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Seele und Gesundheit |
Ein altes Thema der Psychologie ist die Fähigkeit zur Impulskontrolle. In wie weit ein Individuum fähig und bereit dazu ist, dem Druck seiner Impulse einen kontrollierenden Willen entgegenzusetzen, ist eine wesentliche Weichenstellung für sein ganzes Leben. Im Vordergrund stehen orale, anale, genitale und aggressive Impulse.
Oral geht auf lateinisch os = Mund zurück. Oral nennt man Impulse, wenn sie darauf abzielen, sich etwas einzuverleiben. Primär sind das Lebensmittel. Im weiteren Sinne geht aber alles aufs Konto der Oralität, was man sich zwecks Steigerung des Wohlbefindens aneignen könnte.
Anal geht auf lateinisch anus = After zurück. Der Archetyp des analen Impulses ist gemäß psychoanalytischer Theorie der Versuch des Säuglings Kontrolle über seine Ausscheidungsorgane zu bekommen.
Genital entspringt dem lateinischen genitalis = zur Zeugung gehörig; das seinerseits von lateinisch gignere = erzeugen abgeleitet ist.
Aggressiv geht auf das lateinische Verb aggredi zurück. Aggredi ist aus ad = heran, hinzu und gradi = gehen zusammengesetzt. Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff aggressiv jeden Impuls, der das Individuum dazu veranlasst, auf ein Objekt zuzugehen. In der Regel geht man auf Dinge zu, derer man sich auf irgendeine Weise bemächtigen will. Ist das Objekt eine andere Person, deren Subjektivität beim Zugriff übergangen wird, kommt dem aggressiven Impuls seine umgangssprachliche Bedeutung im Sinne einer feindseligen Handlung zu. Eine Sonderform der Bemächtigung ist die Zurückweisung oder gar Zerstörung von Objekten, die als Bedrohung eingeschätzt werden.
Impuls geht auf lateinisch impellere = anstoßen zurück. Das Verb pellere = stoßen ist aus dem indoeuropäischen pel- = stoßend in Bewegung setzen hervorgegangen. Der Begriff zeigt die passive Rolle an, in der sich das Individuum befindet, sobald es vom Impuls angestoßen wird. Sobald das Individuum Impulse erkennen und regulieren kann, gehen ursprüngliche Impulse in Motive über. Ein Motiv (lateinisch: movere = bewegen) ist ein Beweggrund, den das Individuum für sich bejaht.
Während der Begriff Impuls einen Anstoß und damit eine kurzzeitige Einwirkung benennt, wird von Trieb gesprochen, wenn es sich um eine Kraft handelt, die kontinuierlich auf ein Individuum einwirkt. Trieb geht auf treiben = in Bewegung setzen zurück. Impulse sind momentane Zuspitzungen triebhafter Regungen, die durch bestimmte Umstände punktuell ausgelöst werden. So gehen sexuelle Impulse aus dem Sexualtrieb hervor, sobald sich eine Gelegenheit bietet.
Der Naturforscher Carl von Linné teilte die Meinung der antiken Philosophie. Er lehrte: Natura non facit saltus. Das heißt: Die Natur macht keine Sprünge.
Wenn er damit meinte, dass das selbstbestimmte Individuum erst aus einer langen phylogenetischen Entwicklung hervorging, hatte er damit Recht. Während das ich-bewusste Individuum im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst bestimmen kann, was es tut, entschied das für seine animalischen Vorfahren über Jahrmillionen hinweg die Natur mit Hilfe instinktiver Impulse, die von der Logik der situativen Konstellation ausgelöst wurden, in der sich das jeweilige Exemplar einer Spezies befand.
Welcher Kategorie die Impulse, die bei den beschriebenen Episoden aktiv wurden, zuzurechnen sind, ist leicht zu erraten. Erkennbar ist auch, dass das einfache Regelwerk stereotyper Kategorien ausreichend war, um das Verhalten von Lebewesen zu steuern, denen ein ausgereiftes Ich-Bewusstsein fehlte.
