Der Kontakt

Die Etymologie der Begriffe...


2. Berührung

Früher hatten die Treidelpferde an der Ruhr große Mühe, Lastkähne vom Rheinland flußaufwärts bis nach Westfalen zu ziehen. Überall dort, wo er nicht durch Stauwehre bezwungen war, hatte der Fluß eine kräftige Strömung. Vom Leinpfad aus, auf dem sich die Gäule ihren Hafer verdienten, sieht man heute Kanuten die Rolle-seitwärts durch die verbliebenen Strudel drehen, um den erfrischenden Kunstkniff für die geplante Bootstour an der Ardèche ein wenig einzuüben. Die strudelnde Strömung, in die der Kopf der wackeren Kanuten taucht, war es auch, die dem Fluss seinen Namen gab. Die "Ruhr" heißt die "Rührige". Die Ruhr ist ein lebhafter Fluss. Sie wälzt sich nicht bloß faul in ihrem Bett!

Der Einfluss des Menschen auf das muntere Gewässer hat aber nicht nur der Schiffahrt zuliebe zu Aufstau und Kanalisierung geführt, sondern auch zu Einflüssen aus modrig riechenden Kanälen, die sich im Schutz der mit Indischem Springkraut und Herkulesstauden bewachsenen Böschung verschämt in die Umwelt ergießen und deren Wasser - entnähme man Proben daraus - bösartige Schmuddelbakterien und fiese Amöben enthielte, die im ungünstigen Falle beim Kanuten eine "Ruhr" auslösen könnten; falls er unter Wasser seine Lippen nicht verschlossen hält. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um den Fluss, sondern um die Krankheit "Ruhr".

Der Name der Krankheit entspricht sprachhistorisch dem des Flusses, durch dessen Wasser sie möglicherweise verursacht wird. Bei der schmerzhaften Durchfallerkrankung rumort es derart heftig im Gedärm des Opfers, als rühre ihm ein boshafter Sumpfgeist mit einem Dreizack in den Eingeweiden herum, sodass der Nahrungsbrei des Kanuten so schnell wie strudelndes Wasser durch die gereizten Schläuche fließt.

2.1. Be, bei, beide

Spaziert man entlang des Leinpfads und lässt man die Gedanken von der Phantasie der ewigen Strömung gelassen in die Ferne tragen, denkt man bald nicht mehr ans burleske Bild vom kranken Kanufahrer, sondern über die Zusammenhänge nach, die den Fluss mit den "Berührungen" verbinden, die sich in der trächtigen Ferne ereignen könnten. Man erkennt, dass das Wort "Berührung" aus zwei Teilen besteht, mit deren erstem so manches deutsches Verb beginnt.

"Be", die vielsagende Silbe zu Beginn des Wortes, ist die tonlose Form des Wortes "bei". "Berühren" heißt ursprünglich "Beirühren". "Bei", so haben wir bereits gesehen, wurzelt im indoeuropäischen "ambhi = um...herum" und ist mit "beide" und "Ambivalenz" verwandt. Die "Berührung" ist mehr als die Aufhebung eines Abstands. Ihre Zielrichtung führt nicht nur heran. Berührung führt darüberhinaus.

Das scheint, was dem Kontakt bei der Erörterung seiner Verwandtschaft mit dem Wort "Kontingent" zugeschrieben wurde, zu widersprechen. Dort wurde betont, dass es zum Wesen des Kontakts gehört, Grenzen einzuhalten, weil es der kuchenbackenden Oma, die als Beispiel zitiert wurde, gar nicht gut bekäme, von der heranrückenden Verwandtschaft überfahren zu werden. Dass Berührung nun aber doch als Beirührung Grenzen überwindet, kann nur als antithetische Bereicherung des bisher gewonnenen Bildes gelten. Offensichtlich ist "Kontakt" ein vielschichtiges Phänomen. Kontakt ist ein Spiel um Grenzen. Er hält sie ein und überschreitet sie.

