Der Kontakt
Kinder kommen nicht neurotisch zur Welt. Darin sind sich die etablierten Lehrmeinungen einig. Für die einen ist die Neurose ein erlerntes Bündel suboptimaler Verhaltensmuster, für die anderen das Resultat verdrängter Konflikte, deren verfeindete Parteien sich kräftezehrend und verbohrt in Schützengräben gegenüberliegen wie einst die Deutschen und Franzosen vor Verdun. Und für die dritten ist die Neurose schlichtweg das Ergebnis fehlerhafter Denkprozesse: Ein kräftiger Schuss Logik werde dem Opfer der kognitiven Schlamperei schon auf die Sprünge helfen!
Obwohl sich die Vertreter der verschiedenen Anschauungen zuweilen bekämpfen, haben alle Recht. Ganz besonders die Eklektiker. Sie versteifen sich auf keine einseitige Perspektive, sondern begreifen die unterschiedlichen Denkmodelle als konkordante Teilaspekte einer Wirklichkeit, als Teilaspekte also, die im ursprünglichen Sinne der "Konkordanz" - nämlich des "einen-Herzens-Seins" - ihr Blut zwar aus verschiedenen Richtungen beziehen, es aber im Herzen einer gemeinsamen Wirklichkeit zusammentragen. Infolgedessen streiten sich die Eklektiker nicht wie die drei blinden Inder, ob ein Elefant ein biegsames Rohr, ein großes Blatt oder eine Säule ist; bloß weil der eine den Rüssel, der andere das Ohr und der dritte ein Bein ertastet und weil alle drei behaupten, ihr Ausschnitt sei schon die ganze Wirklichkeit.
Zu wenig beachtet wird jedoch die Tatsache, dass das Gros der fürs Leben entscheidenden Verhaltensmuster sowohl im als auch für den zwischenmenschlichen Kontakt erlernt wird, dass die ungelösten innerseelischen Konflikte zwischen widersprüchlichen Impulsen zu unvereinbaren Kontaktmustern festgefahren sind und dass die fehlerhaften Denkprozesse sich hauptsächlich über Beziehungsrealitäten irren. Alle grundsätzlichen Theorien über die Ursachen der Psychopathologie kreuzen sich somit in einem gemeinsamen Dreh- und Angelpunkt: dem zwischenmenschlichen Kontakt.
Dieser Ich-und-Du-Kontakt ist nicht nur das psychosoziale Grundmuster der menschlichen Existenz, sondern dadurch jene Schleuse, durch die die Psychopathologie von einem Menschen auf den anderen übertragen wird. Biologisch formuliert kann es daher heißen: Der wichtigste Erreger der Psychopathologie ist der pathologische Kontakt.
Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Ich-und-Du-Kontaktes, der die Grundlage aller komplexeren psychosozialen Existenzformen darstellt, werden von den klassischen therapeutischen Schulen anscheinend als bekannt vorausgesetzt. Das ist in Anbetracht der Bedeutung des Themas für die Konzeption psychotherapeutischer Theorien verwunderlich. Die Scheu der Psychologen, sich mit dem Thema gebührend zu befassen, wird jedoch verständlich, wenn man beim Versuch, allgemeine Regeln für den "richtigen" Kontakt zwischen zwei Menschen zu formulieren, feststellt, dass man dabei den halbwegs gesicherten Boden der Wissenschaft verlassen muss, um mit einer ethischen Position Stellung zu beziehen. Und da sich die Psychologie darum bemüht, Wissenschaft zu sein, meidet sie vermutlich jedes Terrain, auf dem das Subjekt ohne bekennende Subjektivität nichts mehr aussagen kann.
Jede Psychologie, die der Psyche gerecht werden will und sie nicht in das Prokrustesbett objektiver Kriterien zu zwingen versucht, wird jedoch von selbst politisch. Da das Wesentliche des menschlichen Daseins darin besteht, als individuelles Ich konflikthaft einem Umfeld zu begegnen und in der Begegnung für seine subjektiven Werte einzustehen, lässt sich die menschliche Psyche "objektiv" nur betrachten, wenn man die subjektiven Aspekte ausklammert. Die Psychologie als objektive Wissenschaft ist daher nur ein ehrenwerter Seitenzweig der eigentlichen Wissenschaft der Menschenpsyche, gewissermaßen eine Art Tierpsychologie des Homo Sapiens, die zugunsten "gesicherten" Wissens auf die Weisheit, die der Mensch im Bemühen um Selbsterkenntnis erringen könnte, von vornherein verzichtet. Ist man sich bewusst, welchen Verzicht man durch die Verdinglichung der Psyche leistet, ist das völlig legitim.
Der "ganze" Psychologe frönt dagegen nicht nur seiner Wissenschaft, weil sie eine nützliche Beschäftigung ist und seine Neugier kitzelt, sondern er geht für ihre Resultate notfalls auf die Barrikaden. Er begreift die Psychologie nicht bloß als Werkzeug, mit dessen Hilfe man die Funktionen der menschlichen Psyche untersucht, sondern er weiß, dass man bei der wesentlichen Erkenntnis nur weiterkommt, wenn man das bis dahin Erkannte im eigenen Leben selbst umsetzt. Denn das Wesen des Menschen erschöpft sich nicht in seinen objektivierbaren Funktionen. Es wird erst menschlich durch seine grundsätzliche Fähigkeit zu subjektiver Bekenntnis und Entscheidung.
Der ganze Psychologe weiß, dass in seiner Disziplin Wissen nur heilsam wird, wenn es in sein Machen nahtlos übergeht. Der vollen Psychologie genügt es nicht, ein Modell des Menschen zu erklären, sondern im Versuch, den Menschen zu erklären, kämpft sie um ihn. Echtes Wissen ist wirkliche Lebendigkeit und nicht bloß vollgefüllter Speicher. Die volle Psychologie ist eine organische Philosophie der freien Tat. Sie ist ein bewusster Vollzug geistiger Evolution.
Infolgedessen ist der zwischenmenschliche Kontakt ein Feld, auf dem man nicht nur nach den Spuren überlebter Zivilisationen gräbt, sondern auf dem man eine eigene Kultur entwirft. Das Kapitel über die 'Struktur des reinen Kontaktes' war ein Versuch, an den Quadern für das Bauwerk mitzumeißeln.
Kinder, so kann man sagen, kommen nicht neurotisch zur Welt, sondern sie werden es, wenn es ihnen im Laufe des Lebens nicht gelingt, entgegen dem großen Angebot an pathogenen Beziehungsmustern in ihrer Umwelt ein gesundes Kontaktverhalten zu entwickeln. Das heißt allerdings nicht, dass Kinder mit einem fertigen Ich auf die Welt kämen, das die Kriterien des gesunden Kontaktverhaltens im hier definierten Sinn bereits vollständig verinnerlicht hätte und dessen elaborierte Neigung zum dialogischen Kontakt allein am Widerstand einer verständnislosen Umwelt zerbräche. So einfach sind die Erklärungsmuster nicht, die einen kritischen Betrachter befriedigen und selbst unverdorbene Eltern können ein Lied davon singen, dass der Nachwuchs zuweilen auch ohne Provokation mit harten Bandagen kämpft. Eine notwendige Mitgift der Entscheidungsfreiheit des Menschen ist es gar, dass selbst der, der die "allerbesten" Eltern hatte, im Laufe des Lebens vollständig straucheln kann, weil auch die beste Sozialisation keine Garantie gegen menschliche Irrtümer ist.
Richtig ist vielmehr, dass Kinder mit einer angeborenen Psyche zur Welt kommen, deren spontane Aktivität und Reagibilität trotz eines beträchtlichen gemeinsamen menschlichen Nenners von Kind zu Kind merkliche Unterschiede aufweist und die dem biologischen Faktum der Lebendigkeit einer hochkomplexen organischen Struktur entspricht. Als virtueller Binnenraum der Funktionskybernetik einer physiologischen prozessualen Einheit wird die Psyche von Gesetzmäßigkeiten reguliert, deren Tauglichkeit im Laufe der Äonen immer wieder auf Leben und Tod überprüft wurde.
Da die Überprüfung der regulativen Systeme geeignete Verknüpfungen bereits herausselektiert hat und rasche Verbesserungen nicht zu erwarten sind, hat der Organismus Mensch ein großes Interesse daran, dass die Schaltpläne und Feed-back-Schleifen psychischer Abläufe, das heißt der primären Affekte, Motive und Impulse gegen willkürliche Eingriffe geschützt sind. Und so ist es auch. Die präverbale Psyche, die dem einzelnen Individuum angeboren ist, ist gegen zielstrebige Eingriffe von außen weitgehend resistent. Sie bleibt daher meist lebenslang stabil. Sie ist, was dem menschlichen Erleben verlässliche Kontinuität verleiht. An ihr erkennt sich ein Mensch wieder, selbst wenn sich sein Ich heute in denselben Fragen ganz anders als früher entscheidet.
