Der Kontakt
Die bisherigen Aussagen über den Kontakt in der Psychotherapie waren im Text beiläufig eingestreut. Sie blieben dem allgemeinen Interesse am Titel des Buches verpflichtet. So könnte eines der vorigen Kapitel auch mit dem Satz beginnen: 'Die Psychotherapie kann zum Thema "Kontakt" eine Reihe bemerkenswerter Beiträge liefern...' - was allerdings wie der Ausschreibungstext für ein Seminar an der Volkshochschule geklungen hätte.
Jetzt soll der Ansatz umgedreht werden. Jetzt geht es weniger darum, neue Erkenntnisse über den Kontakt zu suchen, als vielmehr die gewonnen Erkenntnisse zur Definition einer konkreten therapeutischen Grundhaltung zu verwerten. Diese Grundhaltung orientiert sich explizit am Credo, dass die Einhaltung der "Kriterien des reinen Kontaktes" bei der erfolgreichen Psychotherapie von großer Bedeutung ist. In der Überschrift wird von "Technik" gesprochen. Doch durch die Anführungszeichen soll der Begriff sogleich als untauglich gekennzeichnet werden; denn das volle Potential an therapeutischer Wirksamkeit wird ja gerade dann verfehlt, wenn die Grundhaltung des Therapeuten zu einer bloß professionellen Technik verkommt - eine Gefahr, vor der nur jene Therapeuten leidlich gefeit sind, deren Berufswahl tatsächlich ihrer Berufung entspricht. Dann nämlich erreicht der Begriff seinen wirklichen Sinn und die Professionalität entfaltet, obwohl sie auch profan dem Gelderwerb dient, ihre volle Wirkung.
Mehr als der Begriff "Technik" trifft der der "Grundhaltung" das, worum es hier geht. Als Grundhaltung soll jenes Verhaltensrepertoire gelten, das als gemeinsame Basis alle fruchtbaren therapeutischen Beziehungen prägt und somit die Grundlage der individuellen Variationen bildet. Gemäß der These, dass Psychopathologien, also "Seelenleiden", die überhaupt eine elaborierte Therapie erfordern, nur im Kontext missratener Ich-und-Du-Kontakte vorkommen, bleibt die Richtlinie der therapeutischen Grundhaltung auf das Ziel des verwirklichten "reinen Kontaktes" ausgerichtet. An seinen Kriterien hat sich das Therapeutenverhalten zu messen - doch das wurde bereits gesagt! Jetzt ist die Frage vielmehr, wie man das macht und wie die konkreten Grundzüge einer Therapie aussehen, die primär die Verbesserung des Kontaktvermögens betreibt.
Bevor der neue Schacht vollends in die trächtige Erde abgeteuft wird, soll das Terrain zunächst durch eine erste Reihe markanter Hypothesen abgesteckt werden. Die Hypothesen ergeben eine übersichtliche Skizze, die in den Abschnitten danach farbig untermalt werden soll - und die trotz aller Farben Skizze bleibt, da sich das große Thema "Therapie" im siebten Kapitel eines kleinen Buches sowieso nur grob konturieren lässt. Dass die sieben Hypothesen fast ebenso entwässert klingen, wie das Wort "Hypothese" selbst, wollen wir dabei dem Autor milde nachsehen, versucht er durch die trockene Wortwahl doch bloß der Sache einen gehörigen wissenschaftlichen Ernst einzuflößen, den er durch eine allzu blumige Sprache zu verlieren fürchtet. So ist seine Absicht zumindest ehrenwert, wenn man sich auch fragen mag, ob die Verteidigung des wissenschaftlichen Ernstes es wirklich wert ist, ihr so viel an gefälliger Lesbarkeit zu opfern.
1.Die personifizierte Individualität als spezifisch menschliches Merkmal ruht in der dialogischen Grundstruktur ihres Wesens. Mehr noch: Das Ich ist der personifizierte Schnittpunkt der Beziehungsvektoren des Individuums mit seiner Umwelt. Das Ich findet seinen wesentlichen Sinn im Rahmen seiner vielfältigen Ich-und-Du-Kontakte. Ohne die Begegnung hätte die Individualität keine seelische Substanz. Die isolierte Individualität - unter der Hypothese einer vollständigen Objekt-Subjekt-Spaltung - ist jener besondere Modus des ganzen Ich, der ihm eine Reihe besonderer Erlebnisqualitäten, zum Beispiel die der existentiellen Einsamkeit, die der Autonomie und der Unverbindlichkeit zugänglich macht.