Da die Natur keine Sprünge macht, hat sie die Impulse, die über Äonen hinweg das Spielfeld beherrschten, nicht aus dem Stammhirn des Menschen entfernt. Stattdessen hat sie ihm die Möglichkeit gegeben, von Fall zu Fall selbst zu entscheiden, welchen Anstoß er gewähren lässt und welchem er einen eigenen Willen entgegensetzt.
Impulse entstehen nicht aus dem Nichts. Vielmehr liegen ihnen drei basale Triebe zugrunde, in deren biologischer Logik sie eingebettet sind.
Grundlegende Triebe
Oral | Einverleibungstrieb |
Anal | Kontrolltrieb |
Genital | Überschreitungstrieb |
Das primäre Objekt oraler Begierden ist Muttermilch. Im Zusammenhang mit der Muttermilch beansprucht der Säugling auch die Aufmerksamkeit der Spenderin. Während er sich die Muttermilch unter dem Einfluss seiner oralen Impulse körperlich einverleibt, vereinnahmt er die Mutter existenziell. Im Horizont der kindlichen Lebensvollzüge wird sie fest eingeplant.
Sobald Hunger und Durst gestillt sind und der Säugling erwacht, fällt sein Blick auf diverse Gegenstände, die fürsorgliche Eltern in seine Reichweite bringen. Auch diese Gegenstände eignet er sich an: zunächst mit interessierten Blicken, dann mit Fingern, die die bunten Dinge zu seinem Munde führen. Der Mund überprüft, ob sie im eigentlichen Sinne einzuverleiben sind oder im übertragenen zu vereinnahmen, um das Dasein als Ganzes zu bereichern.
Jahrzehnte später hat sich die Zielgruppe oraler Impulse erheblich erweitert.
Parallel zum Wunsch nach materiellen Gütern ist die Begierde, Zuwendung, Liebe, Anerkennung und Wertschätzung zu erreichen, wesentliche Ziele oraler Impulse.
Was man sich einverleiben kann
Materielle Güter | Psychosoziale Vorteile | Ideelle Werte |
Lebensmittel Gebrauchsgegenstände Immobilien Vermögenswerte |
Anerkennung Zuwendung Wertschätzung Liebe Freundschaften Dienstleistungen Sozialleistungen |
Erfahrungen Erlebnisse Wissen Informationen |
In der Oralität schwingt etwas Liebenswertes mit. Selbst wenn man es dabei übertreibt, und man seine Impulse eher laufen lässt als zügelt, gilt man nicht gleich als gefräßiges Monster. Wer sich die Lebhaftigkeit seiner kindlichen Oralität bewahrt, wird zumindest von Gastwirten und Kaufleuten gerne gesehen. Und vom Wirtschaftsminister ebenfalls. Ein Genussmensch, der anderen nichts wegnimmt, mag ob seiner Freiheit, zu genießen, was er hat, beneidet werden. Er gilt aber nicht als echte Plage.
Analität ist im Gegensatz dazu anrüchig. Wie auch nicht? Der Griff nach einer Macht, die die Abläufe des Daseins unter die eigene Kontrolle bringt, wird von der Psychoanalyse mit der Kontrolle über die Ausscheidungsorgane in Verbindung gebracht.
Tatsächlich beginnt der kindliche Griff nach das Macht über die Abläufe des Daseins aber keineswegs mit dem Versuch, den Zeitpunkt seiner Entleerungen selbst zu bestimmen. Er beginnt sobald...
Natürlich sind Eltern begeistert, wenn die Willenskraft ihres Sprösslings die Macht über Enddarm und Blase erringt. Endlich keine verdreckten Windeln mehr zur Tonne tragen! Natürlich strahlen sie vor Glück, wenn das Kind den ersten vernehmbaren Begriff von sich gibt. Allein: Die Willenskraft des Kindes greift über Darm, Blase und Vokabular hinaus. Schon bald will es alles unter seine Kontrolle bringen, damit die Welt aus einem Diktator und dessen willfährigen Untertanen besteht.