Im Gegensatz zur Psyche liegt das Ich nicht fertig in der Wiege, sondern differenziert sich erst im Laufe seiner Kommunikationsbiographie zu seiner erwachsenen Form heraus. Das Ich existiert aus der Matrix des materiellen Seins heraus und es ist gleichzeitig deren Bewusstseinsorgan. Seine Struktur entspricht somit der der Umwelt, aus der es entsteht. Zu beachten ist allerdings, dass es sich bei dieser Umwelt nicht nur um den Querschnitt der wenigen individuellen Lebensjahre handelt. Da das Ich einen genetischen Werdegang hat, der bis zu den Einzellern im Urmeer zurückreicht, sind die archaischen Strukturen seiner selbst in der Tiefe einer uralten Geschichte verankert.
Als Resultat der Interaktion zwischen der Spontanaktivität des vererbten Ichkeims im Schoße der kindlichen Psyche und einem kommunikativen Umfeld, das durch die vielfältigen egozentrischen Gravitationskräfte der bereits bestehenden Ich-Aktivitäten seiner Bewohner ständig aus dem phylogenetischen Gleichgewicht herausmoduliert wird, entsteht das reifende Ich, mit dem sich das Du über die Modalitäten des Zusammenlebens unterhalten kann. Das Ich entsteht nicht nur, weil es aus eigener Kraft wie ein virtuelles Organ aus einem psychisch-leiblichen Ursprung auskeimt, sondern auch weil sich das Kind in ein soziales Umfeld hineinentwickelt, das im wesentlichen als ein dynamisch vernetztes Gewebe anderer Ichs strukturiert ist. Das Ich entsteht, weil die kognitive Komponente der Psyche auf lauter Du's trifft, deren Kontaktangebote sie als ein Ich beantwortet, und weil sich die verschiedenen Du's stark voneinander unterscheiden. Das Ich ist ein Zwitter. Mit einem Bein steht es im Du.
Dass sich die verschiedenen Ichs stark voneinander unterscheiden, ist für die Rolle, die ein Ich im Lebensvollzug spielt, von großer Bedeutung. Im Gegensatz zur Psyche, deren Wesen trotz aller individuellen Varianz immer spezifisch menschlich ist und in der die grundsätzliche Gleichheit der Menschen begründet liegt, ist das Ich jene Abstraktion im Begriffsfeld des Geistes, mit der er die Unverwechselbarkeit der individuellen biographischen Identität als Pseudokonkretion benennt. Aus der Sicht der Psyche hat von zwei Männern jeder eine Frau. Aus der Sicht ihrer Ichs lebt der eine mit Margot, der andere aber mit Annegret.
Da das spezifisch Menschliche der Menschenpsyche darin liegt, dass jeder sein eigenes Ich hat, ist die prinzipielle Gleichheit der Menschen zuletzt in dem begründet, was sie kategorisch voneinander unterscheidet. Während sich die Psyche von Mir und Dir im unbenannten Menschsein ziemlich ähnelt, bin ich prinzipiell nicht Du. Das Ich ist also ein Zwitter. Zwar steht es mit einem Bein im Du, mit dem anderen steht es jedoch fernab davon. Aus diesem Grund geschieht jede Begegnung immer aus der Einsamkeit. Mehr noch: Ohne diese Einsamkeit wäre die Begegnung überhaupt nicht möglich.
Die Bedeutung der Unterschiedlichkeit der Individuen für die Prägnanz ihrer Ichs belegt ein Blick auf den Dorfanger. Dort grast in erstaunlicher Harmonie eine Herde Kühe und deren Kälber. Zwar spielt die Mutterkuh für das einzelne Kalb als Milchquelle eine besondere Rolle, es ist aber zu vermuten, dass das Kalb die zahlreichen Tanten, die ebenfalls auf der Wiese stehen, kaum je als verschiedene Du's voneinander unterscheiden wird. Das liegt nicht nur daran, dass Kälber zu desinteressiert an derlei Unterscheidungen sind, sondern es ist ebenso eine Folge des Umstandes, dass es bei den Tanten nicht viel auseinanderzuhalten gäbe. Die Tanten machen im Grunde alle das gleiche und sie legen keinen Wert auf die Akzentuierung persönlicher Merkmale. Außer Brennesseln und giftigen Kräutern, außer Distelgestrüpp und Bärenklau stopfen sie jedes verdaubare Grünzeug in sich hinein, das so ähnlich schmeckt wie Wiesengras. Dann käuen sie wieder, vertreiben, ohne rechten Glauben auf nachhaltigen Erfolg, mit ein paar Schlenkern des Schwanzes einen Schwarm schwarzer Fliegen von der Flanke und rufen "muh", so als ob sie niemandem damit etwas Besonderes sagen wollten. Und wenn es keine Holsteiner Kühe wären, die man wenigstens noch an der Form ihrer Flecken erkennen kann, hätte selbst ein emsiger Biologe, der bei der Feldforschung für sein Abschlussdiplom scharf hinsieht, seine liebe Mühe, die homogen muhenden Individuen voneinander zu unterscheiden. Wenn Tante Emma wenigstens eine charakteristische Vorliebe für Knäuelgras und Rasenschmiele hätte und Tante Berta den Ausdauernden Lolch und die Gemeine Quecke der Tauben Trespe vorzöge, hätte das Kälbchen doch wenigstens einen Anhaltspunkt, woran es die Tanten als zwei verschiedene Du's erkennen könnte. Aber so...!
Die Menschengesellschaft ist eindeutig diversifizierter als die der Wiederkäuer. Jeder gesunde Mensch hat ein präzise bestimmbares Ich. Dieses Ich wird zwar der Einfachheit halber einseitig einer imaginär vom Kontext abgelösten Körper-und-Seele-Einheit zugeschrieben und als deren Vormund betrachtet, die Erkennungsmale jedoch, die das eine Ich objektivierbar vom anderen unterscheiden, sind in Wirklichkeit transpersoneller Art. Was ein Ich für alle anderen - neben der beharrlichen Koinzidenz seines gemeinsamen Auftretens mit einem Körper und dessen einzigartiger Genetik - nachweislich unverwechselbar macht, sind keine seelischen Eigenschaften, die es allein für sich hätte und auch nicht die Unmittelbarkeit diverser Empfindungen, an deren Treffpunkt sich das Ich als in die Welt hinauslauschende Einheit befindet, sondern das eindeutig bestimmbare Eingewobensein seiner Biographie in einen präzise benennbaren sozialen Kontext. Wer es ist, weiß ein Ich auch nur im Bezug zu seiner Umwelt. So ist das Ich Nr. 24.265.789.952 nach Christi Geburt nicht an seelischen Merkmalen zu erkennen, die es besonders von Millionen anderer Ichs unterscheiden würden, sondern daran, dass es das dritte Kind von Klaus und Maria Pappelbusch aus Burbach Mitte ist, zu Ehren seines Opas väterlicherseits "Albert" genannt wurde und dass dieses Ich noch heute genau weiß, wie es damals im Lateinunterricht beim alten Quirek mit Fuchse ihrem Hannes auf den Hinterbänken der gymnasialen Dauerberieselung herumalberte.
Von außen betrachtet ist das Ich eine differenzierte Vernetzung in einen sozialen Kontext und nur als Spur im Kontext nachweisbar. Selbst den Namen, den das Ich für etwas hält, was besonders unabtrennbar zu ihm selbst gehört, haben einst für es andere Du's bestimmt. Und von innen spürt das Ich, dass die lauschende Einheit selbst keinen eigenen Namen hat.
Nachhaltig belegen lässt sich diese These am Beispiel eineiiger Zwillinge. Obwohl die genetischen Fingerabdrücke ihrer Körper identisch sind, hat doch jeder Zwilling ein unterscheidbares Ich, das sich trotz der angeborenen Ähnlichkeit - oder Gleichheit? - der psychischen Reaktivität, durch die Sequenz ihrer willkürlich beeinflussbaren biographischen Kontakte ermitteln lässt. Hätte Albert einen Zwillingsbruder Alfons mit der Endziffer Drei, wäre der weder am Innenleben noch an den Fingerabdrücken eindeutig festzustellen, sondern daran, dass er sich für Französisch beim eitlen Hansi entschieden und es Schobbart gewesen wäre, mit dem er auf dem Nachhauseweg gossensprachliche Mutmaßungen über das Geschlechtsleben angestellt hätte.
Aus dem hier Gesagten kann man folgern, dass die Betonung des Ichs im Rahmen der bewussten Lebensvollzüge mit der Komplexität der sozialen Vernetzung zunimmt. Je mehr Möglichkeiten es gibt, in denen sich die Ichs voneinander unterscheiden können, desto unverwechselbarer erscheint ihre individuelle Identität.
