Der Kontakt
Um seelisches Leiden zu verstehen, muß man die Abwehrmanöver untersuchen durch die der Klient den Kontakt zur Umwelt auf Sparflamme hält; und welchen Forderungen seines Gewissens er damit ausweichen will. Man erforscht, wo und wie der Blickwinkel des Klienten aus seiner Mitte heraus verschoben ist. Man sucht danach, welchen Teil seiner Biographie er auszublenden versucht. Man findet heraus, durch wessen Augen er die Welt betrachtet und hinter wem er sich versteckt.
Der Klient kommt meist mit Symptomen zur Behandlung, deren Bezug zu seinen Beziehungen oft erst in zweiter Linie erkennbar wird. Der eine hat Angstattacken wenn er Lift fährt, der andere, wenn er das Haus verlassen soll. Den dritten packt es beim Anblick einer Spinne und der vierte bekommt weiche Knie, wenn er sich vorstellt, er solle eine Rede halten. Alle, die sich da fürchten, meinen zunächst, die peinliche Angst habe nicht mehr mit ihren Mitmenschen zu tun, als dass man die rätselhafte Schwäche vor deren Hohn und Mitleid verbergen sollte. Welche konkreten Beziehungsaspekte es sind, die sich, verschoben auf einen symbolträchtigen Angstauslöser, in der einzelnen Phobie als pathogen manifestieren, ist dem Opfer des Leidens nicht bekannt. Erst durch eine gezielte Analyse, durch die die Spur der Leidensentstehung vom bildhaften Inhalt des angstbesetzten Themas bis zur Struktur real bestehender Ich-und-Du-Kontakte zurückverfolgt wird, erkennen Patient und Therapeut, welche Beziehungsproblematik durch die Phobie in gleichem Maße verdeckt wie verraten wird.
Bevor ihn die Faszination dieser Beziehungsanalyse in den Bann der Erkenntnis zieht, würde der Angstpatient allerdings am liebsten hören, dass sich als die Ursache des Leidens eine Infektion mit dem gräßlichen Bazillus Panicus ergeben habe, dem durch eine Einmaldosis eines sündhaft teuren Antibiotikums endgültig der garaus gemacht werden könne. Zugegeben, wenn es so wäre, wäre es vielleicht gar nicht so schlecht.
Andere Patienten kommen mit Depressionen. Je unerklärlicher die Ursache ihrer Depressivität zunächst erscheint, desto depressiver fühlen sie sich und desto hilfloser erwarten sie vom Arzt, dass er ihnen das probate Mittel gibt, das die ungebetene Schwermut so sicher vertreibt wie das erste Tageslicht einen Vampir mit blutverschmierten Lippen. Auch der rein Depressive versichert oft, dass mit seinen Beziehungen alles in Ordnung ist oder es doch wäre, hätte er durch die Depression nicht diese fürchterlichen Antriebsmängel, die ihn der Umwelt seinen Beitrag immer mehr schuldig werden ließen; worunter er selbst qua drängendem Schuldgefühl am allermeisten leide.
Wenn man unbeirrt nachfragt, erfährt man jedoch rasch, dass die schlechte Stimmung mit Unstimmigkeiten im Beziehungsgefüge des Patienten korreliert. Man erfährt, dass sich die Grübeleien, mit denen er sich um den Schlaf bringt, hauptsächlich um Erwartungen drehen, die er von anderen erfüllt haben will, ohne sie offen zu äußern. Man erfährt von der Wut, die er nicht zu artikulieren wagt und von Schuldgefühlen, die ihn ständig brdrängen, ohne dass er tatsächliche Schuld wirklich wahrhaben will. Stets hat Depression mit Rollen zu tun, die man im Zusammenspiel mit anderen spielt, ohne dass die Rolle zu dem, der hinter ihrer Maske steckt, tatsächlich passt.
Wieder andere leiden unter Zwängen. Zehn mal, nein zwanzig mal müssen sie zur Tür zurück, um nachzusehen, ob sie auch verschlossen ist. Alles muss eine genaue Ordnung haben und wenn ein Bleistift einmal anders liegt, als exakt 90 Grad zur Tischkante, drängt sich die diffuse Ahnung einer katastrophalen Drohung auf. Ob ein Zwanghafter das wohl auch noch täte, würde er von einem Sturm im Südpazifik über Bord gespült und hätte er sich auf einer einsamen Insel als einzig Überlebender eine Hütte aus Bambus gebaut, durch deren offene Tür, jeder der will, schamlos zu ihm eindringen könnte? Natürlich täte er es! Aber nur etwa zehn Jahre lang, bis es sich endgültig herausgestellt hätte, dass die Insel bis auf ein paar Leguane und Winkerkrabben tatsächlich unbewohnt ist und am Strand auch keine Kannibalen landen. Dann ginge er morgens weg, um Kokosnüsse zu ernten und ließe die Türe einfach offen stehen.
Wieder andere sehen ein Messer und phantasieren sofort, wie sie sich oder andere in einem Blutrausch erstechen. Irgend ein Hass, der sich auf konkrete Personen bezieht, ist ihnen dabei nicht bewußt, was sie das widrige Symptom nur als um so unverständlicher erleben lässt. Und auch hier dauert es bei gezielter Behandlung manchmal gar nicht so lang, bis der Betreffende erkennt, welche Wut sich hinter einer jahrzehntelang eingeübten Verträglichkeit verbirgt. Der Zwanghafte sichert sich durch tausend kleine Grenzen, weil ihm eine klare Grenze fehlt. Seine Ordnungswut verhindert, dass jemand durch den territorialen Todesstreifen angeblicher Notwendigkeit, der alle Spontaneität im Anhub schon erschöpft, zu ihm vordringt und sich seiner so bemächtigt. Und durch strenge Rituale verhindert er im selben Zuge, dass ihn von Innen her Impulse übermannen, die durch das Gestrüpp des Stacheldrahtes hindurch nach Begegnung drängen, die der Zwanghafte im gleichen Maße fürchtet, wie er sie ersehnt, die er aber nicht zu riskieren wagt, weil er darin peinlich entblößt werden könnte. So erweist sich Zwanghaftigkeit oft als Versuch, eine Vergewaltigung des Ichs von innen oder außen zu verhindern.