Wenn die Verwandtschaft bei der Oma ankommt, ist sie eine Grenze, die man durch Anhalten respektiert und deren Wert man durch Begrüßungsküsse anerkennt. Andererseits ist es aber gerade das punktgenaue Einhalten des Respekes, der im Kuss ohne Aufdringlichkeit gipfelt, was die gerührte Oma in ihrer Tiefe erreicht. Kontakt findet nicht nur an der Oberfläche statt. Er greift in die Tiefe und zwar am meisten dann, wenn er fraglos respektiert, was der Oberfläche an Unversehrtheit zusteht.

In den Verben "befolgen", "befördern" und "begleiten" weist die Vorsilbe "be" auf die räumliche Ausrichtung einer Tätigkeit hin. Ein Rat wird befolgt, die Post befördert und die Freundin mit lüsterner Gier in Lippen und Lenden nach Hause begleitet.

An anderer Stelle benennt die Silbe eine Einwirkung auf Sachen und Personen, deren Art im zweiten Teil des Verbes erst erklärt wird. Beispiele dafür sind die Wörter "bemalen", "begießen" und "begünstigen".

Gemeinsamer Nenner der Verben mit "be" ist zunächst der klare Respekt vor der Integrität jener Sache, über deren Grenzen hinweg die Einwirkung vorstösst. Sowohl beim "Bemalen", als auch beim "Begießen" und "Begünstigen" wird das, was bemalt, begossen oder begünstigt wird, durch den Vorstoß nicht eigentlich verletzt. Vielmehr dient der Vorstoß dazu, der bemalten Leinwand, der gegossenen Blume, dem begünstigten Freund es zu erleichtern, ihr wahres Wesen zu erfüllen.

Was gut gehen kann, kann auch missraten. Daher schimmert bei der Vorsilbe "be" - mal mehr, mal weniger - die Möglichkeit durch, dass der Vorstoß, von dem die Silbe spricht, sein eigentlich solidarisches Ziel verfehlt. Dann mischt sich in die Unschuld der reinen Berührung der Schatten eines egoistischen Missbrauchs hinein.

Mal bleibt der, der dann einwirkt, samt seiner Eigenschaften und Motive verdeckt im Hintergrund, mal wird sein Eigeninteresse schon auf Anhieb deutlich. So hat Circe Odysseus becirct, weil sie ihn auf ihrer Insel festhalten wollte. So begehrt der Liebhaber seine Braut, weil seine Begierde nach ihr lechzt. Und so beherrscht der Herrscher sein Reich, um sich daran zu bereichern. In jedem der drei Fälle wird zwar ein gewisse Wertschätzung spürbar, die der Liebhaber, der Herrscher und Circe ihren Objekten entgegenbringen, die Wertschätzung bleibt aber im Nutzen für das aktive Subjekt verankert.

Vielleicht ist es nur Zufall, dass in den genannten Beispielen so viel Ambivalenz zum Ausdruck kommt. Vielleicht gehört Zwiespältigkeit jedoch durch die Verwandtschaft der Vorsilbe "be" mit dem indoeuropäischen "ambhi" zum grundsätzlichen Wesen aller Verben, die mit dem "be" beginnen; so wie sie zu jedem Beginn überhaupt gehört.

Auch im Verb "bleiben" taucht die Silbe "be" wieder auf; hier im Sinne eines "Versehens-mit", wobei das "e" allerdings tonlos wurde und dann ganz weggefallen ist. "Bleiben" heißt eigentlich "be-leiben". Es meint, dass man die Gegenwart durch sein weiteres Dasein "be-leibt".

Noch mehr Klarheit gewinnt man, wenn man den Begriff "Leib" etymologisch untersucht und dabei auf das Verb "leben" stößt und man so erkennt, dass das "Bleiben" ein "Beleben" ist. Verlässt man als letzter einen Raum, ent-leibt man ihn folglich, was zu lebhaften Spekulationen über die Existenzbedingungen physikalischer Phänomene führen kann - sobald man sich erlaubt, mit dem anscheinend Absurden gedanklich zu spielen.