Aus dem bisher Gesagten ist auch zu folgern, dass für die Entwicklung des Ichs die bestehende Kommunikations- und Kontaktkultur, aus der es herauswächst, von großer Bedeutung ist. Zu betonen ist, dass die Verantwortung für die Gestaltung der frühkindlichen Kommunikationsatmosphäre nur von Erwachsenen übernommen werden kann. Zwar ist das Kind von Geburt an durch die Dynamik seiner Psyche in erheblichem Maß an der Beziehungsgestaltung zu seinen Eltern beteiligt, da sich sein Ich jedoch erst im Laufe der Frühkindheit aus seinem Urkern herausbildet, kann es in diesem Zeitraum nicht nennenswert für die Ereignisse mitverantwortlich sein; denn das Ich ist es ja erst, was individuell entscheiden und für diese Entscheidungen die Verantwortung übernehmen kann. Im Laufe seiner Reifung ist es allerdings notwendig, dass das Ich sich nachträglich zu jener angeborenen psychischen Gegebenheit bekennt, die es zwar nicht bestimmen konnte, die aber an seiner Entstehung wesentlich beteiligt war.
Um erwachsen zu sein, muss man nachträglich einen Teil der Verantwortung am eigenen Schicksal übernehmen, obwohl man eigentlich dessen Erbe und nicht der Verursacher ist. Dank seiner prinzipiellen Freiheit nämlich, frei über jene Alternativen zu entscheiden, die es überhaupt erkennt, ist das Ich, sobald es Ich ist, nie ganz wehrloser Ausdruck der Verhältnisse aus denen es stammt, sodass derlei Milieubestimmtheit nicht dazu herhalten kann, die Verantwortung für das eigene Wesen auf andere abzuschieben; obwohl man zugeben wird, dass es leichter ist, in einer Welt vernünftig zu werden, die sich selbst nicht allzu närrisch benimmt.
Die Ursachen der Kontaktstörungen sind weder einseitig dem Individuum noch einseitig seinem Umfeld zuzuschreiben. Statt nach Schuld Ausschau zu halten, lohnt es sich vielmehr, amoralisch zu verstehen, wo bei der Interaktion zwischen dem Ich und der Umwelt etwas aus dem Ruder läuft. Dazu ist es sinnvoll, sich die neun konstitutiven Kriterien des reinen Kontaktes noch einmal in Erinnerung zu rufen. Von da aus soll die frühkindliche Kommunikationssituation danach durchforstet werden, welche Rolle diese Kriterien im Guten wie im Bösen zu spielen scheinen.
Die neun Kriterien sind: Ebenbürtigkeit, Gegenseitigkeit, Begrenzung, Intensität, Exploration, Integration, Solidarität, Akzeptanz und Transzendenz.
Ja, schon bei der Wahl der Überschrift offenbart sich das Problem! Spricht man nämlich von 'der Ebenbürtigkeit der Kinder', dann meint man leicht, gemeint sei eine Ebenbürtigkeit von Kindern untereinander und die Erwachsenen, um deren Verhalten es in erster Linie geht, blieben außen vor. Wählt man den Singular und spricht von 'der Ebenbürtigkeit des Kindes', klingt es auch nicht recht. Der Singular macht das Kind zum Abstraktum, zu einer Art sakrosankter Galionsfigur archetypischer Unantastbarkeit. Unterschwellig wird das Kind dadurch idealisiert, was als Vorbereitung dazu gelten darf, es um seine eigentlichen Rechte zu betrügen. Vielleicht sollte man das Problem umschiffen, indem man quer zur Seite springt und den Abschnitt mit einer anderen Überschrift erneut beginnt:
Der Respekt vor der Ebenbürtigkeit von Kindern ist für Erwachsene eine ständige Herausforderung. Der Kompetenzunterschied zwischen einem Säugling und seinen Eltern ist groß und nimmt erst im Laufe der Jahre langsam ab. Dadurch fällt den Erwachsenen die Verantwortung zu, über viele Belange ihrer Kinder - oft sogar gegen deren ausdrücklichen Widerstand! - zu entscheiden und schnell übersehen sie dabei die trotz allem bestehende Gleichrangigkeit.
Der Begriff "Kompetenzunterschied" bietet bei näherer Betrachtung interessante Erkenntnisse. Bei seinem ersten Bestandteil handelt es sich um eine Komposition aus der lateinischen Vorsilbe "kom = mit, zusammen" und dem Verb "petere = streben nach". "Kompetenz" ist das "Streben nach Zusammenkunft". Sie ist "die Fähigkeit, Übereinstimmung zu erzielen" bzw. "Gemeinsames anzustreben".
Wenn nun von einem Kompetenzgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern gesprochen wird, ist damit ein Unterschied im Reifegrad des Ichs gemeint. Das reifere Ich des Erwachsenen ist in der Regel kompetenter als das rudimentäre Ich des Kleinkindes, um Übereinstimmungen zwischen den situativen Erfordernissen äußerer Realitäten und dementsprechenden Verhaltensweisen zu erreichen. So stellen sich Kleinkinder bei der Bedienung komplizierter Apparaturen unbeholfen an und mit der Entknotung von Schnürsenkeln kommen sie schlecht zurecht.
In den Binnenbereich der frühen Eltern-Kind-Beziehung reicht die Überlegenheit der Ichkompetenz des Erwachsenen jedoch nur teilweise hinein, weil die Kommunikation in Ermangelung eines elaborierten kindlichen Ich hier größtenteils auf präverbalen psychischen Wegen verläuft. Auf dieser Ebene ist oft sogar mit einem Kompetenzgefälle zugunsten des Kindes zu rechnen, weil dessen naive Psyche, noch unverdorben durch unverdaute Episoden misslungener Kommunikation, zunächst der kindlichen Rolle entsprechend und adäquat reagiert, was der erwachsenen Psyche infolge bereits stattgehabter Neurotisierung oft nicht ohne Abstriche gelingt. Auf der Ich-Ebene kann deshalb das Kind vom Erwachsenen lernen, auf der Ebene der unmittelbaren affektiven Begegnung ist es oft umgekehrt. Schon aus dieser Art reziproker Symmetrie erwächst eine Wurzel der vielgepriesenen Ebenbürtigkeit.
Die wirkliche Kompetenz eines Erwachsenen im Umgang mit Kindern liegt dem Wortsinn gemäß zudem darin, Übereinstimmung zwischen sich und dem Kind zu erzielen. Dazu passt, dass das Wort "unter" im Begriff "Unterschied" vorrangig auf lateinisch "inter" - also "zwischen" - zurückzuführen ist, und dass es erst in zweiter Linie einen Gegensatz zu "oben" benennt. Das Unterscheiden im Sinne eines Aufspaltens führt zu keiner Hierarchie innerhalb des Unterschiedlichen, sondern es ordnet beides gleichrangig einem höheren Prinzip unter. Kinder kommen also nicht auf die Welt, um einseitig durch die Eltern an deren kultivierte Lebensformen angepasst zu werden, sondern Kind und Erwachsener bilden ein dialogisches System, deren ebenbürtige Komponenten gegenseitig ihre Entwicklung befruchten.
Kompetenzunterschiede werden jedoch oft dazu missbraucht, Kinder Erwachsenen unterzuordnen und zwar Erwachsenen, die sich durch ihre angemaßte Dominanz für die Demütigungen ihres eigenen Daseins schadlos halten. Erwachsene, die von Kindern eine solche Unterordnung verlangen, haben die Existenz eines eigentlichen Kompetenzvorsprunges damit bereits widerlegt.
Eine weitere Ursache der Ebenbürtigkeit liegt darin, dass der Erwachsene und das Kind aus dem gleichen Kontext heraus zusammengetragen bzw. herausgehoben sind; das schließlich meint der Begriff "Ebenbürtigkeit", wenn man ihn etymologisch betrachtet. Dieser Erkenntnis kann man bis dahin allerdings nur als intellektuellem Zeitvertreib frönen, denn es bedarf weiterer Überlegungen, um das Bild mit Leben zu füllen und darin Anhaltspunkte für konkretes Handeln zu entdecken.
Wenn das "Geborene" per sprachlicher Definition "Etwas-aus-dem-Kontext-Herausgehobenes" ist, meint dies, dass es den determinierten Abläufen, die den Kontext beherrschen, soweit enthoben ist, wie es sich über sie erhebt. Dem Geborenen steht es im Gegensatz zum Ungeborenen zu, über Dinge zu entscheiden, die ohne die Geburt und die darin liegende Entscheidung zur Freiheit dem unüberwindlichen Gesetz des Gefüges gehorchen müssten. Darin sind Kind und Erwachsener von ihrem grundsätzlichen Wesen her gleich. Ungeboren an beiden ist, was als Teil dem Ganzen unterliegt. Bereits geboren, was sich als Ganzes über seine Teile beugt.