Diese grob skizzierten Beispiele ließen sich leicht um weitere bereichern. Und sie ließen sich in erstaunliche Kaskaden innerseelischer Sinnzusammenhänge vertiefen. Wesentlich ist bei allen jedoch eins: dass die Symptome als nonverbale Kommunikation von Menschen zu verstehen sind, die wesentliche Aspekte der Haltung, die sie der Welt und ihren Bewohnern gegenüber einnehmen, so gründlich verstecken, dass selbst ihnen es ohne weiteres nicht mehr gelingt, sie zu finden; weshalb auch die Kommunikation des Ichs mit seinem Selbst gestört ist.
Das Unbewußte besteht aus zwei Teilen: Aus Motiven, die das eigene Leben mitbestimmen, obwohl man sie noch nicht wahrgenommen hat und aus jenen anderen, deren Mitbestimmung man nicht wahrhaben, sondern verhindern will, indem man sie zu ignorieren versucht. Wie das Unbewußte so besteht auch das Verhalten des Menschen, durch das er der Welt begegnet, aus zwei Teilen: Dem offiziellen, an dessen alleinige Existenz er glaubt und dem abgespaltenen, dessen Integration in ein bewußtes Selbstbild bisher noch nicht vollzogen ist. Doch erst die ganze Haltung, die man den Mitmenschen gegenüber einnimmt, bestimmt die tatsächliche Form des Kontaktes, durch den man zu ihnen in Verbindung tritt. Will der Therapeut seinem Patienten daher bei der Beseitigung seiner Symptome helfen, dann muß er hartnäckig im Muster seiner aktuellen Kontakte danach suchen, wo sich der Patient pathogen verhält ohne es selbst zu bemerken. Beim Patienten mit der Angst vor engen Räumen fragt er, welche Beziehung ihn heute beengt, ohne dass er das Weite darin zu suchen wagt. Bei dem, der Angst hat, das schützende Haus zu verlassen, sucht er nach der Art, wie er sich in seinen scheinbar heilen Beziehungen ausgesetzt und verloren fühlt, ohne sich seinen Wunsch nach Halt und Schutz tatsächlich zu erfüllen. Den Spinnenphobiker fragt er, in wessen Netz er hilflos baumelt - oder, ob er sich selbst für so häßlich hält, dass er fürchten muß, andere würden kreischend vor ihm flüchten, wenn er wie Rumpelstilzchen einmal offenbarte, mit welcher Berechnung auch er in seiner Einsamkeit tödliche Fäden spinnt. Und von dem, der im Lampenfieber am Rande der Ohnmacht schwitzt, will er wissen, in welchen Beziehungen er nicht zu dem steht, was er wirklich ist. Denn die Angst des Redners ist es doch, dass alle Welt erkennt, dass er dort oben nicht hält, was er vorgibt, zu sein. Er hat Angst und würde sich am liebsten zurück in die Enge eines namenlosen Platzes in Reihe Siebzehn flüchten, bevor alles lachend erkennt, dass sich da ein Tölpel bloß anmaßt, sich aus der Anonymität heraus zu erheben, um eine Weile in aller Aufmerksamkeit zu stehen.
Natürlich sind die "Fälle" nicht so stereotyp und die Lösung des Problems nicht so einfach, als dass es genügen würde, allen Phobikern eine Schlüsselfrage zu stellen und schon fiele ihnen die Verblendung wie Schuppen von den Augen und die Fesseln der Symptome von der Seele ab. Jedes Netzwerk der Abwehr ist individuell gestrickt und muss individuell bis in Details hinein untersucht werden, bevor der Blick sich durch das morsch gewordene Netzwerk hindurch wirklich neue Wege bricht.
"Abwehr" ist ein psychoanalytischer Begriff. Er meint all jene Manöver des Geistes, mit deren Hilfe er sich gegen Einsichten zur Wehr setzt, die ihm als ungenießbar erscheinen, die sich ihm andererseits aber aufdrängen, weil sie der objektiven Logik seiner Gestaltbildung entsprechen. Da die Bausteine des Geistes aus den Wahrheiten bestehen, die sich in ihm zu einer bewussten Macht verknüpfen, handelt es sich bei Abwehrmanövern letztlich immer um den Widerstand gegen irgendeine dieser Wahrheiten. Die "Neurose" ist daher die unverstandene Ablehnung der eigenen Biographie, die der Urknall der Wahrheit als eine der ungezählten Möglichkeiten ins Dasein sprengt. Je mehr man vom eigenen Schicksal nicht wahrhaben will, desto mehr lehnt man sich selbst damit ab. Jede Neurose ist deshalb auch mit einem Selbstwertproblem verquickt.
Obwohl die Abwehrmuster individuell gestrickt sind, sind es Variationen unterscheidbarer Themen. So wie beim Stricken das Muster dadurch entsteht, dass der Rhythmus von Nadel und Wollschnur einer mathematischen Symmetrie folgt, so sind die Muster der psychologischen Abwehr letztlich im Fundus geistiger Gesetze verankert, denen jeder einzelne Geist, ob er will oder nicht, verpflichtet bleibt. Die gesunde Psyche findet daher ihr Heil niemals im Chaos ihrer blinden Willkür und seelische Gesundheit ist letztlich die Demut vor der Einheit einer Wahrheit, deren Ausmaß man nicht einmal erahnen kann.
