne ein "für" käme keine Verbindung zustande. Auch Gegner verbinden sich; weil sie sich dafür entschieden haben, sich dem anderen entgegenzustellen.

"Für" wird als Variante des "vor" gebraucht, welches selbst eine räumliche oder zeitliche Reihenfolge benennt. Wie das "für" ein "vor" im übertragenen Sinne ist, kann man an Ausdrücken wie 'Schritt für Schritt' oder 'Tag für Tag' erkennen.

Auch wer sich für etwas einsetzt, macht einen Schritt nach vorn. Er stellt sich vor die Sache, für die er sich einsetzt. Schreibt ein Freier einen Brief für seine Liebste, sieht er im Geiste schon, wie der Brief vor der Geliebten liegt und sie durch beschwörende Worte dazu bringt, ihren Vorsatz zur Keuschheit zu verwerfen und ihrerseits einen Schritt auf ihn zu, vorwärts in die Reichweite seiner Leidenschaft, zu tun.

Es liegt in der Logik der Sache, dass, wer in vielen Verbindungen jeweils Schritte nach vorne macht, dadurch vorwärtskommt und dass die Wörter "fort" und "fern" mit "Verbindung" in Verbindung stehen. Je mehr man sich verbindet, desto weiter kann die Ferne sein, in die man kommt. Nähe und Fortkommen in die Ferne sind keine Gegensätze. Sie erfordern und fördern sich gegenseitig. Wundert es da, dass "fördern" eine Komparativbildung zu "fort" ist und dadurch mit "ver" verwandt? Kontakt ist weiterer Verwandlung förderlich, so wie Verwandlung neue Kontakte fördert. Was sich gegenseitig in Bereitschaft zur Verwandlung berührt, wird vom Dasein gefördert. Das Da des Daseins ist dort, wo die Begegnung dynamischer Prozesse in vollem Gange ist.

3.4. Fürsten

Förderlich für Beförderungen sind gute Verbindungen zum Fürsten. "Fürst" ist niemand, wenn er als Fischer auf einer Hallig wohnt und dort bloß Krabben, Muscheln und Kabeljau begegnet. "Fürst" ist eine Steigerungsform des Wortes "für". Es meint den, für dessen Wohlergehen alles förderlich sein sollte. Für den "Fürsten" sollte das Volk am "fürsten" sein und wehe dem, der es nicht ist.

Ein Unterschied zwischen Napoleon und einem Irren, der sich für den Feldherrn hält, ist der, dass dem Irren niemand glaubt, dass er eine fürstliche Position innehat. Glaubte man dem Irren, würde man ihm nach Moskau folgen. Im Gegensatz zum Irren ist Napoleon eine historische Figur, weil er Menschen dazu bringen konnte, für seinen Anspruch, Fürst zu sein, zu sterben - was dem Irren eben nicht gelingt.

Denkbar ist aber auch ein Fürst, dem es nicht darum geht, anderer Leute Knechtschaft zu errichten. Denkbar ist ein Fürst, der selbst am fürsten ist und sich daher so zurückhält, dass er auf keinem Thron zu finden ist.

Die mystische Ebene der menschlichen Verbindungen weist, weil im "ver" der "Verbindung" immer das "für" (den anderen) mitschwingt, auf einen transzendenten Fürsten hin, dessen Anspruch niemals überheblich ist. Der transzendente Fürst überhebt sich über nichts, weil er schon in all dem ist, von dem er ein Für für sich fordert. Er ist das, was das ist, was es ist. Das Für, dass er fordert, gilt dem, von dem er es verlangt. Seine Erhabenheit tritt hinter die Welt, die er durch seine Existenz ins Dasein hebt. Alles ist da außer ihm, weil ein wahrer Fürst auf Applaus verzichtet.

Einen irdischen Fürsten "von Gottes Gnaden", kann es nicht geben, weil der Anspruch eines Menschen, Fürst über andere zu sein, das Gegenteil beweist. Wahre Fürstlichkeit unterscheidet nie zwischen Ziel und Quelle des Für. Fürstlich ist das Sein mit sich identisch. Identisch mit sich selbst ist das Sein der Fürst.