Bemerkenswert und für das Gelingen der Kontakte von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass es weder dem Kind noch dem Erwachsenen aufgrund des Herausgehobenseins zusteht, über alles zu entscheiden, was für ihre Willkür denkbar wäre. Soweit herausgehoben ist keiner und wer das Maß seines wirklichen Herausgehobenseins überschätzt, ist nicht über den Kontext erhaben, sondern im Kontext überheblich, was sein Herausgehobensein rückwirkend mindert. So hat das Bewusstsein unmittelbaren Einfluss auf die faktische Realität. Das seelische Dasein ist eine Qualität des Denkens. Ich bin nicht, weil ich denke, auch nicht was ich denke, sondern wie ich denke.
Zwar kann die prinzipielle Entscheidungsfreiheit vom Ich dazu missbraucht werden, willkürlich über alles und jedes zu entscheiden, was ihm in die Quere kommt, die Gefahr falscher Entscheidungen steigt jedoch in dem Maße, in dem sich das Ich in Unkenntnis seiner Grenzen dazu versteigt, sich als Richter über Dinge zu gebärden, die es nicht überblickt. Auch insofern sind sich die Erwachsenen und ihre Kinder im Grunde gleich. Wenn nichts ihren Übermut aufhält, machen sie viel kaputt und sie gefährden sich dabei selbst.
Praktisch bedeutet die Ebenbürtigkeit zwischen Kindern und Erwachsenen, dass es beiden zukommt, im Rahmen ihrer Kompetenzen frei über sich zu entscheiden. Schwierig ist es allerdings zu bestimmen, wie weit wessen Kompetenzen tatsächlich reichen. Da die lebenspraktische Kompetenz des Erwachsenen oft überlegen ist, ist die Gefahr groß, die Kompetenz des Kindes im Ausdruck freier Menschlichkeit zu übersehen und folglich der Einfachheit halber so zu tun, als sei es immer schon das beste, alles über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Millionenfach wird daher zwischen Hochstuhl, Schaukelpferd und nasser Windel darum gekämpft, ob der Teller Spinat nun leergegessen wird oder eben nicht.
Sinnlose Kämpfe gegen die harmlosen Wünsche und seltsamen Launen von Kindern kann man jedoch getrost unterlassen, ohne dass die elterliche Autorität gleich wie ein Kartenhaus zusammenbräche. Dort wo die autoritäre Entscheidung im Interesse des Kindes wirklich vonnöten ist, zum Beispiel, wenn es gilt, den Sprössling davon abzuhalten, sich an kochendem Wasser zu verbrühen, gibt es noch Gelegenheit genug, skrupellos und übermächtig durchzugreifen.
Wer die Elternschaft am eigenen Leibe erlebt hat, kommt, wenn er nicht bewusst den steinigen Weg des Martyriums gewählt hat, meist zu der Erkenntnis, dass es im Interesse einer gewissen Balance zwischen den Bedürfnissen des Kindes und denen seiner Betreuer notwendig ist, dem kindlichen Expansionsdrang auch dann Grenzen zu setzen, wenn es nicht unmittelbar in dessen Interesse ist. Diese Not ist aber mehr als ein Übel, das die glückliche Kindheit wie ein Virus befällt. Das Erlebnis der Begrenzung durch die Existenz anderer ist vielmehr für die gesunde Entwicklung des Ichs von großer Bedeutung, weil es erst durch diese Not zu jener Tugend findet, aus der heraus es seine eigenen Grenzen übersteigt. Erst an den erlebten Grenzen kann das Ich das aggressive Potential der Psyche erkennen und erst im Kampf der Willenskräfte lernt das Ich, sich aus den ungezielt Impulsen der Psyche eine Lanze zu schmieden.
Auch wenn diese Grenzsetzung dem Kind auf lange Sicht durchaus nützen mag, ist es falsch, so zu tun, als sei sie bloß zu seinem besten und als müsse die kindliche Psyche dem Widerstand, an dem ihr Expansionsdrang scheitert, dankbar sein. Richtig ist vielmehr, wenn der Erwachsene zu den Grenzen, die er setzen will, selbst steht, und wenn er nicht leugnet, dass er sie im eigenen Interesse und nicht in dem des Kindes hält. Schließlich ist es nicht die Grenzsetzung, an der das Kind wächst, sondern es wächst durch die von ihm selbst erbrachte kreative Anpassung an die Machtverhältnisse.
Ein Umgang, der das Kind tatsächlich achtet, ist so weit als möglich frei von allen Machenschaften, die sich wohlmeinend in sein Wesen mischen, um dort irgendwelche Weichen für seine Zukunft zu stellen. Die gesunde "Erziehung" erzieht überhaupt nicht. Wo sie nicht im Einklang mit der natürlichen Willensäußerung des Kindes dessen gegenwärtige Impulse unmittelbar fördert, ist sie vielmehr eine schonende Selbstverteidigung der Eltern gegen den unverdorbenen Appetit ihres Nachwuchses, bei der die Eltern stoisch versuchen, während der Abwehr der kindlichen Übergriffe ihre eigene Ethik aufrecht zu erhalten ohne ihre Kinder dabei über diese Ethik zu belehren.
Eltern, die die Ebenbürtigkeit ihrer Kinder tatsächlich achten, sind daher wegen unbotmäßigem Verhalten niemals nachtragend. Wenn sich ihr Kind mit Händen und Füßen gegen jene Anordnungen sträubt, die die Eltern ernsthaft für notwendig erachten und deshalb mit Macht durchsetzen, werden sie den Widerstand des Kindes nicht als Insubordination bedauern, sondern als Zeichen dafür begrüßen, dass der freie Wille des Kindes mit wilder Leidenschaft zu seiner Freiheit steht.
Hand in Hand mit dem Verfehlen der Ebenbürtigkeit bei der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kindern geht der Verstoß gegen die Regeln der Gegenseitigkeit.
Scheinbar selbstverständlich ist die Annahme, Eltern stünden in der Pflicht, ihre Kinder zum Guten hin zu beeinflussen und fast genauso verbreitet ist der stillschweigende Konsens, ohne diesen Einfluss könne das Kind kein guter Erwachsener werden. Da diese Hypothese der allgemeinen Norm entspricht und da als ihre Quelle ein diffuses Misstrauen gegen das Lebendige spürbar ist - von dem man schließlich glaubt, es müsse durch die Erziehung erst gezwungen werden, sich Werten zuzuwenden - kann man dieses Symptom zurecht dem Krankheitsbild der 'gesellschaftskonformen Normopathie' zuschreiben. Hinter dem Zweifel daran, dass das neugeborene Leben den Drang zum Guten bereits ohne fremdes Zutun und ohne Belehrung in sich trägt, steht die verleugnete Feindseligkeit derer, die das Gute deshalb so lautstark propagieren, weil sie ahnen, dass sie ihm selbst untreu sind.
Andererseits wird übersehen, dass es auch beim Eltern-Kind-Kontakt zu einem wechselseitigen Austausch von Impulsen kommt. Wirklicher Inhalt der Eltern-Kind-Beziehung ist nicht die Formung eines wertvollen Mitgliedes der menschlichen Gemeinschaft aus der sprachlosen Knetmasse eines lärmenden Säuglings, sondern es handelt sich dem grundsätzlichen Wesen des Kontaktes gemäß um ein Interaktionsfeld, auf dem beide Partner durch die Begegnung mit dem spezifisch anderen jene Impulse erhalten, durch deren gelungene Integration sie psychologisch reifen. Rolle der Eltern im Kontakt mit den Kindern ist folglich zweierlei:
Zum einen können sie versuchen, ihrem Kind als einem ebenbürtigen Gegenüber zu begegnen, in dessen Leben es ihnen nur dann zusteht einzugreifen, wenn das Kind entweder ausdrücklich Unterstützung wünscht oder wenn der autoritäre Eingriff durch eine konkrete Gefahr gerechtfertigt wird, die es abzuwenden gilt. So gut wie alle Eltern verstoßen gegen diese Pflicht. Sie fördern ohne Auftrag und zwar zu allem Überfluss in Richtungen, die dem immanenten Impuls des Kindes widersprechen. Und sie verlangen nicht nur den Respekt vor der Autorität der elterlichen Kompetenz angesichts realer Gefahren, sondern sie verlangen Respekt vor der hypothetischen Autorität ihrer Person.