Wenn es also bei der Therapie so entscheidend darum geht, die versteckten Muster der Abwehr zu erhellen und zu erkennen, aus welcher Angst heraus sich diese Abwehr dagegen sträubt, dass das Wahre ungestört im Bewusstsein seinen Platz einnimmt, dann muss man sich zunächst darüber im Klaren sein, wo diese Muster hauptsächlich wirken. Und jetzt müsste es wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn hier nach aller Penetranz, mit der auf die zentrale Bedeutung des Kontaktes hingewiesen wurde, nicht behauptet würde, dieser Ort sei der nämliche Kontakt. In den spezifischen Charakteristika der Beziehungsmuster, die der Patient zu seinen Mitmenschen unterhält, wird es am besten erkennbar, gegen welche Einsichten er sich am meisten sträubt. Und diese Einsicht in die Wünsche, Impulse und Bedürfnisse, die im konkreten Kontakt nicht wahr sein dürfen, ist es auch, was dem Patienten zur Heilung am meisten fehlt.
Wären menschliche Beziehungsmuster gänzlich relativ, dann gäbe es kein sinnvolles Maß, an dem pathogene Abweichungen überhaupt erkannt werden könnten. Könnten pathogene Abweichungen nicht erkannt werden, dann wären Psychotherapien bloße Taumeleien durch das Reich der Möglichkeiten. Gute Therapeuten taumeln jedoch nicht. Gute Therapeuten versuchen sich stets an dem zu orientieren, was als menschlich richtig zu erkennen ist, zumindest soweit "das Richtige" überhaupt als ungefähre Richtung erkannt werden kann. Eine gute Therapie ist nie ganz "nondirektiv", weil sie zumindest immanent die Direktive vertritt, dass Therapeuten ihre Klienten bei der Entscheidungsfindung nicht beeinflussen sollten. Leistet ein Therapeut, der sich für nondirektiv hält, gute Arbeit, dann liegt das daran, dass er richtungweisende Direktiven unbewusst anbietet.
Die bewusste Vermittlung von Direktiven ist der unbewussten jedoch aus zwei Gründen vorzuziehen. Erstens reichen diese Direktiven bis weit in den Bereich ethischer Fragen hinein und zum zweiten ist die offene Vermittlung aus vielerlei Gründen therapeutisch effektiver. Da es sich bei den Direktiven um ethische Haltungen dreht und Ethik weder wissenschaftlich objektiv ermittelt werden kann noch dem privaten Gutdünken des Therapeuten überlassen werden sollte, ist es wichtig, die eigene Ethik stets der dialogischen Überprüfung zugänglich zu machen. Nur allzuschnell kann sich die scheinbar edelste "Ethik" nämlich verirren.
Zum zweiten ist die offene Konfrontation des Patienten mit den ethischen Maximen seines Therapeuten therapeutisch effektiver als ein bewusst geplantes oder ein unbewusst zugelassenes Hinübersickern individueller Wertvorstellungen. Die zweite Variante ist im Grunde nichts als Manipulation, auch wenn man der Manipulation zugestehen mag, dass sie heilsame Wirkungen entfalten kann; zumindest wenn die Lebensweisheit des Therapeuten soweit entwickelt ist, dass der Klient sich bei ihrer Berücksichtigung in weniger leidvolle Erfahrungen verstrickt, als er es mit seinen bisherigen Grundmustern tat.
Manipulationen rufen aber viel leichter als Konfrontationen das durchaus gesunde Misstrauen des Patienten auf den Plan. Besonders, wenn er vordergründig sehr gelehrig ist, spürt er im Hintergrund, dass hinter den verdeckten Karten etwas vorgeht, das sich seiner Mitwisserschaft entzieht. Ein derart geschürtes Misstrauen macht es dem Therapeuten, selbst wenn er es noch so gut meint, nicht eben leichter. Der offene Umgang mit ethischen Thesen führt außerdem dazu, dieses wesentliche Thema des Menschseins bewusst - und damit stärker - zu fokussieren. Die stärkere Hinwendung eines Menschen zu ethischen Fragen lässt die Bedeutung seiner pathogenen Konflikte bereits zu einem Teil verblassen, was das Leiden daran direkt vermindert und was die Lösbarkeit der Konflikte erleichtert. Schon von daher lässt sich eine Therapie, die sich aus falschverstandener Modernität nicht bewusst auf ethische Fragen einlässt, ein wichtiges therapeutisches Agens entgehen.
Und noch einen Vorteil bietet die "offenbarte Ethik": Sie spricht sehr reife Ich-funktionen an. Da diese Funktionen durch die direkte Ansprache aufgewertet werden, stärkt die Ansprache im Patienten eine geistige Struktur, in deren Sicherheit er mit weniger Angst bis zu den gewalttätigen Ebenen archetypischer Konflikte regredieren kann. Und nur, wenn der Patient bis zur archaischen Angst und zum archaischen Hass seiner Seele vordringt, wird die ganze Chance der Therapie genutzt.
Um tiefgreifende Neuorientierungen in der Therapie zu erreichen, reicht es oft nicht, die Analyse des Kontaktverhaltens auf die gegenwärtigen Beziehungen zu beschränken. Stereotype Muster, die heutige Beziehungen prägen, wurden meist bereits in der Frühkindheit gebahnt. Zum einen erreichen sie die Gegenwart durch Lernprozesse. Das heißt: Muster wurden in der Vergangenheit anhand damaliger Beziehungen eingeübt und im Laufe der Biographie ebenso automatisiert wie der individuelle Fahrstil nach zwanzig Jahren Führerschein. Die Automatisierung des Verhaltens geschieht durch Übernahme zugeschliffener Verhaltensschablonen in das Regelgedächtnis, das unabhängig vom Episodengedächtnis funktioniert. Deshalb wird im allgemeinen gründlich vergessen, während welcher biographischer Episoden eine Verhaltensregel in den automatisierten Bestand integriert wurde und wann sie somit aus dem üblichen Blickfeld des Bewusstseins verschwand.