Der Begriff des "Entleibens" lässt zwei Interpretationen zu: Zum einen kann man ihn in Analogie zum "Entwässern" deuten, also als das Entfernen einer Substanz aus einem physikalischen Feld. "Entleiben" heißt aber auch "umbringen". Verbucht man den Gleichklang der beiden Sinnfacetten des Entleibens nicht unter dem Etikett belangloser Zufälle, könnte man daraus schließen, dass zu den konstituierenden Faktoren des Raumes die Präsenz eines Subjekts gehört und dass durch dessen Weggang der Raum nicht mehr im selben Sinne räumlich ist, wie man ihn gemeinhin kennt. Ein weiteres Indiz dafür wäre, dass die Raum-Zeit einerseits eine physikalische Einheit bildet und dass das Präsens der Zeit andererseits stets mit der Präsenz jenes Subjektes zusammenfällt, welches dort "jetzt" sagt.

"Prae-esse", die gemeinsame lateinische Quelle von "Präsens" und "Präsenz" heißt "vorne sein". Als Präsens erscheinen jene Aspekte der Raum-Zeit, die dem Blick des präsenten Subjekts vorliegen. Dass dem Subjekt ein so winziger Ausschnitt der riesigen Raum-Zeit so übergroß vor Augen liegt, lässt - wenn man eine teleologische Perspektive nicht von vornherein als reine Hypothese von der Hand weist - vermuten, dass das Erkennen der Details die wesenhafte Geschäftigkeit des menschlichen Bewusstseins bestimmt und dass das Jetzt einer punktuellen Gegenwart als besondere Form des objektiven Aufscheinens der Wahrheit erst mit dem bewussten Ich entsteht. Die Gegenwart wird vom Ich nicht bloß erkannt, sondern das Ich ist ein konstitutives Element der Situation, die als Ich von sich weiß. Das Ich entsteht, weil sich die Elemente der Situation, die es ist, begegnen und die Gegenwart, weil es das Wesen des Ichs ist, in dieser Begegnung gegenwärtig zu sein. Die Gegenwart ist ein Ausschnitt, der als gemeinsamer Nenner aller Ichs und als ihre Summe in das Ganze eingewoben ist.

2.2. Kochtopf und Zen

Egal, was von all den erdachten Abstraktionen stimmen mag, sicher ist, dass beim Beerben der Erbe mit Erbschaft bedacht wird und bei der Befreiung der Befreite mit Freiheit. Folglich wird bei der Berührung das Berührte mit "Rührung" versehen. Wer berührt, rührt das Berührte um. Wer berührt, wirkt damit immer schon ein.

Gerührt wird häufig in der Küche. Beim mexikanischen Bohneneintopf dünste man zunächst Zwiebeln. Dann brate man Hackfleisch an und gebe beides in einen Topf. Während man sich sonst beim Kochen vor dem Einsatz von Konserven hüten sollte, darf man hier zum allgemeinen Hausgebrauch getrost zu Bohnen und geschälten Tomaten aus der Dose greifen, ohne dass man sich dadurch bereits als willfähriger Knecht der Lebensmittelchemie disqualifizieren würde. Nehmen Sie aber bitte nicht nur Kidneybohnen. Auch weiße Bohnen und dicke Bohnen schmecken gut, besonders wenn man nach einem Winterspaziergang ausgehungert und mit klammen Fingern nach Hause kommt. Gewürzt wird der Eintopf mit Pfeffer, Knoblauch und frischen Kräutern von der Fensterbank. Damit das Chili nicht anbrennt und damit sich die Zutaten blubbernd im magmatischen Abgrund vermengen, muss man bei schwacher Hitze tief im Topfe rühren.