Zum zweiten haben die Eltern die Chance, jene Impulse konstruktiv in ihre eigene Persönlichkeit zu integrieren, denen sie von seiten des Kindes ausgesetzt sind. Kinder sind sprudelnde Quellen von Impulsen, geeignet ihren Eltern dazu zu verhelfen, eigene Persönlichkeitsdefizite auszugleichen und ihre Individuation voranzutreiben. Dazu gehört, sich gegen jene Ansprüche der Kinder wacker zu verteidigen, deren Legitimation man nach bewusster Entscheidung verneint. Eltern, die in diesem Sinne nicht auf ihre Kinder hören, werden später einmal fühlen müssen, womit das Leben sie für ihre Taubheit straft.
Die Missachtung der Gegenseitigkeit ist ein typisches Merkmal von Beziehungen, denen es am Respekt vor der Ebenbürtigkeit des anderen mangelt. So gehört es zur traditionellen Rollenverteilung zwischen oben und unten, zwischen dem Herrscher und seinem Untergebenen, dass der Herrscher in das individuelle Territorium des Untergebenen eingreifen darf, um ihn im eigenen Sinne zu beeinflussen. Umgekehrt besteht das Recht des Eingriffs nicht. Gerade durch diese Beziehungsregel wird das Gefälle zwischen oben und unten im sozialen Gefüge erst verwirklicht.
Familien, also Beziehungsgefüge zwischen Eltern und Kindern, sind in gesellschaftliche Strukturen eingebettet, deren historische Entwicklung zum großen Teil als Machtkampf um das Privileg aufgefasst werden kann, wer den andern beherrschen, das heißt im eigenen Sinne und zum eigenen Vorteil einseitig beeinflussen darf. Angesichts dieser stets wahrnehmbaren Bedrohung von außen fällt in Familien die Aufgabe an, missbräuchliche Eingriffe in das Familienleben soweit als möglich abzuwehren. Schon bei den Pavianen wird diese Rolle von dem übernommen, der sich dank größter Muskelkraft und Aggressivität dafür empfiehlt. Um bei der Abwehr der Gefahren erfolgreich zu sein, liegt es nun zuweilen nahe, den Familienverband selbst in eine Hierarchie zu zwingen, der jener äußeren, deren Zugriff verhindert werden soll, recht ähnlich ist. Vom zeitweise sinnvollen Einsatz der Macht bis zu ihrem dauerhaften Missbrauch ist es oft nur noch ein Katzensprung.
Findet die kindliche Sozialisation in einem Klima statt, in dem der einseitige Einfluss gang und gäbe ist, sich die Eltern mit übernommener Machtallüre jedoch gegen eine anthropologische Frischblutzufuhr zu ihrem Weltbild aus unverdorbenen kindlichen Quellen wehren, wundert es kaum, dass daraus Erwachsene hervorgehen, die die asymmetrische Rollenverteilung in ihr Weltbild aufnehmen und sie bei der erstbesten Gelegenheit mit umgedrehtem Vorzeichen ausagieren. Das Resultat ist eine Gesellschaft, in der der Kampf um die Plätze am längeren Hebel zum dominierenden Motiv wird.
Von der Ratio, die manchmal eine schlaue Hure ist, wird diese Form des Zusammenlebens heutzutage euphemistisch als "Leistungsgesellschaft" benannt, ein Ausdruck, der zunächst verbirgt, dass ein "Leistungsprinzip" zwei verschiedene Dinge benennt: Erstens, dass der am meisten von der Gemeinschaft bekommt, der am meisten in sie einbringt. Und zweitens, dass es abgesehen von dieser Form der Leistung auch darum geht, wer sich wem gegenüber und auf Kosten wessen wieviel leisten darf.
Ob nun zuerst die Henne oder erst das Ei, ob zuerst die feudale Gesellschaft oder die autoritäre Famlienstruktur da war, lässt sich nicht eindeutig klären. Im Zoo am Pavianfelsen hat man jedoch den Eindruck, dass die Tyrannei des Patriarchen keinen gleichsinnigen gesellschaftlichen Überbau zur Ermunterung benötigt. Es scheint daher, als ob das Ei einen ganz kleinen Vorsprung vor der Henne hat.
Für das übergeordnete Thema des Ich-und-Du-Kontaktes bedeutet die beharrliche Missachtung der Gegenseitigkeit in der Kindheit, dass die Kinderseele aus der Erfahrung lernt, dass Kontakte unterwerfend sind und man lediglich die Wahl zwischen drei Möglichkeiten hat: Entweder man vermeidet sie überhaupt. Oder man wählt zwischen der Rolle des Unterwürfigen und der des Unterwerfers aus. In allen drei Fällen bleibt der Zugang zum ganzen Entwicklungspotential des existentiellen Kontaktes versperrt. Die Beziehung kommt gar nicht erst zustande oder sie bleibt ein rituelles Rollenspiel mit eingebauter Abstandsklausel.
Dinge werden durch Grenzen begreifbar. Was man von ihnen sieht, sind ihre Grenzflächen zur Außenwelt, was man hört, sind die Schwingungen des Luftraumes, die durch die Vibrationen dieser Grenzflächen verursacht werden. Man erkennt die Struktur der Dinge, indem man ihre Grenzen ertastet und sich an ihnen stößt.
Auch die Funktionsstruktur komplexer Apparate wird durch das Ausloten ihrer Grenzen verstanden. Strukturen sind Grenzverläufe. Grenzverläufe sind Strukturen. Der Grenzverlauf des Computers, auf dem dieser Text entsteht, wird durch Hardware und Software bestimmt. Eine wesentliche Grenze, die für die Brauchbarkeit des Gerätes von Bedeutung ist, ist der Bildschirm, an dem der Blick des Benutzers endet. Auf der Mattscheibe entsteht ein virtuelles Bild graphischer Symbole, das dem Betrachter von der Maschine als funktionelle Grenze zur Außenwelt des Computers angeboten wird. Hinter dieser Grenze lässt sich eine komplexe Kaskade elektronischer Algorithmen erahnen, die von der Tastatur zum Text führt. Diesseits der Tastatur beginnt eine noch komplexere Kaskade bioelektrischer Algorithmen, die zwei Finger dazu bringen, bestimmte Sequenzen in die Tastatur zu tippen. Die Kommunikationsschleife zwischen dem Benutzer der Tastatur und dem, der erstellten Text erkennt, funktioniert, weil er das Strukturgefüge und damit den Grenzverlauf zwischen den diskreten Befehlsfunktionen seines Rechners ebenso wie die Definitionen der im Text benutzten Begriffe kennt.
Das Ich des Kindes untersucht im Laufe seiner Entstehung sämtliche Dinge, derer es habhaft wird. Durch spielerische Manipulationen an ihren Grenzen versucht es die Struktur seiner Umwelt zu entdecken. Die kognitiven Komponenten von Psyche und Ich sind zunächst größtenteils blind. Wie Blinde erkunden sie die Grenzen der Wirklichkeit, weil sie sich an der Landkarte der Grenzverläufe orientieren wollen.
Während die Grenzen materieller Dinge noch relativ leicht zu eruieren sind und selbst die Geheimnisse moderner Computer dem Entdeckerdrang von Kindern nicht lange standhalten, steht das werdende Ich bei der Erkundung der fremden Ichgrenzen vor einer deutlich größeren Aufgabe. Diese Grenzen kann man weder sehen, noch kann man sie hören oder sich daran stoßen. Sie sind sinnlich nicht direkt erfahrbar. Die Kenntnis der Ichgrenzen ist jedoch für ein Wesen, dass sich in so ausgezeichneter Weise wie der Mensch in einer Welt bewegt, die aus Individuen - also Ein- und Ausgrenzungen - besteht, von größter Bedeutung. Deshalb sind Kinder Meister der experimentellen Grenzübertretung.
Da die Ichgrenzen nicht direkt durch die Sinnesorgane zu erfassen sind, sondern nur durch die Beobachtung und das Erlebnis komplexer Reaktionsweisen der Umwelt, die das Resultat der Experimentierfreude der kindlichen Plagegeister sind, testen Kinder alles aus, was ihren Sinn erreicht. An den Reaktionsweisen, die sie hervorrufen, lesen sie ab, wo die Grenzen der anderen sind. Dabei sind sie nicht ausgesprochen wählerisch und begrüßen jede freundliche Reaktion - außer jener, die darauf abzielt, weitere Erkundungen zu verhindern. Dies ist wohl einer der Gründe, warum man gelangweilte Kinder abends schwer ins Bett bekommt, selbst wenn man es wirklich gut mit ihnen meint und wenn man sie sich nicht nur nach schwerem Tagewerk endlich für ein paar gnadenreiche Stunden vom Halse schaffen will.
Die Kenntnis der fremden Ichgrenzen ist nicht nur für die zentripetale Erfassung der Umwelt wichtig. Da sich verschiedene Ichs gegenseitig berühren und teilweise überlappen ist die Kenntnis der fremden Ichgrenzen für den Aufbau einer eigenen Identität wichtig. Ohne die Begegnung mit anderen Ichs sind eigene Ichgrenzen nicht klar zu definieren.