3.5. Frau

Die männliche Form des Wortes "Frau" ging im Wandel der Sprache verloren. Gotisch hieß der Herr noch "frauja" und das althochdeutsche "frouwe", dem der Begriff "Frau" entspringt, bezeichnete die Herrin, eine Frau also, bei der mehr der Rang als das Geschlecht im Vordergrund des Interesses stand. Die "Frau" heißt eigentlich die "Vorderste". Der Begriff ist über das "vorne" mit dem "ver" in der Verbindung verschwistert.

Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Vorrangigkeit ist die eine Sache, die anthropologische, nämlich die, die für das Wesen des Kontaktes von Bedeutung ist, ist eine andere. Besonders aus männlicher Sicht spielt die Frau für die Verbindungen, Berührungen und Kontakte, die er zur Welt unterhält, eine vorrangige Rolle. Die archaischste Symbolik ist diesbezüglich darin zu erkennen, dass die Frau den Mann generativ sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft verbindet. Aus der Vergangenheit wurde er von ihr geboren. Wenn er seine Gene in die Zukunft fortpflanzen will, geht es auch nicht ohne sie. Ob er in die Zukunft oder in die Vergangenheit blickt, immer sieht er eine Frau. Die Frau ist der inkarnierte Aspekt jenes Weltgesetzes, das bestimmt, dass die Phänomene nicht isoliert im Kosmos liegen, sondern sich der Kosmos zu einer Einheit verbindet, in der jedes sich ins andere verwandelt.

Der zwischenmenschliche Kontakt enthält Ebenen, die nur metaphysisch auszudeuten sind und es kommt nicht von ungefähr, dass die biblischen Propheten ihren Gott unmittelbar mit dem "Wort" in Verbindung brachten, dessen Macht die Dinge verändern kann.

3.6. Früh setzt die Kette der Verwandlungen ein

'Morgenstund hat Gold im Mund', so heißt es im Sprichwort. Das ist wahr. Wer morgens schon das Ruder übernimmt, kommt schneller voran als der, der sich gegen Mittag lustlos aus den Träumen quält, womöglich nach einer durchzechten Nacht voll kruder Pläne, die nur in seinem Kopfe sind und wie Blutsauger bei Tageslicht in Winkel kriechen. Über die Vorstellung des zeitlichen "voran" ist das Wort "früh" mit dem "ver" verwandt. Was früh beginnt, führt eher als das Späte über den Beginn hinaus. Die Verwandlung vager Wünsche - die im Gemenge unreflektierter Impulse zunächst kaum auszumachen sind - in Projekte und von dort aus in Wirklichkeiten kommt bei Frühaufstehern am besten voran.

Dass die Früchte früher Kontakte später nicht mehr in voller Reife zu ernten sind, wenn durch missliche Umstände die Verbindung von Kindern zu ihrem Umfeld unterbrochen wird, machen historisch überlieferte Wolfskinder ebenso wie die makaberen Experimente Friedrich II. deutlich. Letzterer hatte Säuglinge vollständig von ihren Eltern isoliert und untersagte dem Wachpersonal, mit den Kindern zu sprechen. Kinder, deren Verbindung zur Außenwelt derart unterbrochen wurde, um nämlich festzustellen, welche Sprache sie spontan wohl sprächen, sprachen gar nicht. Sie blieben geistig zurück, sofern sie an der Lieblosigkeit nicht vollends starben.

Kontakt zu anderen ist die Matrix, in die hinein sich jeder gesunde Geist entwickelt. Entzieht man Kindern diesen Boden, bevor sie reif sind, mit sich selbst zu sprechen, droht ihr Wachstum zu verkrüppeln.

Es kommt nicht von ungefähr, dass es die Frühkindheit ist, in der die wichtigsten Weichen fürs spätere Beziehungsleben gestellt werden. Das "Hinausführen-über" des "ver" ist mit dem "früh" so eng verwandt, dass der Verwandlungsimpuls des Lebens nur ungebrochen bleibt, wenn er von Anfang an den Weg in die Matrix eines Kontaktfeldes findet, in der er mit tatsächlicher Freude empfangen wird. Je früher Falsches den Kontakt beeinträchtigt, desto weniger Schwung bleibt für die nachfolgende Kette der Verwandlungen. Der von falschen Kontakten Verstörte verwandelt sich schlecht und bleibt emotional auf unreife Muster fixiert. Die objektive Zeit schreitet über ihn hinweg. Er selbst kommt nicht voran.