Indem man rührt, bringt man etwas in Bewegung. Dabei bleibt die Bewegungsrichtung des Kochlöffels unbestimmt und ohne erkennbares Ziel. Mal kreist er weit, mal schnell und eng. Dann wechselt er die Richtung, macht einen kessen Schlenker, kippt schräg zur Seite und hebt schlingernd das Gemüse, das eben noch am Boden des Topfes Hitze zog. Zuletzt zieht er entlang einer geschwungenen Achterbahn, dem Zeichen der heiligen Vermählung in Unendlichkeit.

Einen erkennbaren Bewegungsvektor, den man durch das Rühren einbrächte, kann man jedenfalls nicht berechnen, da man durch das Rühren nichts Ganzes von hier nach dort bewegt, sondern Bewegung in das Ganze bringt. Wer rührt, vermengt und vermischt, wobei er es dem umgerührten Inhalt des Topfes überlässt, was aus ihm werden wird. Wer rührt, bringt durcheinander und wühlt auf, damit das Aufgewühlte in seinem Inneren nach einer höheren Ordnung sucht. Das Rühren fördert die Eigendynamik im Topf, aber es bestimmt sie nicht. Es fördert das Garen der Speise, ohne dass es das grundlegende Wesen des Resultates bestimmt. Sind die Zutaten einmal eingebracht, entsteht im Kochtopf jenes Gericht, das aus den gegebenen Zutaten entstehen muss und kein noch so wildes Rühren könnte aus Chili eine Pekingente machen. Indem man rührt, stellt man sicher, dass das, was werden könnte, gelingt.

So ist das richtige Rühren, das nicht mehr will, als sein bescheidenes Maß gelassen zu erfüllen, ein alltägliches Ritual im Dienste der einfachen Wahrheit. Richtiges Rühren ähnelt einer Teezeremonie und wird mit voller Achtsamkeit erbracht. Der Koch verfällt dabei in eine absichtslose Trance, in der er ganz beim Rühren ist und das Ergebnis seiner Tat und die Bestimmung der Bewegung, die im Geschehen liegt, der kosmischen Ästhetik überlässt. Der wahre Koch vergisst beim Rühren einen heiligen Moment lang, dass er essen wird. Er lässt sich zum Werkzeug eines Vorgangs weihen, dessen Ausgang Milliarden Jahre lang das Schicksal der Welt ein Quäntchen mitbestimmt. Er vergisst, dass sein Rühren anderen Zwecken dient, als der Ordnung des Kosmos im emaillierten Tempel eines Kochtopfes zu huldigen und wenn sein Löffel klingend gegen die Flanken der Kasserolle schlägt, hört er nur den Gong zum täglichen Gebet.

Würde ein Koch nun doch noch versuchen, das Chili in eine Pekingente zu verwandeln, indem er mit dem Rührlöffel den Inhalt des Topfes in einer Weise traktiert, die am einfachen Wesen des Rührens vorbeigeht, käme er damit nicht ans Ziel. Er würde schlimmstenfalls erreichen, dass die Wirklichkeit durch ein missratenes Chili die Kapriolen seines Löffels als Hochmut entlarvt.

2.3. Berührung, Erziehung, Verzerrung

Beim Ich-und-Du-Kontakt wirkt die Berührung während ihrer jungfräulichsten Phase in einer ähnlichen Art. Sobald Kontakt zwischen Menschen besteht, sobald der eine die Präsenz des anderen in seiner Gegenwart bemerkt, kommt es durch die reine Begegnung - bevor also irgend ein Inhalt beredet und verhandelt wird - zur Beirührung unbestimmbarer Bewegungsimpulse, deren Auswirkungen kaum vorherzusehen sind; geschweige denn, dass man sie gezielt beherrschen könnte. Die Präsenz des anderen wirkt bereits, ohne dass sie dazu einen spezifischen Charakter bräuchte. Meist wird dieser Modus der Begegnung so gut wie nicht bemerkt und achtlos übergangen.