Der Grenzverlauf der materiellen und seelischen Wirklichkeit ist hochkomplex und immer nur im Ansatz zu erfahren. Durch seine Grenzüberschreitungen nimmt das Kind Kontakt zu seiner Umwelt auf und da die Erfolgsaussichten im Leben um so besser sind, je mehr Kontakt zwischen innen und außen entsteht, hat eine kluge Natur Kinder mit einem meist nur schwer zu dämpfenden Drang ausgestattet, in zahllosen Anläufen Grenzen zu überschreiten; was Eltern beträchtliche Sorgen machen kann und ihnen über kurz oder lang fürchterlich auf die Nerven geht.
Selbstverständlich sind Eltern gut beraten, nicht jede Grenzverletzung tatenlos zu dulden. Es nützt Kindern auch tatsächlich mehr, wenn sie erleben, dass ihre Mutter das Sonntagsporzellan tapfer verteidigt, als auszuprobieren, wie verschiedenartig Teller und Saucieren scheppern, wenn man damit die blöde Katze des Nachbarn bewirft. Informationen über die Ichgrenzen ihrer Mitmenschen, die sich in der affektiven Besetzung von Haushaltsgegenständen manifestieren sind für die Orientierung im menschlichen Dasein allgemein nützlicher, als ein überdifferenziertes Wissen über die Phänomenologie akustischer Erscheinungen.
Im optimalen Fall setzen Eltern nur konkrete Grenzen, denn nur konkrete Grenzen sind wirklich richtig. Sie sagen nicht 'Man macht Blumenvasen nicht kaputt', sondern 'Wehe, wenn Du diese Vase anrührst'. Sie sagen nicht 'Man wirft keine Saucieren auf blöde Katzen', denn eine solche Verallgemeinerung ist faktisch falsch und beleidigt daher die aufkeimende Logik des kindliches Verstandes, sondern sie entreißen die Sauciere der Kinderhand mit der gleichen Entschiedenheit, mit der ein militärischer Stoßtrupp einen umkämpften Hügel nimmt. Trotz der punktuellen Niederlage leidet das Kind nicht lange und außerdem denkt es: Alle Achtung! Meine Alten haben Schneid!
Einer der wesentlichen Mechanismen, der langfristig zu Kontaktstörungen führt, liegt in einer Entmutigung des grenzüberschreitenden Explorationsverhaltens in ungebührlicher Weise. Wenn man Kinder dazu bringt, generell vor Grenzüberschreitungen zurückzuschrecken, dann stört man die aggressive Komponente ihres Kontaktverhaltens überhaupt.
Die Sublimierung der kindlichen Vehemenz beim Grenzüberschreiten zu einer zwar achtsamen aber doch ungehemmten Kontaktaufnahme zur Umwelt ist nicht zu erreichen, indem man die aggressive Komponente unterdrückt, sondern indem man sich mit ihr Mal für Mal ein Scharmützel liefert. Alle elterlichen Sprüche, die so klingen wie 'So etwas macht man nicht', lohnt es genauestens dahingehend zu überprüfen, ob sich hinter der vermeintlichen Weisheit nicht bloß die eigene Ängstlichkeit versteckt. Meistens tut sie es.
Das Verhalten unverdorbener Kinder lässt weder im guten noch im bösen an Intensität zu wünschen übrig. Bei den Erwachsenen dagegen ist die Intensität des seelischen Ausdrucks oft ins Neurotische verdreht und nur noch an der Heftigkeit ihrer Verspannungen erkennbar. Oder sie liegt unter einer alles erdrückenden Passivität als Triggerpunkt depressiver Gefühle verschüttet. Folge davon ist, dass sich viele Erwachsene bei der Begegnung mit Kindern vor deren noch ungebrochener Intensität fürchten und wenn sie denn die Erzieher dieser Kinder sind, neigen sie dazu, deren Intensität durch Rationalisierungen, Naserümpfen, ängstlichen Rückzug oder einschüchternde Gewalt zu dämpfen.
Mildernde Umstände sind den Eltern jedoch unbedingt zuzugestehen. Während ihre Kinder sich gedankenlos damit vergnügen können, die neue Welt zu entdecken und Intensität die Lust am Erlebnis nur noch steigert, ist Intensität im gleichen Zuge jenes Kriterium des Kontaktes, das besonders dazu neigt, bestehende Strukturen kopflos umzuwerfen und Sicherheiten zu zerstören. Was brauchen Eltern aber mehr als zwei Jahrzehnte stabiler Sicherheit, wenn es gilt, die eigene Brut bis zur Mündigkeit am Kacken zu halten?
Der Konflikt zwischen der jugendlichen Intensität, die von den Erwachsenen als unreif abgetan wird und der erwachsenen Gesetztheit, die der Jugendliche als spießig empfindet, ist vorprogrammiert und notwendiges Schlachtfeld der Entwicklungsdynamik. Sinnvoll ist, die Spannung zwischen beiden Polen zu bewahren, indem der Wert beider Modi respektiert und ihr Zusammentreffen als Koinzidenz der Widersprüche bejaht wird. Der Erwachsene kann die Kritik an seiner Behäbigkeit getrost ertragen, wenn er von seinem Kind nicht verlangt, dass es mit drei schon so moderat wie ein Kommunalbeamter ist.
Außerdem muss zwischen der Intensität des kindlichen Verhaltens und der Intensität als Strukturkriterium des reinen Kontaktes unterschieden werden. Zwar mag die letztere aus der ersteren durch Sublimation entstehen, beiden Formen sind aber nicht deckungsgleich. Das kindliche Verhalten ist intensiv, aber es ist ebenso oft von einer egozentrischen Expansivität bestimmt, die sich um Begegnung im Sinne des "reinen Kontaktes" nur wenig schert. Wenn ein Kind versucht, seinen Kopf durchzusetzen und dabei alle Wut mobilisiert, die es aufbringen kann, zeigt das nur, dass es sein Gegenüber eben nicht als ebenbürtigen Kontaktpartner erkennt. Die Ebenbürtigkeit des anderen respektiert der tobende Tyrann nämlich erst, wenn der andere sich durch die Wut weder verschrecken noch zu inadäquaten Gegenmaßnahmen hinreißen lässt.
In der Praxis ist es oft anders. Eltern, die nicht genügend in sich ruhen oder die durch ihren Nachwuchs bestätigt werden wollen, reagieren überempfindlich auf dessen Versuch, es auszuprobieren, welche Ziele man mit blanker Wut erreicht. Dabei versucht das Kind doch bloß zu lernen und man tut nichts Gutes, wenn man die kindliche Erkundung sozialer Gesetzmäßigkeiten pauschal entmutigt oder wenn man gar beleidigt tut. Hält man hier an der eigenen Grenze nicht stand, sondern gibt man - zum Beispiel aus verleugneter Sympathie mit rücksichtsloser Gewalt - zu viel nach, schadet man der Sache jedoch ebenfalls.
Neugier sticht als wesentliche Eigenschaft kindlichen Verhaltens ins Auge. Neugier dient als Impuls zur Exploration der Umwelt. Durch die Erkundung nimmt das Kind Kontakt zu seiner Umwelt auf und lernt sie dadurch kennen. Und nur in dem, was es kennt, fühlt es sich sicher.
Die Umwelt ist jedoch nie so ungefährlich, als dass ein Kind seiner Neugier ungezügelt freien Lauf lassen könnte. Neben den Gefahren materieller Realitäten, wie den sprichwörtlichen Vier - Messer, Gabel, Scher und Licht - trifft das Kind auf gefährliche Reaktionen von seiten seiner Bezugspersonen, besonders wenn es bei deren Erforschung auf Seelenelemente trifft, von denen die Ausgekundschafteten nichts wissen wollen. Dann kann es sein, dass es mit seiner Neugier Abwehrmaßnahmen auslöst, deren Heftigkeit und pathogene Potenz ihm nachhaltig die Lust an der weiteren Erforschung seiner psychischen Umwelt vergällen. Resultat ist eine lebenslange Zurückhaltung beim Knüpfen neuer Kontakte. Resultat ist auch eine ausgeprägte Unkenntnis eigener Motive und Impulse, jener nämlich, die im Kontakt erst entdeckt werden können und in der Konsequenz davon eine nun eigene Ängstlichkeit, was den explorativen Elan anderer betrifft. Ein solcher Mensch wird sich womöglich zeitlebens vor allen Zeitgenossen fürchten, die nicht genauso verstört sind wie er.