3.7. Die Suche nach dem Fremden treibt das Leben voran

Natürlich ist auch das Wort "fremd" ein Verwandter des "ver". "Ver" heißt "Hinausführen-über" und wohin sonst als in die Fremde könnte das führen? Kontakt ist die Begegnung mit Fremdem und dem, was das Fremde an Reiz und Angst durch sein unvertrautes Wesen mit sich bringt. Begegnung ist mehr Vereinigung bisheriger Unvereinbarkeit, als ein Ruhen in bestehender Gemeinsamkeit. Was sich kennt, braucht sich nicht mehr zu verbinden. Was längst verbunden wurde, begegnet sich nicht mehr. Kontakt ist ein Prozess, der sich für Neues interessiert und dessen Intensität im Laufe der Zeit oft abnimmt, es sei denn, dass sie sich woanders neu entzündet. Für das Gleiche ist im Wesen des Kontakts das Ende der Begegnung von jeher vorgesehen. Auch wenn man diesen Umstand fürchten mag, er sorgt dafür, dass Leben weitergeht.

3.8. Die Angst vor dem Ende hält das Leben zurück

Da Kontakt und Verbindung den Keim ihres Endes in sich tragen und der Keim umso mehr wächst, je näher die Verbindung dem Scheitelpunkt des vertrauten Zusammenseins kommt, liegt es in der Logik der Sprache, dass auch das Wort "Frist" als ein Nachkomme des indoeuropäischen Präfixes "ver" nachzuweisen ist.

Die Frist ist ein gesetzter Zeitpunkt, der stets bevorsteht und bis zu dem das Leben abläuft. Im Wort selbst haben sich die beiden Stämme "ver" im Sinne des "vor" und "sta = stehen" zu einem neuen Begriff verbunden. Die "Frist" ist das "(Be-)vor-stehende". Die Angst vor Vereinigung ist somit schon Angst vor der Trennung, die der Vereinigung inneliegt und deren Bevorstehen jeder, der begegnet, ahnt. Nur wer Verlust ertragen kann, wird daher Verbindungen eingehen. Bindungsscheu und Verlustangst sind zwei Seiten einer Medaille. Auf beiden Seiten lauert Tod. Wenn man nicht von der Bindung in die Freiheit wechselt, stirbt man drinnen, im umgekehrten Falle draußen.

3.9. Bis wohin reicht der Höhenflug?

Der "First" als Bezeichnung für die Oberkante eines Daches setzt sich aus denselben Bestandteilen wie das Wort "Frist" zusammen. Statt vorne ist der Abschluss oben, statt um einen Zeitpunkt handelt es sich um eine Begrenzung im Raum. Man kann darüber spekulieren, was sich die Sprache dabei denkt, dieses Wort für eine Höhenbegrenzung mit dem ersten Bestandteil des Wortes "Verbindung" in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Vielleicht meint sie damit, dass kein Kontakt unbegrenzte dynamische Perspektiven in sich trägt, so wie jeder Kontakt auch zeitlich endet. Vielleicht meint sie, dass jede Verbindung, auf die sich zwei Menschen einlassen, sie zwar hinausführt über ihre bisherigen Grenzen, dass der Schritt aber nur bis zu einer neuen Grenze führt.

Ein Indiz dafür, dass diese These etwas für sich hat, liefert uns das Schicksal romantisch Verliebter, das alle Paare nach einer Gnadenfrist ereilt. Das Gefühl, endlich jene Verbindung gefunden zu haben, die Glückseligkeit auf ewig verspricht, weicht allzu schnell der Erkenntnis, dass sich auch das Verliebtsein nur kurz über dem First der alltäglichen Sorgen halten kann. Selbst der Freudensprung, den man in die Beziehung zum Geliebten tut, endet auf dem Boden der Realität. Und nur, wenn man die Tragik des Rückfalls in Liebe besteht, ist die Realität nach dem Sprung größer.