Da es im Interesse eines reibungslos funktionierenden Sozialverhaltens liegt, dass auf die "Software" der Verhaltensmuster des täglichen Gebrauchs ohne große Zeitverzögerung zugegriffen werden kann, wurden die entsprechenden Verhaltensmuster so weit es geht vom "mnestischen Datenballast" der Episoden befreit. Weil Verhaltensmuster primär nicht dazu da sind, Kristallisationskeime der Selbstbetrachtung zu sein, sondern dafür, ein Verhalten zu verursachen, werden die Muster in der Regel nicht reflektiert, sondern ausagiert. Erst wenn alte Muster in neuen Situationen an der Lösung von Problemen scheitern, wird gemeinerhand das Bewusstsein darauf aufmerksam, dass es einen Anlass zur bewussten Einmischung ins Althergebrachte gibt.
Zum zweiten lässt sich die Existenz frühkindlicher Muster im Erwachsenenleben nicht nur durch die Kybernetik von Lernprozessen erklären, sondern auch durch das Postulat, dass es eine Seele gibt, die als der virtuelle Leib des Geistes gestaltdynamischen Gesetzen folgt. Dann kann man nämlich sehen, dass der Aufbau geistiger Strukturen kein Spiel der blanken Willkür ist, sondern Regeln unterliegt, die erkennbar und zum allgemeinen Nutzen zu respektieren sind. Im Gefüge jeder geistigen Struktur, die sich als Ich empfinden kann, sind daher Muster festzustellen, deren überdurchschnittlich häufiges Zusammentreffen einer Erklärung durch bloßen Zufall widerspricht.
So wird verständlich, dass Störungen aus der Kindheit, die später nicht ausgeglichen werden, im Leben ihr Unwesen treiben und der jeweils aktuelle Funktionsmodus der Psyche versucht, den Defekt durch Wiederherstellung jener psychosozialen Verhältnisse zu reparieren, in denen die "pathologische" Struktur durch Transformation in eine differenzierte Form hätte ausreifen sollen. Die Reparatur kommt aber nicht recht von der Stelle, da kindliche Bedürfnisse, die mit unangemessenem Verhalten in Verbindung stehen, verleugnet werden. Erstens, weil der Patient aus erlernten, biographischen Gründen schon spezielle Hemmungen hat, derlei Impulse offen einzugestehen. Und zum zweiten, da das kulturelle Klima Kindlichkeit ambivalent gegenübersteht; also mit einer abwertenden Komponente. So bleibt im Leistungsdruck des Erwachsenseins wenig Platz, bewusst bis dahin zu regredieren, wo sich kindliche Bedürfnisse aus ihren Schlupflöchern herauswagen, ohne sich - als ginge es zum Maskenball - durch Psychopathologie aufwendig zu verkleiden.
Die gegenwärtige Psychopathologie ist durch juveniles, quasi stehengebliebenes Rollenverhalten unterlagert. Im therapeutischen Prozess wird oft erst dann genügend Schubkraft für nachhaltige Veränderungen freigesetzt, wenn der Patient die biographische Kohärenz zwischen den Lebensbedingungen seiner Kindheit, seinem aktuellen Rollenverhalten und den Symptomen, die ihn zur Therapie führen, erkennt. Das Erkennen der "biographischen Kohärenz" ist per se schon heilsam, weil es dem Patienten ermöglicht, sich als eine geordnete und damit sinnhafte Binnenstruktur zu begreifen. Durch das Begreifen einer sinnhaften persönlichen Identität wird die Frustrationstoleranz für seelisches Leiden erhöht. Der Fokus der Aufmerksamkeit wird von den Wechselfällen äußerlicher Erfolge weg und zum Binnenraum der persönlichen Existenz hingewendet. Da das Selbstbewusstsein tatsächlich in dem Maße wächst, wie man sich seiner selbst bewusst wird, führt die Aufmerksamkeitsverschiebung nach innen zu einer verbesserten Durchsetzungsfähigkeit nach außen und zu einer verbesserten sozialen Integration. Die Abhängigkeit von der Bestätigung durch andere lässt in gleichem Maße nach. Die Lösung vieler Konflikte erscheint außerdem weniger drängend, sobald man sie als verstehbare Komponenten eines Gesamtkontextes erkennt. Mit der Erkenntnis, dass das eigene Leben als überschaubare Binnenstruktur durch Sinnbezüge zusammengehalten wird, assoziiert sich die Zuversicht, dass auch ein überpersoneller, sinnvoller Kontext besteht, in dem die unlösbaren Widersprüche der Person transpersonal gelöst sind. Parallel zu all dem gilt, dass Kohärentes nicht als wertlos empfunden werden kann. Die Erkenntnis der Kohärenz führt daher Selbstwertprobleme bereits nahe an ihre Lösung heran.
Das Verständnis der spezifischen Impulse des Patienten, die er zur Verwirklichung eines zufriedenen Lebens gewähren lassen müsste und die durch pathogene Kompromissbildungen blockiert sind, wird stark verbessert, wenn man in der frühkindlichen Biographie die Ursprünge der "primären pathogenen Beziehung" findet. Natürlich ist es nicht so, dass eine Beziehung als pathogen identifiziert werden kann, während alle anderen unproblematisch sind. Es ist aber oft so, dass es eine pathogene Beziehung gibt, die bei der Aufrechterhaltung einer Persönlichkeitsstörung eine Schlüsselrolle spielt und deren Modulation am effektivsten eine Kaskade von Veränderungen auch in anderen Beziehungen ermöglicht. Diese primäre pathogene Beziehung ist meist die, die vom Patienten selbst am wenigsten problematisiert wird.
Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen hält, dass menschliche Beziehungen immer ambivalent sind, weil jeder der beiden Beziehungspartner dem menschlichen Wesen gemäß zwischen egozentrischen und sozialen Impulsen, zwischen Autonomie und Zugehörigkeit lavieren muss. Die scheinbar ungestörte Harmonie (z.B. der Mutter-Sohn- oder der Vater-Tochter-Beziehung) ist deshalb daraufhin verdächtig, dass diskordante Impulse aus Loyalitätsgründen und Trennungsängsten heraus nicht ausgelebt und - schlimmer noch - dass sie gar nicht erst wahrgenommen werden.
