Seele und Gesundheit

Demokratie


Um die Demokratie vor dem Untergang zu bewahren, muss sie demokratisiert werden.

Viele glauben, Demokratie sei die Struktur, in der wir leben. Dabei ist sie ein Projekt, das in den Kinderschuhen steckt.

Demokratie ist die Streuung der Entscheidungsgewalt bis in die Hände des Einzelnen. Die Vorschriftenflut führt eine schleichende Entdemokratisierung herbei.

Demokratie ist ein idealisierender Begriff für eine Gesellschaftsordnung. Der Begriff setzt sich aus griechisch demos (δημος) = Volk und kratein (κρατειν) = herrschen zusammen. Die Vorstellung, dass das Volk die Herrschaft im Staat ausübt und dergestalt über sich selbst bestimmt, stellt die Freiheit in den Vordergrund. Gut so!

Das Konzept der Demokratie verspricht die Aufhebung politischer Hierarchien, indem der Begriff eine Struktur postuliert, in der der Herrscher (das Volk) und die Beherrschten (das Volk) miteinander identisch sind. Soweit die Theorie. Die Praxis weicht davon erheblich ab. Der wichtigste Grund dafür ist folgender:

Es gibt kein Volk als handelnde Instanz, das über einen eigenen Willen verfügt. Tatsächlich gibt es nur Individuen, die ihre Interessen entweder auf eigene Faust vertreten oder sich zu Bündnissen zusammentun.

Konsequenz davon ist, dass Demokratie im vollgültigen Sinne des Begriffs wohl niemals Realität sein kann; es sei denn, wir lebten in einer Republik Erleuchteter, von denen ein jeder die Bindung an seine persönlichen Partialinteressen hinter sich gelassen hat. Bis es soweit ist, besteht die einzige Möglichkeit im Versuch, sich dem Ideal der Demokratie so weit wie möglich anzunähern.

Der Begriff Demokratie ist ein Ideal, das man immer nur mehr oder weniger verwirklichen kann. Daher ist es nicht so, dass wir in einer Demokratie leben und andere nicht. Bestenfalls ist es so, dass es bei uns demokratischer zugeht als anderswo.

Idealtypisch verwirklichte Demokratie setzte voraus, dass jeder das gleiche Mitspracherecht hat. Um sich dem Ideal anzunähern, gilt es daher, die Mitsprache bei Entscheidungen möglichst breit zu streuen. Am ehesten verwirklicht das die Schweiz. In den übrigen Demokratien ist man weit vom Ideal der Demokratie entfernt; auch dann, wenn das Prinzip dort immerhin im Ansatz gilt und sie manifesten Autokratien zweifellos vorzuziehen sind.

In der repräsentativen Demokratie hat der Einzelne sein Mitspracherecht an Parteien abzutreten. Im Regelfall glauben deren Führer, das demokratische Prinzip sei erfüllt, wenn eine parlamentarische Mehrheit - egal, wie knapp sie ist - ihre Partialinteressen über die Köpfe der Übrigen hinweg durchsetzt. Entscheidungen einer Mehrheit über die Köpfe der Übrigen hinweg erfüllen aber nicht den demokratischen Ansatz der breiten Streuung, sondern entsprechen dem autokratischen Vorrecht der jeweils dominanten Macht. In der repräsentativen Demokratie wird das demokratische Prinzip mit autokratischen Mustern vermengt und verwässert.

Zwei Paar Schuhe

Demokratie Autokratie, Oligarchie
möglichst breite Streuung Vorrecht der dominanten Macht

Die meisten Vertreter sogenannt demokratischer Parteien sind keine Demokraten im eigentlichen Sinne. Sie träumen vielmehr von einer dauerhaft absoluten Mehrheit, aus deren Dominanz heraus sie quasi-autokratisch herrschen könnten.

Gewiss: Verbal deklariert sich so gut wie jeder Politiker zum strammen Demokraten. Dass man dem Ideal der Demokratie aber nur treu bleibt, wenn man mit 51% der Stimmen den übrigen 49% fast auf halbem Wege entgegenkommt, haben sie nicht begriffen.

Das Mittel der Wahl zur Annäherung an das Ideal der Demokratie ist eine Kompromissbreitschaft, die möglichst sämtliche politische Flügel der Gesellschaft berücksichtigt. Kategorische Ab- und Ausgrenzungen sind nicht demokratisch.