3.10. Priester

Sowohl "Priester" als auch "Frömmigkeit" haben etwas mit Religion zu tun. Etymologisch gehen beide auf "ver" zurück. Trotzdem ist die Gemeinsamkeit der Begriffe begrenzt. Die meisten frommen Leute sind keine Priester und viele Priester sind nicht fromm. "Frommen" wurde früher als Verb gebraucht. Es meinte "fördern, nützlich sein, helfen". Heute gibt es das Wort "fromm" nur noch im religiösen Sinne; zur Bezeichnung derer, die Gottes Zwecke fraglos fördern. Fromm ist, wer trotz Dürftigkeit nicht neidet, sondern das wahrhaft Reiche am Reichen fördern will.

Betrachtet man das englische Wort "former = früher", erkennt man, dass im "fromm" die Bedeutung einer zeitlichen Dimension mitschwingt. Altenglisch hieß "fruma" "der Anfang". Wenn Gott will, dass es sich ins Licht führen lässt, zögert das fromme Lamm nicht erst, sondern macht, wie sein Name es ankündigt, lammfromm den Anfang. Der Fromme zögert nicht, bis er seinen Vorteil berechnet hat. Er macht beim ersten Ruf der Wahrheit getrost den ersten Schritt. Der Fromme vertraut der Wahrheit blind, weil sein blindes Vertrauen bereits die höchste Weitsicht ist.

Während der Fromme immer gottgefällig ist, sind es Priester nur manchmal. Das Wort "Priester" ist vom griechischen "presbyteros = der Ältere" abgeleitet. Die Sinnverwandtschaft des "presbyteros" mit dem Präfix "ver" ist zu verstehen, wenn man "den Ältesten" als den erkennt, der Dank seiner Jahre vorangekommen ist. Im Licht einer Weltvorstellung, die alles Geschehen als Weg zu Gott versteht, sind die Ältesten nun mal vorneweg.

Das Wesen der Verbindung hat etwas mit Frömmigkeit zu tun. Gute Verbindungen und fruchtbare Kontakte schafft man, indem man nicht zu lange zögert, beim Anknüpfen den ersten Schritt zu tun. Außerdem muss man es aus einer Haltung tun, die frommen, also fördern will. Ist man beim Verbinden fromm, kommt dem, der es jeweils ist, die Rolle eines Priesters zu. Echte Priesterschaft ist ein konkretes Tun, das jeder dann erfüllt, sobald er sich verbindet, bereit, den Wert des Andersseins tatsächlich zu bejahen. Sie ist weder Privileg noch Ehrenamt. Wer missioniert ist damit schon kein Priester mehr, weil er den Wert des Andersseins durch die Mission verneint.

3.11. Die Fahrt nach England und zurück

Leicht zu erahnen ist die Verwandtschaft des deutschen Verbes "fahren" mit dem indoeuropäischen Urwort "per = hinausführen-über, übersetzen, hinüberführen". Eine Fahrt führt hinaus und fort in die Ferne.

"Übersetzen" kommt in zwei Varianten vor, je nachdem ob man es auf der ersten oder dritten Silbe betont. Zunächst fährt man nach Dünkirchen und setzt von dort nach Dover über. In Dover angekommen, denkt man sich einen deutschen Satz aus und übersetzt ihn ins Englische, zum Beispiel: 'From us germans could you slaves of monarchy learn what is real demokraty, politiliness and english grammar!' Dies teilt man der verdutzten Bevölkerung des Inselstaates mit und setzt sich dann nach Dünkirchen ab, um sich dem Unmut der humorlosen Gesellen zu entziehen.

Im Griechischen gab es das Verb "peran", das man mit "durchdringen" übersetzen kann. Das lateinische "per = durch", ein klassischer Verwandter des "peran", begegnet uns noch heute in einer Reihe von Fremdwörtern wieder:

Percutan (durch die Haut) dringt die Sonde des Kardiologen ins Gefäßsystem. Perfide ist der Kardiologe, wenn seine Untersuchung nicht den diagnostischen Notwendigkeiten dient, sondern der Auslastung seiner apparativen Investition. Trüge der durch die Auslastung traktierte Patient einen Degen, drohte dem Kardiologen eine Vergeltungsperforation, die die Zukunftsperspektive der Geräteamortisierung stören könnte.