2.Die Psychopathologie handelt vom seelischen Leiden des einzelnen. Sie ist auf Grund von dessen dialogischer Grundstruktur immer mit einem Missraten des Ich-und-Du-Kontaktes verbunden. Seelisches Leiden und die Beeinträchtigung des Kontaktvermögens schaukeln sich meist wechselseitig auf. Zeitlich geht das Missraten der Begegnung bei der Entstehung der pathologischen Spirale dem individuellen Leiden in der Regel voraus. Kinder kommen nicht neurotisch zur Welt. Sie werden es, wenn es ihnen im Laufe des Lebens nicht gelingt, die pathogenen Beziehungsmuster ihrer Umwelt zu überwinden. Psychopathologie ist daher, sofern sie keine organische Ursache hat, zunächst eine Folge gestörter Kontakte und erst dann ihre Ursache. Psychopathologie ist jener Pol des gestörten Menschseins, der dem individualistisch denkenden Beobachter einseitig ins Auge fällt und der vom Standpunkt des naturwissenschaftlichen Vorurteils - das nämlich meint, Subjekte ließen sich durch Subjekte objektivieren - am leichtesten zu beschreiben ist. Psychopathologie ist, was der einzelne von der Störung seiner Bezüge unmittelbar wahrnimmt. Sie ist, womit die Störung der Beziehung auf sich aufmerksam macht.
3.
Da die Spirale des Übels vom gestörten Kontakt ihren Ausgang nimmt, ist dort auch der erfolgversprechendste Ansatzpunkt für heilsame Eingriffe. Primäres Ziel jeder Therapie ist es daher, die Kontaktfähigkeit des Klienten zu verbessern. Sinnvoller Ansatz bei der therapeutischen Arbeit ist die Analyse des vorliegenden Kontaktverhaltens hinsichtlich seiner dialogischen Qualität und das konsequente Anstreben qualitativ besserer Formen. Diese Aufgabe kann ohne Umschweife angegangen werden. Das seelische Leiden als individuelles Phänomen kann von der Analyse des Kontaktverhaltens aus am wirksamsten erreicht und in den Heilungsprozess miteinbezogen werden.
4.
Drei Kontaktbereiche sind bei der Therapie von besonderem Interesse: Erstens der konkrete Kontakt zwischen Klient und Therapeut. Der Therapeut spricht ausdrücklich darüber, wie er die Art erlebt, in der der Klient ihm begegnet. Neben dem konkreten Kontakt zwischen Therapeut und Klient interessieren dann dessen aktuelle Kontakte zum Umfeld. Und drittens werden die prägenden Kontakte in der Kindheit des Klienten untersucht. Dort sind meist durch eine einfache Exploration nach tiefenpsychologischen Gesichtspunkten grobe Abweichungen zwischen den realen Beziehungsmustern und den im Laufe der Untersuchung herausgearbeiteten Kriterien des "reinen Kontaktes" festzustellen, die als pathogene Introjekte das Leiden der Gegenwart triggern.
5.
Maßstab für den besonderen therapeutischen Kontakt ist der existentielle, gesunde Ich-und-Du-Kontakt im allgemeinen. An dessen Kriterien misst sich das therapeutische Handeln und seine Zielsetzung; zumindest solange der Therapeut jede Verirrung in einen humorlosen Dogmatismus vermeidet.
6.
Die Person des Therapeuten ist ein wichtiges Element im Rahmen der Arbeit am Kontakt. Der Therapeut begegnet dem Klienten nicht wie ein anonymer Experte, sondern als echte Person. Der Verbesserung seiner Kontaktfähigkeit kommt deshalb im Rahmen seiner Qualifizierung eine große Bedeutung zu. Der Therapeut reflektiert und thematisiert ausdrücklich wie er dem Klienten begegnet. Er teilt dem Klienten mit, was in ihm selbst gerade vorgeht. Er erklärt dem Klienten, wie er sich ihm gegenüber verhält - und er sagt, warum er das so tut. Der Therapeut macht sein Kontaktverhalten so transparent wie möglich. Die Transparenz der innerseelischen Vorgänge des Therapeuten während des Kontaktes zum Klienten ist ein wesentliches Element der heilsamen Kommunikation.
7.
Die Arbeit am Kontakt nutzt sowohl tiefenpsychologische als auch verhaltenstherapeutische Ansätze. Diese Form der Psychotherapie beschreibt Kontakte phänomenologisch und sie erarbeitet begleitend dazu Lösungsansätze. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Exploration des seelischen Problems, weil darauf vertraut wird, dass ein verbessertes Selbst-Bewusstsein aus der eigenen Dynamik heraus zu adäquaten Verhaltensmustern führt. Zur Beschreibung der Probleme benutzt man eine klare Sprache und drastische Bilder, da so die Chance erhöht wird, strukturelle Veränderungen auszulösen.
Vor dem Hintergrund dieser spröden Thesen soll nun die Psychotherapie im Sinne der Heilung des Kontaktes als ein Drama in mehreren Akten und vielen Bildern beleuchtet werden. Wegen seiner Komplexität ist das Ganze in Abschnitte aufgeteilt, die das Phänomen "Therapie" aus jeweils anderer Perspektive betrachten. Die Inhalte der Abschnitte überlappen sich und sind somit in ein Gesamtbild verwoben.