Die Folgen dieser Unachtsamkeit und die schmerzliche Erfahrung, die daraus resultiert, bleibt besonders ehrgeizigen Eltern am wenigsten erspart. Keine andere Beziehung wird wie die zwischen Eltern und Kind so sehr vom Irrglauben belastet, dass die Begegnung kein Bewusstsein der Existenz eines tatsächlich anderen ist, sondern die Grenzen zwischen sich und ihm prinzipiell überschreitet. Bei der Erziehung wird notorisch gemeint, dass dabei der eine im anderen so viel wie möglich mit Absicht bewirken soll. Dabei spürt erst der, der in der Gegenwart eines anderen nichts anderes mit ihm tut, als für ihn wach zu sein, mit voller Wucht, dass es jenseits aller Masken einen echten Abgrund gibt.

Bei der Geburt ihrer Kinder haben zu viele Eltern schon Pläne im Kopf, was aus dem plärrenden Nachwuchs werden soll. Sie glauben, Erziehung führe Kinder tatsächlich dorthin, wohin der Erzieher sie haben will und im Dienste dieses Aberglaubens legen sie sich ins Zeug. Unerschütterlich meinen sie, Kindern damit etwas Gutes zu tun und sind der Überzeugung, ihr unverschämtes Zerren an den schamhaften Kinderseelen sei die Erfüllung ihrer Elternpflicht. Wogegen die Kinder sich gegenwärtig sträuben, dafür würden die kleinen Masochisten künftig sogar dankbar sein!

Später stellen viele Eltern allerdings ernüchtert fest, dass man Menschen nicht so formen kann, wie man es gerademal für richtig hält und dass der missratene Versuch nicht nur nichts einbringt, sondern sogar schadet. Wäre es nicht auch vermessen, zu glauben, man könne sich im neugeborenen Kind eines Phänomens bemächtigen, dessen Entwicklung zur unbeschreiblichen Nervensäge die Natur tausend Millionen Experimente gekostet hat; bloß weil man durch einen Zeugungsakt, bei dem das eigene bisschen Verstand, von animalischer Begierder umnebelt, in gefährlicher Weise die Kontrolle verlor, eine solche Nervensäge anvertraut und ans Bein gebunden bekam?

Eine Folge der missbräuchlichen Berührung, die den anderen ungefragt zur Knetmasse des eigenen Gutdünkens macht, ist jedenfalls, dass man allzuoft das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte. Die Psyche ist das grundsätzliche Geschöpf der Verbindung und damit in ihrer unbewussten Tiefe mit dem tatsächlichen Wesen der schlichten Berührung bestens vertraut; auch wenn das Wissen darum der reflektierten Überlegung nicht zur Verfügung steht. Die Psyche erwartet daher von der Berührung zunächst unbefangen und spontan, dass deren Impuls aus ihr nichts machen will. Spürt sie, dass die Berührung ihr eigentliches Wesen verrät und ein Werkzeug von Kräften ist, die sich zu einer invasiven Strategie zusammentun, lehnt sie sich gegen die Berührung, die zu einem Trojanischen Pferd zu werden droht, durch verschiedene Methoden zur Kontaktvermeidung auf. Dieser Reflex zum Widerstand ist der Psyche immanent. Sie sträubt sich gegen Fremdbestimmung und kann ihre Rebellion gegen das Joch nur unterlassen, wenn sie selbst ihre Gesetze bricht.

Das Bewusstsein kann nicht anders als frei sein zu wollen. Denn es ist eine Interaktion jener Dinge, die sich durch die Begegnung aus dem Joch ihres Soseins zu befreien versuchen. Das Bewusstsein ist ein Interaktionsfeld gestalteter Ganzheiten. Als Psyche brechen Dinge aus den Fesseln ihrer stofflichen Gefangenschaften aus, als Geist gehen sie in eine entbundene Freiheit ein. Die Psyche muss sich erst selbst als geschlossenes Ganzes konstituieren, damit sie den Dingen die Freiheit jenseits der Fesseln vermitteln kann. Erst als der erfüllte Entwurf eines vorläufig Ganzen wird sie fähig, ihre persönliche Autonomie der transpersonalen Idee einer endgültigen Freiheit anzuvertrauen. Sie kann es, weil das transpersonal Ganze die selbstbestimmte Psyche in sich aufnimmt, ohne dabei ihre Freiheit einzubinden.