Analität steht für den Griff nach Macht. Eigene Macht schützt davor, anderen Mächten ausgeliefert zu sein. Eigene Macht greift aber schnell über die Schutzfunktion hinaus und wird zu einem Faktor, der für andere keineswegs nur erfreulich ist. Andere zu beherrschen, um zu verhindern, dass sie es umgekehrt tun, ist eine präventive Taktik, die als treibender Faktor in der Menschheitsgeschichte eine zwiespältige Rolle spielt.
Was man unter seine Kontrolle bringen kann
Körper und Psyche | Besitz | Soziales Umfeld |
Greiforgane Bewegungsorgane Ausscheidungsorgane Sprechorgane Impulse |
Gebrauchsgegenstände Vermögenswerte |
Bezugspersonen Vereine Unternehmen Soziale Institutionen Politische Gebilde |
Um Impulse zu kontrollieren, bedarf es des Impulses, sie zu kontrollieren.
Unter dem, was man unter seine Kontrolle bringen kann, tauchen auch Vermögenswerte auf. Ein Blick nach oben zeigt, dass der Bezug zum Reichtum nicht nur Thema analer Impulse ist, sondern bereits der oralen. Klar: Falls man sie nicht erbt, muss man Reichtümer erwerben. Daher sind Vermögenswerte Objekte der Oralität.
Rockefeller wird die Bemerkung zugeschreiben, man werde nicht von dem reich, was man einnimmt, sondern von dem, was man nicht ausgibt. Da ist viel Wahres dran.
Wer es mit Hilfe seiner Aneignungsimpulse schafft, viel ranzuschaffen, wird erst dann reich, wenn er das Erworbene nicht gleich wieder ausgibt. Da Oralität vor allem Konsumfreude bedeutet, kann Besitz nur gehalten werden, wenn orale Impulse unter Kontrolle gebracht werden. Sonst heißt es: Wie gewonnen, so zerronnen.
Das öffnet den Blick auf eine grundsätzliche Tatsache:
Die Selbstermächtigung, die durch anale Impulse vollzogen wird, ist nicht nur Grundlage dafür, dass das Kind Kontrolle über seine Organfunktionen erringt, sondern auch die Kontrolle über seine Impulse. Das gilt für orale und genitale Impulse sowieso. Es gilt aber auch für anale. Nur wer eine gesunde Selbstermächtigung vollzogen hat, kann überschießende Impulse, andere unter seine Kontrolle zu bringen, am Ausdruck hindern.
Genitale Impulse zielen zunächst darauf ab, Gene an die nächste Generation weiterzugeben; und zwar solche, die sich im Konkurrenzkampf als tauglich erwiesen. So hat es die Natur von je her eingerichtet. Im Regelfall sind die Impulse an bestimmte Zeitfenster gebunden, in denen Balz und Fortpflanzung stattfanden.
Als der Mensch die Bühne betrat, traten die spontanen Impulse keineswegs ab, um einer reflektierten Geburtenplanung Platz zu machen. Im Gegenteil: Statt sich an bestimmte Zeitfenster zu halten, wurden sie das ganze Jahr über aktiv, um das Individuum auf Gedeih und Verderb dazu anzustacheln, genitale Ziele anzustreben.
Themenwandel bei gleichem Grundprinzip
Genitale Impulse waren ursprünglich rein sexuell. Sie dienten dazu, Erbgut von einer Generation an die nächste weiterzureichen. Dabei zielten sie über das Eigeninteresse des Individuums und dessen Lebenshorizont hinaus. Der grenzüberschreitende Charakter genitaler Impulse hat beim Menschen neue Themenfelder begründet, die für die kulturelle Entwicklung maßgeblich sind.
Hand aufs Herz: Als Sie in der Pubertät das erste Mal zu einem Intimpartner schielten, hatten Sie dabei eine Kinderschar im Blick? Sollten Sie homosexuell sein, dann sowieso nicht! Aber auch heterosexuelle Halbstarke haben unter dem Einfluss einschlägiger Hormone allerlei im Sinn. Eine Familiengründung gehört nur selten dazu.