Ist das Kind ein solch verstörter Zeitgenosse geworden und hat es sich selber fortgepflanzt, wird es so kommen, dass sein eigener Nachwuchs so unverfroren den Nachbarn, Tanten und Onkels zu begegnen gedenkt, wie das die unerzogene Natur in jahrmillionenalter Weisheit vorgesehen hat. Kindermund tut ungebremst die Wahrheit kund, was seine verstörten Eltern auf den Plan ruft, um jene Teile der Wahrheit zu zensieren, deren Verkündung ihren Neurosen peinlich ist. Mit altbackener Lebensweisheit, die sich auf ihre unbestechliche Stichhaltigkeit nur ungern überprüfen lässt, mit Sätzen wie 'So etwas sagt man nicht' dämmen sie den Explorationsdrang der Kinder ein, die mit ihren Wahrheitsproben eigentlich nur sondieren wollten, welche andere Wahrheit wohl darauf antworten wird. Derartige elterliche Kontrolle verkrüppelt nicht nur die explorative Potenz der Kontakte, sondern verstößt im gleichen Zuge gegen das Gesetz der Ebenbürtigkeit, indem sie sich eine Richterfunktion darüber anmaßt, was gesagt und gefragt werden darf. Werden Kinder hier im Übermaße ausgebremst, nimmt ihre allgemeine Neugier am Leben Schaden. Ihre Kontaktbereitschaft wird eingeschränkt.
Von großer Bedeutung für die spätere Beziehungsfähigkeit von Kindern ist die Bereitschaft ihrer Eltern, sie als unvoreingenommene Agenten im Auftrag des ewigen "Erkenne-Dich-selbst" zu sehen und sich darauf einzustellen, dass jedem Erwachsenen im Kind ein Psychotherapeut entgegen wächst, der überraschende Fragen stellt, wenn man ihn durch die Beachtung der Regeln des reinen Ich-und-Du-Kontaktes gewähren lässt.
Kontakt ist immer integrativ. Durch die Geburt büßt das Kind die Integration in den leiblichen Kontext seiner Mutter ein. Durch seine Kontaktaufnahme zur Umwelt jenseits des Uterus gehört es einem neuen Kontext wieder an. Der Wechsel vom Mutterleib in den Schutzraum des sozialen Gefüges ist der Archetyp des lebendigen Wandels. Die Geburt ist eine Metapher der Transzendenz. Immer verlässt Leben und kommt gleichzeitig an.
Alle Störungen des Kontaktes, die auf Kontaktscheu seitens der Erwachsenen beruhen, vereiteln beim Kind das Gefühl selbstverständlicher Zugehörigkeit im neuen, dem sozialen Kontext und führen stattdessen zum Empfinden eines stets gefährdeten Außenseitertums. Je mehr ein Mensch aber Außenseiter ist, desto schwieriger findet er in den sicheren Hafen der gemeinschaftlichen Geborgenheit, desto verlorener glaubt er sich in die alles verschlingende Weite ausgesetzt, die seiner Nichtigkeit gegenübersteht und desto mehr wird sein Leben von einem Drang nach Zugehörigkeit bestimmt, der ihn kopflos in Bindungen zu steuern droht, die für seine Entfaltung giftig sind. Je nach Temperament verweigert sich und hungert der eine, während ein anderer unter heftigem Würgen das Gift lieber frisst.
Kinder können eine solche Lebenssituation nicht bewusst erkennen. Was sie instinktiv aber ahnen, ist die dumpfe Gefahr, die von einem Mangel an Zugehörigkeit ausgeht. Die Angst vor diesem Mangel ist mächtig, da der Verlust der schützenden Gemeinschaft für lebende Organismen auf Dauer oft existenzbedrohend ist. Als Konsequenz der Kausalkette vom gestörten Kontakt zur mangelnden Zugehörigkeit und von dort zur Existenzangst entsteht ein unbewusstes Muster zur Vermeidung der gefürchteten Trennungsängste. Dieses Muster nennt man "Neurose". Sie soll die Psyche des Kindes vor der erschreckenden Wahrheit beschützen, dass es tatsächlich bereits vom Tode bedroht ist.
Da die Neurose das bestehende Problem löst, indem sie vornehmlich die Angst, also das Signalgefühl der eigentlichen Störung und nicht die Störung selbst bekämpft, bleibt sie im Pathologischen stecken. Wenn der wirkliche Bezug zur Welt scheitert, bezieht sich der neurotische Geist unbewusst auf die eigenen Bilder und durch das Netzwerk seiner Symptome schottet er sich so unauffällig wie möglich gegen die Gefahren der echten Kontaktsuche ab. Ist die Existenzangst durch mangelnden Kontakt aus ihrem Schlaf erwacht und zu ihrer Bezähmung in ein neurotisches Verhaltensmuster eingewoben, stabilisiert sich die Neurose wie von selbst, indem sie den Kontakt - ihr eigentliches Heilmittel also - aktiv vermeidet. Sie vermeidet ihn, weil für den Ausgegrenzten - und als solchen empfindet sich unterschwellig jeder Kontaktgestörte - die anderen nicht mehr nur mögliche Partner mit akzeptablen Unvereinbarkeiten sind, bei denen er sein Heil finden könnte, sondern im gleichen Zuge jene potentiellen Ausgrenzer, die seine Existenz in einem Ausmaß zu bedrohen scheinen, das nicht mehr ohne verdrehte Abwehrmanöver hinzunehmen ist. Die Heilung jeder Neurose liegt daher darin, den Kontakt wieder herzustellen und die Angstvermeidung zu beenden.
Indem die Geburt ein Herausfallen aus einem Kontext ist, ist sie der Startschuss für zweierlei Impulse zu Reintegration. Zum einen versucht das verlorengegangene Kind sich selbst passiv als Teil des Kontextes zu integrieren, indem es so zu sein versucht, wie es dort möglichst reibungslos eingepasst werden kann. Zum anderen besteht ein aktiver Integrationsimpuls, durch den das Kind sich die verlorene Welt wieder einzuverleiben versucht. Medium beider Impulse, jenes, der sich überlassen will und jenes, der sich das Gegenüber einzuverleiben trachtet, ist der Kontakt. Die Verbindung von zwei getrennten Teilen - somit auch die zwischen einem Ich und einem Du - besteht im Verweben des Lassens und Nehmens in eine wechselseitige Integration. Kein Ich kann daher in Kontakt zu einem Du treten, wenn es das Du nicht in das Gewebe seiner Existenz eindringen lässt. Kontakt ist die Integration des anderen in sich selbst und ein Dienst an seinem inneren Aufbau.
Das Kontaktverhalten von Säuglingen ist alles andere als solidarisch. Wenn man des nächtens als ermatteter Vater glaubt, im Schlaf eine milde Zuflucht zu finden, wird man rasch eines besseren belehrt und bald weiß man, dass sich der Säugling um keinerlei Solidarität mit seinem Erzeuger bemüht. Es ist, als habe eine grausame Natur beschlossen, den zu strafen, der so eitel war, den Fortbestand - ausgerechnet! - seiner Gene jenseits der privaten Endlichkeit zu riskieren.
Kindersegen bedeutet daher zunächst, dass man in einem einseitigen Beziehungsmuster gefangen ist, in dem man Buße tut und die Erfahrung macht, wie es sich anfühlt, solidarisch mit einem Despoten zu sein, der umfassende Solidarität lauthals einklagt und selbstverständlich annimmt, aber niemals gibt und auch nicht 'danke' sagt. So hatte man sich die Sache nicht vorgestellt, als man ebenso stolz wie übermüdet, das knuffige Bündel im Arm, den Kreissaal verließ!
Macht man sich trotz der Strapazen, die der Kindersegen bereits ohne philosophische Analysen mit sich bringt, auch noch die Mühe, zu ergründen, was "Segen" eigentlich bedeutet, stößt man auf das lateinische Verb "signare = mit einem Zeichen versehen". Ein Blick in den Spiegel lässt leicht erkennen, dass der mit Kindern Gesegnete von tiefen Furchen im Gesicht gezeichnet ist.
Angesichts der maximalen Schieflage des Gleichgewichtes zwischen Geben und Nehmen kann es passieren, dass der Geduldsfaden reißt und man mit der vollen Wucht erwachsener Kampfbereitschaft versucht, die ungleichen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Im Abendland ist dieses elterliche Aufbegehren gegen das Bußverfahren der Natur zur Sühne der genetischen Eitelkeit bereits so lange man denken kann fester Bestandteil der Kultur. Man nennt es "Erziehung" und doch bleibt es Usurpation. Ja, den Alten war das Ziel, die Dinge zu ihren Gunsten auf den Kopf zu stellen sogar so wichtig, dass sie seiner Rechtmäßigkeit durch angeblich göttliches Plädoyer im 4. Gebot den Rücken zu stärken versuchten. Dabei liegt die Chance, dank der Verehrung durch die Kinder lange zu leben, doch wohl eher bei den Eltern und nicht bei den Kindern, die einseitig den Tribut der Verehrung schuldig sind; es sei denn, die Eltern wären so ruchlos und ließen Kinder, die die Verehrung des Alters verweigern, schutzlos im Stich.