Für das Schicksal der kindlichen Psyche und ihre spätere Kontaktfähigkeit hat der Interaktionsstil zwischen Eltern und Kind große Bedeutung. Die sogenannte "Trotzphase" entspricht der seelischen Notwendigkeit, eine abgegrenzte Einheit zu bilden. Häufig ist diese Phase nur deshalb so heftig, weil Eltern die Bildung einer autonomen Einheit aus Furcht vor der Macht eines ungebrochenen Kindes verhindern wollen und den Konflikt auf diese Weise eskalieren. Das Kind trotzt, weil es trotz der Übergriffe seiner Eltern eine gesunde Entwicklung zu machen versucht. Die Eltern trotzen, weil das Leben sie ihre eigene Freiheit fürchten ließ. Folglich benennt die "Trotzphase" nicht nur die skrupellosen Machenschaften zwergenhafter Kleintyrannen, sondern ein Beziehungsmuster der ganzen Familie.

Das soll nicht heißen, dass das Heil der Beziehung im Kleinbeigeben zu finden ist. Grenzsetzung von seiten der Eltern ist sinnvoll und, wenn sie bemüht ist, die Rechte beider Parteien zu beachten, ohne pathogene Potenz. Problematisch ist nicht die Grenzsetzung, sondern der erzieherische Eingriff, weil er die Gestaltbildung der kindlichen Psyche missachtet. Zur Verdeutlichung des wesentlichen Unterschiedes zwischen der legitimen Selbstbehauptung der Eltern und der Übergriffigkeit durch das Laster der Erziehung kann das folgende Beispiel dienen:

Wenn man den Expansionsdrang eines Kindes punktuell mit der Bemerkung stoppt: 'Mach meine Vase nicht kaputt! Und wenn Du es doch versuchst, hindere ich Dich daran', setzt man eine gesunde Grenze. Überflüssige Eingriffe dagegen behaupten: 'Liebe Kinder machen Vasen nicht kaputt' oder 'Wenn Du die Vase kaputt machst, dann werde ich ganz traurig'. Durch faktischen Unsinn und emotionale Erpressung wird der Kinderseele kein Hindernis in den Weg gesetzt, an dem sie wachsen könnte, sondern es wird ihr ein Mistrauen gegen Zwischenmenschlichkeit eingeimpft, das ihr später die Hingabe an den Rausch des Daseins verbauen kann. Die beiden letzten Varianten ersetzen die ehrliche Begegnung, in der auch freien Mutes heftige Konflikte ausgetragen werden, durch Lügen, Machtmissbrauch und Hinterlist. Wer so im Ernst mit seinen Kindern spricht, ist bereit, sie ebenso feige zu opfern wie einst Abraham Isaak.

2.4. Quantität, Qualität und Bekömmlichkeit

Im Gegensatz zum Rühren mit dem Löffel im Topf, kommt es bei der Berührung zweier Personen nicht nur zur Beirührung von quantitativen Bewegungsimpulsen ins bereits Vorhandene. Da die Psyche nämlich kein Holzlöffel ist, mit dem man aus sicherer Entfernung und unspezifisch in eine andere Psyche eintauchen könnte, muss sie, sofern die Phase des gegenseitigen Gewahrseins überschritten wird, Inhalte benennen und sobald die Begegnung der Inhalte beendet ist, kann die Psyche die Mediatoren der Berührung nicht mehr vollends aus dem anderen zurückziehen, so wie es die Hand des Koches mit dem Löffel am Kochtopf tut.