"Peran" benennt einen Aspekt des Fahrens. Das Übersetzen-von-hier-nach-da, lässt sich mit dem alltäglichen Gebrauch des Verbes "fahren" nur beschreiben, wenn materiell Konkretes, also zum Beispiel die Leiber von Reisenden mit der Fähre vom Festland zur Insel übergesetzt werden. Was geistige Prozesse und die psychosoziale Dynamik der Seele betrifft, kommt man beim Verständnis des "Hinaus-führens-über" weiter, wenn man es als ein "Übersetzen" und "Durchdringen = peran" erkennt. Indem man im Geist dieses mit jenem verbindet und neue Verknüpfungen ausprobiert, übersetzt man die Wirklichkeit in die Sprache der Welt und nennt diese Sprache "Wahrheit". Wer denkt, dolmetscht (ungarisch: tolmács = Vermittler). Denken ist die Vermittlung zwischen Dingen und ihrem Betrachter, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen allem und nichts.

Beim Knüpfen von Kontakten, führt die Verbindung, die dadurch entsteht, hinaus in den anderen und hinein in die Welt. Indem man sich im Kontakt miteinander verbindet, lässt man es zu, dass sich zwei Existenzen durchdringen. Ein Teil des eigenen Daseins überlappt sich mit dem Dasein der anderen. Ein anderer Teil reicht bis in die Verästelungen der materiellen Gegenwart. In der Gemeinsamkeit sind die anderen für den einzelnen sowohl Matrix als auch Korsett. Die eigentliche Individualität im üblichen Sinne ist nur ein Teilaspekt des realen Individuums - wenn man im eigenen Interesse auch postulieren wird, dass er für das Individuum selbst wichtig ist.

"Gefahr" bei der Begegnung liegt darin, dass jeder Kontakt Verbindlichkeit fordert. Wer sich im Kontakt mit anderen verbindet, schafft eine Plattform gemeinsamen Daseins und verliert jenen Teil seiner Freiheit, mit dem er sich ohne Absprache schuldlos abwenden könnte. Wer im Kontakt steht, kann nicht mehr anders, als dem anderen förderlich zu sein, es sei denn zu dem Preis, dass er sich selbst damit schadet. Wer wirklich begegnet, kann keinen Ehrgeiz mehr haben, mehr als er selbst und mehr als der andere zu sein. Die Illusion der Ichs, willkürlich autonom zu sein, wird im Kontakt zugunsten einer differenzierteren Selbstwahrnehmung enttäuscht. Das verbundene Ich erkennt sich als Raum, zu dem sich Autonomie und Zerstreuung zur Realität verweben. In der Begegnung verlässt das Ich ohne zu sterben die Welt.

3.12. Banden

Nachdem wir uns mit den etymologischen Sinnverwandtschaften zwischen der Vorsilbe "ver" und den Strukturen der Verbindung beschäftigt haben, kommen wir jetzt zum Wort "Bindung".

Um das Wesen der Bindung zu verstehen, stellen wir zunächst eine unverständliche These auf: Eine Bande ist keine Bande und beide haben weniger miteinander zu tun, als man beim Gleichklang der Wörter vermuten könnte. Gemeint ist hier einerseits die Familienbande, andererseits die Verbrecherbande.

Das erste Wort "Bande" bezeichnet den schicksalhaften Zusammenhalt innerhalb der Familie. Es spricht davon, dass die Mitglieder der Familie eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die im Interesse einer gemeinsamen Sache, des Überlebens ihrer Gene nämlich, miteinander verbunden sind. Dieses Wort "Bande" stammt vom Verb "binden".

Unter dem zweiten Wort "Bande" versteht man heute zwar eine sogenannte "kriminelle Vereinigung" und meint, das Wort bezeichne den Zusammenschluss einer Gruppe von Verbrechern zu einem Interessenverbund. Wenn man aber vorschnell zu verstehen glaubt, was das Wort durch seine Klangverwandtschaft mit dem Verb "binden" suggeriert, versteht man den Sinn der Bindung gerade eben nicht. Obwohl sich, besonders im Falle von Erbstreitigkeiten oder einer Mesalliance, die Familienbande als recht brüchig erweisen kann und man meinen könnte, man habe es mit einer Bande ganz anderer Art zu tun, benennen beide Wörter verschiedene Dinge.