Untersucht man die betreffenden Kontakte wie sie in der Realität stattfinden oder wie sie als Objektbeziehungsintrojekte verinnerlicht sind, auf ihre pathogene Potenz, dann ist es hilfreich, sich als Maßstab dessen, wie gesunde Beziehungen in der Regel sind, die Kriterien des "reinen Kontaktes" ins Gedächtnis zu rufen. Wenn man sich dabei vor Rechthaberei hütet und den ethischen Rigorismus durch eine Dosis Humor erträglich macht, darf man als therapeutische Taktik ebenso getrost wie beharrlich das Sein mit dem postulierten Soll vergleichen. Selbst wenn die bisher herausgearbeiteten Kriterien des "reinen Kontaktes" nämlich weit weniger rein sein sollten, als der Autor sich das denkt, sind sie der seelischen Gesundheit meist zuträglicher als das, was man als Therapeut in der täglichen Praxis an blinder Verstrickung im Beziehungskampf zu Gesicht und Gehör bekommt.
Ein besonders destruktives Abwehrmuster ist der systematischen Verstoß gegen die Ebenbürtigkeit. Entweder der Patient wertet andere, sich selbst oder alle zusammen ab. Damit leugnet er die prinzipielle Gleichrangigkeit menschlicher Wesen, was zu schweren Störungen des Zusammenlebens und des Selbstwertgefühles führt. Nicht immer sind die Abwertungen jedoch ausgesprochen. Manchmal werden sie mehr oder weniger subtil in bestehenden Kontakten ausagiert und schweigend hingenommen. Die Spur der Abwertung unter das Niveau der Ebenbürtigkeit lässt sich dabei regelmäßig bis in die Beziehungen der Frühkindheit verfolgen. Die Abwertungen sind in der primären pathogen Beziehung sowohl am besten versteckt als auch besonders virulent.
Abwertungen werden in unterschiedlicher Schärfe sichtbar. Manchmal sind sie grob: der Patient beschimpft andere als Dummköpfe, Dreckschweine, Pantoffelhelden oder sich selbst als Versager, Feigling, Säufer. Meist sind Abwertungen aber weniger krass und fallen erst beim aufmerksamen Zuhören auf. Der Patient wählt dann beim Sprechen Formulierungen, denen das Abfällige so beiläufig anhaftet wie Gilb und Staub schmutzigen Gardinen. Da die Dinger schon seit Ewigkeiten unbeachtet im Fensterrahmen hängen, bemerkt man kaum noch, dass sie es sind, die Raum in ein Kabuff verwandeln.
Hier empfiehlt es sich, frontal zu konfrontieren und dem Patienten im Zweifelsfalle lieber zehn mal ins Wort zu fallen als ihn beim Ausagieren seines zerstörerischen Musters mit fragwürdiger Toleranz gewähren zu lassen. Man soll aber nicht meinen, dass sich Abwertungen in pathogenen Beziehungen nur als hinreichend leicht erkennbare Grobheiten einnisten. Schlimmer noch als die Abwertung, die sich ihrer Feindseligkeit nicht allzu sehr schämt und leicht zu enttarnen ist, sind jene, die mit so viel Zucker übertüncht sind, dass man das Gift erst richtig merkt, wenn man Jahre später daran krepiert - als seien die Vanillekipfel der Kindheit mit Arsen verseucht gewesen. Am anderen Ende des bunten Spektrums der Entwertung geht es hier um die "überfürsorgliche" Bestechung des Kindes, die es dazu verführt, den Genuss der Eigenständigkeit so leichtfertig gegen Mutters eifrige Waschfrauendienste einzutauschen, wie Hans im Glück seinen Klumpen Gold über die Kette seiner haltlosen Schwachheiten gegen einen wertlosen Stein.
Ist beim Patienten durch die Verstrickung in eine derartige Korruption der bewusste Anspruch auf jeden Ärger durch Honig verkleistert, sollte man als Therapeut mit klarem Wasser und einer Wurzelbürste die Klebrigkeit der wohlgemeinten Segenstaten im Weltbild des Patienten attackieren. Die Wurzelbürste darf dabei allerdings nicht allzu grob sein. Denn unter den verzuckerten Schichten uralten Honigs liegt oft eine sehr empfindliche Haut, die sich nach frischer Luft zwar heftig sehnt, die den Hagel, der ihre Nacktheit treffen könnte, jedoch im gleichen Maße fürchtet.
Auch Verstöße gegen das Kriterium der Gegenseitigkeit gibt es in verschiedenen Spielarten. Zum einen achte man darauf, ob Erziehungspersonen den Kontakt zum Kind so gestaltet hatten, als ob im Eltern-Kind-Kontakt nur eine Richtung der Einflussnahme vorgesehen ist. Dann finden sich zum Beispiel die Eltern eines Einzelkindes - gebildet, pflichtbewußt und einig darin, dass bei der Erziehung dieses Kindes alles optimal verlaufen soll. Sie riskieren, von einem unerreichbaren Sockel elterlicher Ethik herab, unzweifelhaft alles immer bereits besser zu wissen, als das Kind es überhaupt erst herausfinden könnte. Zwischen Eltern und Kind bleibt eine durch Wohlwollen maskierte Distanz und ein Gefälle, das das Autonomiestreben des Kindes durch den Tropfen des steten Vorsprungs untergräbt - während das Kind zu allem Überfluss auch noch von überallher zu hören bekommt, dass es sich besonders glücklich schätzen könne, mit solch großartigen Eltern gesegnet zu sein. Was solchen Eltern-Kind-Beziehungen aber tatsächlich fehlt, ist, dass der anarchische Impuls des Kindes seinen Weg bis zum Sockel der vernünftigen Tugend findet und diese durch Pfützenwasser und Gartendreck aus ihrer Perfektion erlöst.