Bei zwischenmenschlichen Kontakten, die über das Gewahrsein des anderen hinausgehen und nicht nur an der Oberfläche bestehende Verhältnisse sichern, sondern die eine spürbare Intensität erreichen, kommt es zu einer Beimischung neuer Elemente. Die Berührung zwischen zwei Menschen hat, anders als die Berührung im physikalischen Sinn, nicht nur primär quantitative Effekte, die erst sekundär in qualitative Auswirkungen einmünden, wie es beim Kochen der Fall ist, bei dem das Rühren die Qualität der Speise verbessert, sondern der intensive Ich-und-Du-Kontakt bringt auch direkt neue Qualitäten ins Dasein. Die zwischenmenschliche Berührung berührt nicht nur wie ein Löffel. Sie ist im gleichen Zuge Zutat und Gewürz.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Daher ist ein Teil seines Daseins nur als Miteinander möglich. Die meisten Gelegenheiten, so oder anders zu sein, werden durch Begegnung vermittelt. Ob man einladend oder abweisend ist, ob vertraulich, pünktlich, ein Großmaul oder schüchtern, immer braucht man für diese Varianten seelischen Ausdrucks, von der Erotik ganz zu schweigen, ein Gegenüber, in dessen Dasein der eigene Ausdruck ein Widerlager hat oder dessen Gegenwart die spezifisch Art und Weise des Erlebens erst anstößt. Zur Histologie des Individuums gehören auch die Organe des Kontakts, die, wenn man die körperliche Berührung als genüsslichen Sonderfall einmal weglässt, vorwiegend abstrakter Art sind. Berührt wird mit Bildern, Botschaften und Handlungsweisen, deren Struktur etwas zum Ausdruck bringt. Berührt wird auf alle Fälle, indem man den anderen etwas wissen lässt: Wie man ihn sieht. Ob man ihn mag. Was einen ärgert. Was man sich wünscht. Wie man ist. Was man denkt. Was man glaubt. Warum man so fühlt, wie man es tut. Und immer, wenn man so berührt, lässt man die Botschaft, mit der man berührt hat, im anderen zurück.

Auch die Bekömmlichkeit dieser qualitativen Beimischungen misst die Psyche daran, wieviel fremder Eigennutz dabei herauszuschmecken ist. Spürt sie bei einer übertragenen Botschaft, bei einem mitgeteilten Bild, bei einer scheinbar unverbindlichen Aktion, dass das Ganze heimlich und mit Absicht dazu dient, sie für die Zwecke ihres Gegenübers einzuspannen, werden Abwehrkräfte wach. Ist eine Beimischung unbekömmlich, lässt die gesunde Psyche sie nicht ungefiltert zu sich kommen. Die kranke Psyche macht es umgekehrt. Sie lässt das Schlechte zu sich kommen und sie kommt dabei nicht richtig zu sich selbst.

Damit man fähig ist, Unbekömmliches zurückzuweisen, muss man die Entwicklungsphase der sogenannten "Oralität" integrieren. "Oralität" meint jenen Funktionszustand der Psyche, der der Lebenswelt des Säuglings entspricht und in dichterischer Freiheit mit "Mündlichkeit" zu übersetzen wäre. Säuglinge beschäftigen sich, so wie es ihr Name schon sagt, hauptsächlich mit dem Saugen. Sie beschäftigen sich mit der rezeptiven Aufnahme von Nahrung und Liebesbeweisen. Die Psyche des Säuglings erwartet etwas ohne Gegenleistung, weil sie zu Gegenleistungen gar nicht in der Lage wäre. Bekommt sie, ist sie beruhigt, bekommt sie nicht, bekommt sie Todesangst, weil klar ist, dass sie ohne die bedingungslose Gabe von außen nicht überleben kann.

Biologisch gesehen kommt das daher, weil die Evolution dem Nachwuchs von Eltern, die fraglos geben, bessere Überlebenschancen einräumt und sich eine entsprechende Erwartungshaltung folglich herausselektiert hat; ontisch gesehen, weil das Beschenktsein der Wahrheit des Daseins näher kommt, als der geschäftliche Austausch von Leistungen. Die Wahrheit will das Kind zunächst mit Hingabe begrüßen und erst für später hofft sie, dass das Kind sie aus sich heraus erfüllen will.