Demokratie und seelische Gesundheit
Ein stabiles Selbstwertgefühl ist die Grundlage seelischer Gesundheit. Das Selbstwertgefühl hängt auch vom Rang ab, den ein Individuum in der Gemeinschaft einnimmt. Da die repräsentative Demokratie Ranggleichheit auf politischer Ebene nur im Ansatz verwirklicht, belastet sie das Selbstwertgefühl und ist in der Folge ein Risiko für die seelische Gesundheit.

Solange es der Wirtschaft gelang, der überwiegenden Mehrheit einen steigenden Lebensstandard zu ermöglichen, konnte der Einzelne den Mangel an Ebenbürtigkeit, den die Herrschaft der Parteien mit sich bringt, durch die Vision ausgleichen, dass es immer weiter aufwärts geht. Je mehr die Erde aber damit überfordert ist, das Selbstwertdefizit ihrer Bewohner durch stets wachsenden Konsum zu kompensieren, brechen allerorten Risse auf. Die repräsentative Demokratie ist keine nachhaltige Gesellschaftsform. Entweder wird sie entschieden demokratisiert oder sie geht an ihren inneren Widersprüchen zugrunde.

Entzündungsprozesse

Aus der Medizin wissen wir, dass Entzündungsprozesse im Verdauungstrakt Trigger für allerlei Folgeerkrankungen sind, deren Symptome an verschiedensten Stellen des Organismus in Erscheinung treten. Analoges gilt für die Gesellschaft. Die Polarisierung in zunehmend verfeindete Lager ist so weit fortgeschritten, dass auf allen Ebenen psychosoziale Entzündungsprozesse schwelen, die in wechselseitige Abwertungen, Misstrauen und manifeste Aggressionen übergehen. Dauerhaft einem solchen Klima ausgesetzt zu sein, schlägt auf die seelische Gesundheit des Einzelnen nieder. Symptome sind chronische Unzufriedenheit, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen, Reizbarkeit, sozialer Rückzug, Zukunftsängste und ein galoppierender Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen.

Wir sprechen hier von inneren Widersprüchen. Das ist euphemistisch. Würde man Tacheles reden, spräche man von Korruption. Die repräsentative Demokratie ist systemisch korrupt. Politische Parteien sind Lobbys; und zwar zweifach:

  1. Parteien sind die Interessensvertretung ihrer unmittelbaren Akteure. Die Funktionäre der Parteien haben ein hochgradiges persönliches Interesse daran, an die Hebel der Macht zu kommen. Macht bedeutet Posten, Pensionen und prestigeträchtige Ränge. Das Gemeinwohl ist aber nie deckungsgleich mit persönlichen Partialinteressen. In letzter Konsequenz ist die Überschneidung gering. Nur Heiligen ist das Hemd nicht näher als der Rock.
  2. Parteien sind die Vertretung gesellschaftlicher Gruppen, die als Wähler an deren Herrschaft interessiert sind.

Die korrumpierende Dynamik einer solchen Gesellschaftsform entspringt dem Umstand, dass jede Partei, die an der Herrschaft ist, ein Interesse daran haben muss, ihre Wähler bei Laune zu halten... und daher per Regierungsgewalt in die Gemeinschaftskasse greift, um es ihren Wählern auf Kosten anderer recht zu machen. Das ist politischer Alltag und zugleich Stimmenkauf. Auf Dauer vertieft es Konflikte bis die Gesellschaft durch Polarisierung zerreißt.

Zur Dynamik des Prozesses gehört obendrein die Ermutigung steigender Ansprüche. Parteien reden ihren Wählern ein, Anspruch auf mehr zu haben, als bisher verwirklicht. Sie ködern ihre Wähler mit der Behauptung, als deren Anwälte unentbehrlich zur Durchsetzung gerechter Ansprüche zu sein. Es ist logisch: Wenn die Ansprüche der ersten Legislaturperiode erfüllt sind, müssen neue her: damit die Partei überhaupt eine Existenzberechtigung hat. Das führt in einen Wettlauf der Gefräßigkeit. Demokratisierung könnte die Kollision mit dem Eisberg verhindern.

Was wir sehen, ist das Gegenteil. Die Kapitäne verschließen die Augen und geben Gas. Statt Entscheidungsbefugnisse breiter zu streuen, entfesseln sie eine Vorschriftenflut, die uns schleichend entmündigt. Im Ballsaal spielt die Kapelle.