Weder dieses Wort "Bande" noch das mit ihm verwandte "Bandit" gehen auf das indoeuropäische "bhendh = binden" zurück. Es sind späte Früchte des Wortes "bha = sprechen". Gemeint ist aber keinesfalls, dass Banditen besonders viel sprächen. Gerade unter den Mitgliedern einer Banditenbande wird Verschwiegenheit geradezu mit Todesdrohung eingefordert. Als Bindeglied zwischen dem indoeuropäischen "bha" und der Bande der Banditen findet sich nicht die Bindung, sondern das Wort "Bann". Ein Bann ist ein Bannspruch. Er wird gesprochen, um die Trennung des Banditen von der Gemeinschaft zu bezeugen. Während das Sprechen verbindet, wird der Bandit durch den Bannspruch von der Verbindung ausgeschlossen. Er wird in die Hinterzimmer klammer Heimlichkeiten, ins Straflager oder auf eine Insel verbannt.

Nicht alle jedoch, die durch Bannsprüche ausgesondert werden, sind aber tatsächlich bloße Banditen. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen dem echten Banditen und dem als Bandit verunglimpften Rebellen liegt darin, dass es innerhalb der echten Verbrecherbande keine echt gemeinsame Sache gibt, in deren Interesse man sich verbände.

Das Ziel, "gemeinsam" eine Postkutsche auszurauben, ist kein wirklich gemeinsames Ziel, denn jeder Bandit hat nur das einsame Ziel, sich selbst zu bereichern. Die Banditen tun nichts gemeinsam, sie brauchen sich bloß als Komplizen, um ihre Ziele einsam zu erreichen. So ist es ein erstaunlicher Hinweis auf die subtile Weisheit der Sprache, dass im Wort "Bandit" das indoeuropäischen Verb "bha = sprechen" im Passiv spricht. Indem der Bandit nicht selbst spricht und sich durch das Sprechen verbindet, sondern indem über seine egozentrischen Ziele das Bannwort gesprochen und er damit aus der Verbindung ausgeschlossen wird, wird in gleichen Zuge ausgesagt, dass eine wahre Verbindung nur durch ein gemeinsames Interesse entstehen kann.

Das gemeinsame Interesse, das über die Egoismen des individuellen Narzissmus hinausreicht, ist ein gemeinsamer Nenner aller echten Kontakte. Belegt wird diese Behauptung durch die Wörter "Bund", "Bündnis" und "bündeln", die sinnhafterweise nicht mit "bha", sondern mit "bhendh" verbunden sind. Wer eine Verbindung eingeht, stellt damit nicht nur eine Brücke her, über die er mit dem anderen einen für beide Seiten einträglichen Tauschhandel betreibt - zum Beispiel Heilung gegen Honorar - sondern die Brücke entsteht, damit sich über sie hinweg die Kräfte zu einer gemeinsamen Sache verbünden. Echte Verbindung verbündet, in dem man das fremde Interesse als ein eigenes erkennt.

Kontakte, Bündnisse und Beziehungen, die auf dem Boden einer echten Verbindung beruhen, werden von sich aus einfach und klar. Kompliziert sind dagegen Vereinigungen in Komplizenschaft. Bei der Komplizenschaft sind die Eigeninteressen in komplizierter Weise ineinander verschachtelt (complectere = ineinander verwickeln), sodass es bloß so aussieht, als bestehe eine Gemeinsamkeit. In Wirklichkeit besteht ein Knäuel getrennter Stränge, deren Verstrickung dazu dient, Kontakt zu vermeiden, ohne ganz verlorenzugehen. Paare, die sich jahrelang in einen Wust gegenseitiger Vorwürfe verheddern, sind solche Komplizen ohne echten Kontakt. Der andere ist ihnen kein Partner, dem man zu begegnen wagt, sondern der Komplize und die Beute, um die man sich balgt, in einer Person.