Die mangelnde Integration des oralen Themas in das wachsende Ich führt zu einem Überdauern der Erwartungshaltung, passiv zu bekommen. Der "oral Gestörte" kann daher, geblendet von seiner Erwartung, endlich reichlich Gutes zu bekommen, zum Schlechten schlecht "nein" sagen, denn es könnte ja das lang ersehnte Gute sein. Der oral gestörte Mensch nimmt kritiklos alles an, weil er unbeirrbar annimmt, dass die guten Eltern endlich da sind. Lieber als auf die erhoffte Gabe von außen, verzichtet er auf das Einstehen in sich selbst.

Da die Seele nach Ausgleich strebt, steht der oberflächlichen Unfähigkeit des oral gestörten Menschen, differenziert und aktiv "nein" zu sagen, allerdings in der unbewussten Tiefe ein passiver Widerstand gegenüber, der alles tragfähige Annehmen unmöglich macht. Verursacht wird das unbewusste "Nein" durch die Vermeidung der Einsicht, dass man immer schon ein Stiefkind war. Wird der Schmerz der Einsicht vermieden, bleibt als Summe von tausend Enttäuschungen die Ahnung der schrecklichen Wahrheit vage bestehen. Aus dieser Ahnung heraus bleibt so ein Mensch ein Stiefkind, das zwar annehmen will, es aus Verbitterung aber nicht kann. Daher ist sein "Ja" nur vorgegeben und das "Nein" bloß verleugnet. Erst wenn er es annimmt, ein Stiefkind zu sein, hat er die Chance, damit aufzuhören.

Erst wenn die Berührung auf Gegenseitigkeit beruht, kommt es beim Kontakt zum Austausch von Impulsen, die, sich selbst und ihrer Wirksamkeit überlassen, dorthin führen, wo es recht sein mag. Der Bewegung, die die Berührung im dem einen auslöst, entspricht ein äquivalentes Geschehen im anderen. So verbinden sich zwei Teile und bilden ein überpersönliches Gleichgewicht, dessen Dynamik von keinem beherrscht werden kann; denn das Gleichgewicht der Beziehung übernimmt zu einem erheblichen Teil die Steuerung der Individuen und beugt schädlichen Entwicklungen vor, indem es Entgleisungen in der Komplexität des Systems abpuffert. Je besser eine Beziehung ist, desto besser ist sie vor Missbrauch geschützt.

Die Bildung eines Systems, das durch Berührung entsteht, kündigt sich durch die Vorsilbe des Begriffes an, die mit dem Wort "beide" nahe verwandt ist. "Beide" ist eine besondere Form der Zahl "zwei", weil im Wort "beide" bereits ausgedrückt wird, dass die zwei Beteiligten darin zu den beiden Teilen eines Ganzen geworden sind. In diesem Ganzen schwingt die gesunde Psyche zwischen sich selbst und den anderen hin und her. So findet sie den Raum, sich jenseits ihrer Enge zu entfalten.

Machtverhältnisse innerhalb von Beziehungen hängen von Symmetrie und Bekömmlichkeit der ausgetauschten Impulse ab. Je mehr eine Berührung einseitig kontrolliert werden kann, desto mehr weicht sie von der Qualität des "reinen Kontaktes" ab.

Eine illustere Form des asymmetrischen Kontaktes wird durch Medien hergestellt. Medien ermöglichen es mächtigen Interessen, viele zu berühren, ohne selbst davon berührt zu sein. Ein wesentliches Motiv der Medienproduktion liegt darin, Werbung zu platzieren. Werbung ist eine Form der zwischenmenschlichen Manipulation, die die Abwehr der Psyche durch technische Tricks unterläuft. Die Suggestionen, die aus dem Menschen einen Kunden machen, werden so platziert, dass man sich ihrem Einfluss kaum entziehen kann.