Implizit droht Moses den Schwachen mit einer Verkürzung des Lebens, sollten sie den Hochmut der Mächtigen nicht für deren Ehre halten. Was für eine Schande steckt doch in Moses Zeigefinger, dass er dessen Glieder beim Drohen so schamlos entblößt! Nur der, dem es an Ehre mangelt, verlangt die Verehrung durch andere. Dem Ehrenhaften ist die eigene Ehre, die er in sich spürt, stets genug.
Nicht dass hier romantischen Utopien das Wort geredet werden soll, als fände sich das Heil im endlosen Martyrium sich niemals verweigernder Eltern. Wichtig ist vielmehr zu erkennen, dass das unsolidarische Gebaren des Neugeborenen seiner angeborenen Psyche entspringt und nicht etwa einem unbotmäßigen Ich, gegen dessen Übergriffigkeit empört Widerstand geleistet werden müsste. Der Zorn der überforderten Eltern darf sich daher legitimerweise gegen rätselhafte Beschlüsse jener hohen Mächte richten, die aus unerfreulichen Gründen Babys mit einer Neigung zur asozialen Gefräßigkeit ausgestattet haben, nicht aber gegen das aufkeimende Du im Abgrund des fordernden Geschreis. Das Ich entsteht ja erst aus der Interaktion heraus und wieviel Solidarität es einmal aufbringen wird, hängt auch davon ab, wieviel ihm in statu nascendi entgegengebracht wurde; in dem es selbst gar nicht fähig war, das Ungestüm der Psyche zu hemmen und das deshalb für die Pein der Eltern nicht verantwortlich gemacht werden kann. Erlebt es, dass die Solidarität mit dem Ruhebedürfnis der Mächtigen mehr gilt, als die mit der unbewussten Natur der entborgenen Psyche, dann wird sein Verhältnis zur Solidarität im späteren Ich-und-Du-Kontakt gebrochen. Es wird eher Ruhe bewahren, als sich für Höheres hervorzutun.
Wo Hunger herrscht, ist es schwer, neue Fresser aufzunehmen. Das gilt für den Hunger, der mit Speisen zu stillen ist, wie für den, der sich nach Liebe und Achtsamkeit sehnt. Wie man weiß, ist das Leben selten ein Schlaraffenland. Mangel war schon immer Tatbestand in Kinderstuben. Auch wenn die Versorgung mit Kalorien inzwischen besser klappt, ist das Angebot an emotionaler Vollkost oft defizitär. So kommt es, dass aus hungrigen Kindern trotz Übergewichts hungrige Erwachsenen werden, die vom Leben Wiedergutmachung für den Verzicht in der Kindheit erwarten.
Wie das Leben so spielt, wird Frau schon mal schwanger. Vor der Ankunft des Kindes hat sie sich selten am Leben so satt gefressen, dass sie den hungrigen Sog ihres Säuglings ohne Neid hinnimmt. Vätern geht es nicht besser. Wenn die erste Begeisterung über den Nachwuchs verfliegt, bricht daher des Öfteren schlechte Laune aus.
Varianten, die einer Akzeptanz der Kinder im Wege stehen, gibt es zuhauf. Kommt das Kind nicht zu früh, also bevor die Eltern geläutert einsehen, dass ihr Hunger nicht satt zu machen ist, dann hat es womöglich das falsche Geschlecht. Oder es wird begierig erwartet, aber nur solange, bis es sich herausstellt, dass es sich dagegen sträubt, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen. Während im ersten Fall Eltern mit Kindern um das Recht konkurrieren, kindliche Ansprüche ans Leben zu stellen, treten sie unerfüllte Ansprüche in anderen Fällen an den überraschten Nachwuchs ab, der dann ständig mit der Erwartung konfrontiert ist, zu erreichen, was seine Eltern im Leben verpassten. Es ist nicht klar, ob derlei Großmut nicht schwerer zu ertragen ist, als blanker Neid. Noch schlimmer kann es sein, wenn Eltern sich nicht damit begnügen, dass man Kinder hat, sondern wenn sie erwarten, dass man etwas von ihnen bekommt: Anerkennung, Verehrung, Macht oder den sicheren Besitz des gewünschten Partners.
Der gemeinsame Nenner aller Konstellationen liegt im Unvermögen, anzunehmen, was das Leben verschenkt, weil man dem Leben Erwartungen vorgibt, die der Vergangenheit entspringen. So werden Kinder in die missratene Vergangenheit ihrer Eltern geboren und die Wiege, in der sie landen, bietet kaum den Platz, ihre reale Gegenwart ohne wenn und aber aufzunehmen. Wenn ihr Schrecken, nicht akzeptiert zu sein, wie sie sind, nicht verheilt, fehlt ihnen ein Leben lang der Mut, da zu sein, wo in jedem Jetzt ihr einzig richtiger Platz im Kosmos ist.
Kinder symbolisieren nicht nur die transzendente Kraft des Kontakts, sondern inkarnieren sie in konkreter Weise. Im Kind begegnen die Eltern sich selbst in einer transzendierten Form. Dort sind ihre Gene jenseits der eigenen Existenz verwirklicht und ihr sterbender Geist flackert in einer neuen Flamme auf.
Wer das behauptet, muss auf den Unterschied zwischen dem "Selbst" und dem "Ich" eingehen, denn sonst kann man nicht verstehen, was im Kontakt zwischen Eltern und Kindern grundsätzlich schief gehen kann.
Das Ich, so wurde es oben definiert, ist als Partei eines Körpers zu verstehen, der vom cartesianisch geprägten Denken des Abendlandes in Vereinfachung der Verhältnisse als ein aus dem Kontext herausgelöster Partikel aufgefasst wird. In Analogie zum Körper wird auch das Ich korpuskulär verstanden, so als gebe es zwischen dem lebenden Organismus und seinem Umfeld eine grundsätzliche Grenze. Diese Spaltung zwischen dem Subjekt und den Objekten kann aber nur ein Aspekt der Wirklichkeit sein und zwar jener, der an einen besonderen Aspekt der Zeit, nämlich den einer Zeit als Flussphänomen mit punktuellem Jetzt und abgeblendeter Breite, gebunden ist. Tatsächlich ist der Körper aber keine eindeutig abgrenzbare Einheit, sondern ein komplexes Konstrukt in der Flut unendlicher Wandlungen. Warum sollte das Ich, als Partei seiner verleugneten Endlichkeit, dann etwas anderes sein?
Wenn dem Individuum bei verkürzter Betrachtung zwar der Aspekt einer partikulären Existenz teilhaftig ist, dessen Wortführer sich als autonomes Ich bezeichnet, so muss dem antithetisch entgegengehalten werden, dass es als Partikel in jenen Kosmos ragt, dessen Ganzheit der andere Pol seines Wesens ist. Dem Ich als dem bewussten Jetzt eines Körpers und seiner unmittelbaren Bezüge entspricht eine unbewusste Verzweigung seines Wesens in die unendlich Weite der kosmischen Komplexität. So wie das Ich als seelische Größe tatsächlich dem Körper verbunden ist, mit ihm lebt und mit ihm untergeht, so ist die unbewusste Verzweigung des ganzen Wesens - ab hier der Einfachheit halber als "Selbst" bezeichnet - an das Schicksal jenes Kosmos gebunden, dessen sichtbare Teile (=Aspekte) man als "materielle Wirklichkeit" bezeichnet und dessen unsichtbare Ganzheit nur als Respekt vor seiner Heiligkeit erfasst werden kann.
An dieser Unterscheidung scheitern Eltern oft. Reicht ihr Blick auf sich selbst nur bis zum Horizont eines Ichs und verfehlen sie den Blick in die wahrhaft verbindende Tiefe, vor deren Hintergrund echte Trennung erst erfahrbar wird, dann begegnen sie dem Kind nicht als einer tatsächlich anderen Existenz, sondern als der vermeintlichen Verlängerung der eigenen, über die man folglich auch verfügen könne. Die Chance, ohne die begrenzte Sicht des eigenen Ichs zu erleben, dass man selbst der wirklich andere ist, wird so vertan. Und so wird auch die Trennung individueller Existenzen verfehlt, weil ihre Identität verkannt wird; und umgekehrt.
Hat das Ich des Kindes aber die Gelegenheit, sich in einer Atmosphäre zu entwickeln, in der sein Anderssein vom Du, dem es begegnet, als eigentliche Verbundenheit in eine gemeinsame Identität erkannt wird, dann hat es später das Selbstvertrauen, in weiteren Begegnungen seine Enge zu überwinden. Der Geist ist das Innen der Dinge, die außer sich nach Freiheit suchen.