Gegen die Gegenseitigkeit wird ebenfalls verstoßen, wo in Familien eine Person das Aschenputtel spielt, von dem sich die anderen bedienen lassen. Da gibt es die duldsame Mutter, vom mürrischen Vater - der sich wie ein unzufriedener ältester Sohn gebärdet - schon längst hoffnungslos entfremdet, die die Kinder wie eine Henne um sich schart und den Trupp ein Leben lang durchs lieblose Familienleben leitet. Sie erfüllt alle häuslichen Pflichten ohne je offen den Ausgleich der mißglückten Balance zu verlangen. Ist der Vater nach langer Arbeitslosigkeit und kurzer Invalidenrente an Lungenkrebs verstorben, denkt die Trauergemeinde am offenen Grabe zwar insgeheim 'Uff, jetzt ist der Alte endlich weg' - doch die Mutter wäscht und bügelt ihrem 24-jährigen Sohn wie "Ehe-dem" die Wäsche; damit der Junge, falls er mal ein anständiges Mädel trifft, auch ordentlich dasteht! Wetten, dass dieser Sohn nicht zur Gründung einer eigenen Familie fähig werden wird, bevor er nicht aufhört, die Dienstbarkeit der Mutter als Trostpflaster auf seine Lebensangst zu pappen? Wetten, dass diese Mutter ihre Opferbereitschaft nicht als Abwehr gegen eigene Lebensangst erkennen will und dass sie heftig dazu neigt, es eher hinzunehmen, dass das erkennbare Geben in der Beziehung zu ihrem Sohn in einer Einbahnstraße verläuft, als von einem wirklich erwachsenen Sohn verlassen dazustehen?
Man braucht kein neues Beispiel zu bemühen, um hier auch den Verstoß gegen die Kriterien der "Begrenzung" der "Solidarität" und der "Transzendenz" zu illustrieren. Grenzenlos war bereits die Asymmetrie mit der Vater und Kinder im scheinbar solidarischen Übereifer ihres Aschenputtels passiv blieben. Allerdings war dessen Übereifer nur scheinbar solidarisch, weil er sich nicht auf die Wirklichkeit des Gegenübers bezog, sondern Aschenputtel als ein Abwehrmanöver diente, um der Angst zu entkommen, es werde verlorengehen, wenn es sich nicht durch seine Dienstbarkeit unentbehrlich macht.
So führt die uneingestandene Angst vor dem Verlorengehen zu einem Leben voll tragischer Verluste. Grenzenlos bleibt die asymmetrische Beziehungsstruktur sogar über alle Wechselfälle des Lebens und Sterbens bestehen, ohne dass selbst der dramatische Eingriff des Todes genug Erschütterung brächte, um das familiäre Restgefüge in neue Dimensionen zu transzendieren. Erst wenn der Sohn an der Leberzirrhose stirbt, bricht sich die Transzendenz gewaltsam ihre Bahn. Als hätte sie die Geduld mit der Feigheit der Dulder verloren.
Es gehört zum Wesen des "reinen Kontaktes", dass jede Form der Beziehung zeitlich begrenzt ist. Wenn irgendwelche Ängste den Wandel verhindern, stirbt die Beziehung bei lebendigem Leibe ab. Entweder, dass sie alle wünschenswerte Intensität verliert, oder dass die einzige Intensität, die man noch ausmachen kann, jene ist, mit der die pathogen gewordene Beziehung seelisches Leiden verursacht. Ob nun die Henne zuerst da war oder das Ei, ist nicht zu sagen. Genauso offen ist die Frage, ob die pathologische Kontaktstruktur das Rennen macht oder die mangelnde Einsicht in ihren fatalen Prozess. Tatsache ist jedenfalls, dass Beziehungen um so pathogener sind, je weniger ihr Verfehlen des gesunden Maßes erkannt wird. Deshalb kommt es innerhalb der pathogenen Beziehung immer zu einem Erlahmen der Exploration, da sie es ja wäre, die das marode Gleichgewicht der faulen Kompromisse endlich zum Kippen brächte. Zentrale Aufgabe der therapeutischen Arbeit ist es deshalb, die Erkundung kommunikativer Strukturen zu ermutigen, was nach hinreichender Integration neuer Aspekte ins Weltbild des Patienten dazu führt, dass die Lawine der Veränderung ohne weiteres Zutun des Therapeuten ins Rollen kommt.
zu viel ist bereits über die Kriterien des reinen Kontaktes gesagt worden, als dass uns der erneute Hinweis auf ihre Bedeutung für die Binnenstruktur der therapeutischen Beziehung nicht wie ein Gemeinplatz in den Ohren klänge. Ja, beim Versuch, es explizit zu tun, zuckt die Tastatur sogar voll Überdruss zurück und die wenigen Buchstaben, die es trotzdem bis zum Bildschirm schaffen, rutschen dort wie Spritzwasser an einem trüben Februarmorgen von der Windschutzscheibe ab. Die Vielfalt der Kriterien erscheint jetzt, am Ende der Betrachtung, auch eher wie ein Haufen Hinweisschilder, die aus kritischer Distanz besehen zwar recht gut die Richtung weisen, denen es aber selbst noch an der Einheit fehlt, in der sich ihre Wege kreuzen. Besser als Bekanntes zum wiederholten Male durchzukauen, um dem Spautz den allerletzten Nähstoff zu entziehen, ist deshalb die Betonung anderer Begriffe - und zwar solcher, die die Beziehung zwischen Therapeut und Klient mit frischen Licht beleuchten.
Um die besondere Beziehung zwischen diesen beiden nämlich zu verstehen, muss man ausdrücklich zwischen den Begriffen "Beziehung" und "Begegnung" unterscheiden und sich die Bedeutung der Präsenz ein wenig zu Gemüte führen.
Irgendwie stehen alle Elemente im Kosmos miteinander in Beziehung - und ganz besonders tun es die Menschen durch das Netzwerk ihrer sozialen und persönlichen Bezüge. Über feine Verästelungen dieser Bezüge sind wirksame Verbindungen zwischen Xsosa Xuaheli aus Nkomeneni und Shao Ping Meh, dem Dorfschulzen des Weilers Wuh in Yünnan zu postulieren, obwohl sich beide niemals begegnet sind.
Die Begegnung ist eine Sonderform der Beziehung. Sie ist Beziehung in der dritten Potenz. Bei der Begegnung bildet sich eine gemeinsame Gegenwart, in der sich der Kontakt als ein Akt bewusster Präsenz vollzieht. In der Begegnung gibt es ein wirkliches Jetzt und ein Hier, von dem aus man in die magische Tiefe jenseits des schlichten Raumes blickt. Beziehungen erster Potenz bestehen zwischen leblosen Dingen oder den physikalischen Aspekten lebender Körper. Diese Beziehungen sind ebenso starr wie unveränderlich. Gemeinerhand nennt man sie Naturgesetze. So stehen Xsosa und Shao Ping durch die Gravitationskraft ihrer Körpermasse in höchstdiskreter Weise in Verbindung.
Beziehungen der zweiten Potenz prägen das grundlegende Netzwerk der sozialen Bezüge. Im Gewebe konkreter menschlicher Verstrickungen ist der soziale Bezug und die persönliche Begegnung miteinander verwoben. Statt von erster, zweiter und dritter Potenz der Verbindung zu sprechen, könnte man die erste also als "physikalisch", die zweite als "sozial" und die dritte als "bewusst-dialogisch" bezeichnen. Zwischen Xsosa und Shao Ping besteht - solange sie nie persönlich aufeinandertreffen - immerhin eine Beziehung der zweiten Potenz. Deren Wirkung bleibt üblicherweise gering, sie kann aber offensichtlich werden, wenn Xsosa mit seinem Werben um die schöne Xsashu nämlich scheitert, er seinen Schmerz durch ein ergreifendes Liebeslied sublimiert, welches über das panafrikanische Folklorefestival in Harare weltweite Bekanntheit erreicht und das Shao Ping im fernen Wuh dermaßen anrührt, dass er aus der dörflichen Enge erwacht, die Technische Akademie in Harbin besucht und eine preiswerte Solarzelle erfindet. Wenige Jahrzehnte später dient eine solche Solarzelle dem ergrauten Xsosa dann, seine Limonade zu kühlen.
Sind Bezüge zwischen Menschen, deren konkrete Kenntnis voneinander bloß statistischer Art ist, bereits plausibel - gönnen wir Xsosa nämlich seine Xsashu, dann erfährt Shao Ping von beiden nur, dass es etwa eine Million Namibier gibt - dann wird ein komplexes Netzwerk wirksamer Verbindungen zwischen jenen, die sich sogar persönlich treffen, offensichtlich. Das konkrete Miteinander im Alltag ist dabei eine Mischung aus Beziehungen der zweiten und dritten Potenz, also aus Beziehungen nach Art von Xsosa und Shao Ping einerseits und konkreten Begegnungen im bewussten Dialog andererseits.
Selbst Menschen, die sich persönlich kennen, sind in der Regel jedoch mehr aufeinander bezogen, als dass sie sich tatsächlich begegnen. Auch wenn die Bänder dabei kürzer und dicker als jene zwischen Xsosa und Shao Ping sind, bleibt ihre Beziehung im wesentlichen sozial. Sie leben in einer diffusen Gegenwart, durch die das meist unbewusste Bündel ihrer Abhängigkeiten zieht und die sich nur selten im konkreten Hier-und-Jetzt der bewussten Begegnung zweier Menschen fokussiert.
Spricht man der Einfachheit halber der naturgesetzlichen Beziehung zwischen zwei Menschen - also der Beziehung erster Potenz - eine gewisse Wirksamkeit zu, dann kann man ohne Risiko, sich grob zu irren, davon ausgehen, dass die Wirksamkeit der zweiten Potenz - also der subdialogischen Interaktion zwischen lebenden Personen, intensiver ist. Und am intensivsten ist die Wirksamkeit der konkreten Begegnung, in der sich das Dasein zur Präsenz verdichtet. Treten in persönlichen Verbindungen - in Familien, Partnerschaften, Freundschaften und Kollegien - Aspekte der Beziehung zweiter Potenz durch eingeschliffene Rollenspiele gegenüber der konkreten Begegnung also meist in den Vordergrund, so ist es zwischen Therapeut und Klient - wenn es mit rechten Dingen zugeht! - umgekehrt. Die übliche soziale Beziehung wird von einem Rollenspiel beherrscht, das im abgeschwächten Dämmerlicht einer ins Geschäftige zerstreuten Bewusstheit persönliche Interessen ins Räderwerk von Symbiosen verwebt. Dort steht der Geist nicht unbedingt zu seiner Wahrheit.
Die therapeutische Beziehung wirkt im Gegensatz dazu als eine konkrete Begegnung. Sie ist eine absichtlich und systematisch herbeigeführte Beziehung der dritten Potenz und in der Regel verlöre sie rasch an gebündelter Wirksamkeit, wenn Beziehungsaspekte der zweiten Potenz darin wichtig würden. Zu Recht wird daher von den führenden Therapieschulen darauf hingewiesen, dass Therapeut und Klient jenseits der Therapiestunden keine Beziehung unterhalten sollen, die die untergründige Verwobenheit in den gemeinsamen gesellschaftlichen Kontext übersteigt.
Die Effektivität der Therapie korreliert mit der Intensität der Begegnung. Therapeutische Beziehungstechniken, mit deren Hilfe verschiedene Therapieschulen das Zusammengehörigkeitsbedürfnis ihrer Apologeten füttern und mit deren Hilfe man sich von den anderen abgrenzt, sind nur soweit von Belang, wie sie echte Begegnung bahnen oder auch verhindern. Was letztlich wirkt ist nicht die Technik selbst, sondern was trotz der Technik an Begegnung zustandekommt. Wesentlich für den Therapeuten ist dabei die ständig neue Herausforderung, den Klienten als ein Gegenüber anzusehen, dessen vorgegebene Ebenbürtigkeit die wache Präsenz der ganzen Person des Therapeuten verlangt. Da nämlich die Hypothese, durch Introspektion und Selbsterkenntnis könne man die Qualität der Individuation verbessern, zum therapeutischen Berufsbild gehört und da sich der Therapeut zur professionellen Ausübung dieser Disziplinen entschieden hat, glaubt er leicht, er sei seinem Klienten soweit voraus, dass er sich ihm nicht vollständig stellen müsse. Zu selten ist er sich des narzisstischen Konkurrenzdenkens bewusst, das dem Drang zur Selbstfindung gerne als Schatten folgt und oft bemerkt er seinen unterschwelligen Ehrgeiz erst, wenn er erkennt, dass er mal wieder die subtile Macht der Neurose und die Aufgabe, ihr heilsam zu begegnen, unterschätzt hat.
Zum anderen wird die Bereitschaft zur ebenbürtigen Begegnung herausgefordert, weil die Kunden des Therapeuten vordergründig Menschen sind, die beim Menschsein besonders große Schwierigkeiten haben. So sind Therapeuten in Gefahr, eigene Ungereimtheiten zu übersehen, da sie mit "psychisch Kranken" zu tun haben, deren verkorkste Daseinspraxis alles andere scheinbar in den Schatten stellt. Die einzige Überlegenheit, die ein Therapeut jedoch erwerben kann, liegt paradoxerweise darin, zu erkennen, dass beim Kontakt zwischen zwei Menschen keine definierten Überlegenheiten zählen. Tatsache ist nämlich, dass sich in jeder Neurose nicht nur das Kleine verrät, sondern auch etwas Großes steckenbleibt.
Die Psychotherapie ist keine operationale Behandlung, wie etwa eine Chemotherapie bei eitriger Bronchitis oder eine Operation bei entzündetem Blinddarm. Der Therapeut operiert nicht mit dem Werkzeug psychologischer Kenntnisse in der Anatomie eines defekten psychischen Apparats. Wäre es so, dann könnte er beim Operieren, wie der Chirurg über dem offenen Bauch, an etwas ganz anderes denken und sich mit dem Anästhesisten über dessen Urlaubsreise nach Ägypten und die charmante Touristin Bettina im Hotel "Nasser" unterhalten, ohne dass bei genügender Routine das Resultat der Behandlung dadurch Schaden nähme.
Übung macht zwar bei beiden den Meister. Je mehr Übung der Chirurg aber hat, desto abwesender kann er bei der Arbeit sein. Beim Psychotherapeuten ist es umgekehrt. Seine Übung zeigt sich darin, wie gut es ihm gelingt, dem Klienten gegenüber präsent zu sein und sich selbst als individuelle Person in die therapeutische Begegnung miteinzubringen.
Geht der Therapeut davon aus, dass es sich bei einem konkreten Klienten um einen Routinefall handelt, wird die Wirksamkeit der Therapie bereits beeinträchtigt, selbst wenn der Therapeut die psychopathologischen Strukturen des Klienten theoretisch gut erfasst. Das führt dazu, dass ein erfahrener Therapeut, der dank seiner Erfahrung ein pathologisches Muster quasi nebenbei erkennt, vielleicht weniger bewirken kann als ein Anfänger, der sich zum Verständnis des Problems dem Klienten erst mit aller Sorgfalt zuwenden muss. Es ist plausibel, dass die sorgfältige Arbeit des Anfängers nicht nur dem Klienten besser hilft, sondern auch die Person des Therapeuten im Sinne des Gesetzes der Gegenseitigkeit mehr tangiert.
Natürlich wirkt ein Therapeut auch dann noch therapeutisch, wenn er sich persönlich aus der Therapie entfernt, wenn er seine kommunikativen Behandlungsmuster als braves Handwerk jedoch ausführt und als routinierter Rollenspieler weiter da ist. Die Wirksamkeit der Therapie wird so allerdings vermindert.
Ist sich ein Therapeut nicht bewusst, dass er sich bei der "vollen Therapie" als ganze Person auf eine existentielle Begegnung einlässt und wehrt er durch falsch verstandene professionelle Distanz die Wirkung des Klienten auf seine eigene Person ab, dann macht er keine ganze Therapie, sondern er frönt nützlicher Begegnungsprostitution. Wie eine Prostituierte versucht er den Kontakt bereits während seines Ablaufes teilweise wieder ungeschehen zu machen. Die positive Wirkung wird dabei in beide Richtungen stark beeinträchtigt. Verlässt der Kunde seine Hure, dann spürt er, dass er keine echte Liebe fand. Verlässt ein Klient den Therapeuten, dann tut es beiden gut, wenn es dem Klienten durch das Erlebnis der gesammelten Präsenz des Therapeuten in diesem Punkte besser geht.
Je schwerer die psychischen Funktionen eines Klienten gestört sind, desto wichtiger ist es, das Gesetz der Gegenseitigkeit und die Bedingungen echter persönlicher Präsenz zu erfüllen. Einem "Phobiker" mit sonst gut integrierter Gesamtpersönlichkeit kann man zwar passabel helfen, wenn man ihn ohne allzugroßes persönliches Engagement "therapiert". Die Heilung schwer gestörter Menschen kann aber nur gelingen, wenn der Patient erleben kann, dass er die reale Person des Therapeuten erreicht. Tatsächlich routiniert ist ein Therapeut, wenn er keine Therapie zur Routine verkommen lässt.