Sie haben es sicher gemerkt: Wenn hier von "Halbstarken" die Rede ist, und wenig später von "Hänschen klein" und einem "Lulatsch", dann beschreibt der Autor die Welt einseitig aus der Perspektive seines Y-Chromosoms. Da er alle Besitzerinnen von zwei X-Chromosomen aber ausdrücklich dazu ermutigt, die Vorgänge aus der Sicht ihrer wertgeschätzten Weiblichkeit heraus zu deuten, sei ihm das verziehen.
Fragen wir weiter: Wann kommen genitale Impulse auf? Richtig: Wenn sich das Kind anschickt, den Schoß der Familie hinter sich zu lassen, um als Hänschen klein in der weiten Welt sein Glück zu suchen. Sobald die Geborgenheit des familiären Schoßes verlorengeht, weil der pubertäre Lulatsch als Ganzes nicht mehr hineinpasst, hält er Ausschau nach einem neuen Schoß glückseliger Geborgenheit. Irgendwann könnte das auch zu Kindern führen und damit das archaische Triebziel der Natur erreichen. Falls es überhaupt dazu kommt, können bis dahin aber Jahre und Jahrzehnte vergehen, in denen sich die Partner wechselseitig selbst genügen.
Wohin man sich selbst überschreiten kann
Fortpflanzung | Beziehungen | Transzendenz |
Kinder |
Intime Beziehung Gemeinschaftsprojekte Kulturelle Kreativität |
Absolutes Selbst Gott |
Was ist das Charakteristikum der Genitalität? Was unterscheidet sie von Oralität und Analität? Betrachtet man die Übersicht, ist eine Antwort auf diese Fragen nicht schwer:
Genitale Impulse weisen über das Individuum hinaus. Ihre Zielsetzung überschreitet die Grenzen des persönlichen Daseins. Orale und anale Impulse sind egozentrisch. Ihr Ziel ist Erfolg im Horizont der Person.
Die Urform genitaler Impulse weist über das Individuum hinaus, indem sie den Einzelnen zum Überträger phylogenetischer Informationen an spätere Exemplare derselben Spezies macht. Vielerorts, zum Beispiel bei Lachsen, Bienen und Oktopussen, endet mit der Übertragung das Dasein des Überträgers.
Beim Menschen hat sich das genitale Motiv zu einer Palette kultureller Erscheinungsformen erweitert; die alle das wesentliche Kriterium der Genitalität erfüllen: nämlich grenzüberschreitend zu sein.
Drei Kategorien wurden bislang aufgezählt. Da jeder Impuls, der einer der drei Kategorien angehört, das Individuum dazu antreibt, auf ein spezifisches Triebziel zuzugehen, ist jedem Impuls bereits eine aggressive Komponente beigelegt. Formuliert man nun aggressive Impulse als vierte Kategorie, muss man das begründen:
Jeder kann sich Ressourcen einverleiben, sich durch Willenskraft davor schützen, fremder Macht zu unterliegen, sein Leben ordnen, um einen Partner werben, seine Kreativität entfalten oder sich transzendenten Zielen zuwenden, ohne dass ein Schaden anderer dabei in Kauf genommen wird. Ist das so, wäre der Begriff aggressiv wohl fehl am Platze.
Orale, anale und genitale Impulse können jedoch so unkontrolliert ausagiert werden, dass sie vor dem Schaden anderer keineswegs halt machen. Dann macht es Sinn, sie gesondert als aggressive Impulse zu bezeichnen, weil die destruktive, also die fremdschädigende Rivalität um Bedürfnisbefriedigung, ein so weit verbreitetes Phänomen innerhalb menschlicher Gesellschaften ist, dass sie bei deren Beschreibung eigens benannt werden sollte.
Impulskategorien im Überblick
Kategorie | Thema |
Oral | Sich etwas einverleiben, konsumieren, sich etwas aneignen |
Anal | Etwas kontrollieren, über etwas Macht ausüben, sich fremder Macht entziehen, Zugriffe abwehren, an Besessenem festhalten |
Genital | Etwas erzeugen, kreativ sein, etwas hinterlassen, über sich hinaus gehen, etwas weiterreichen |
Aggressiv | Fordern, vergewaltigen, ausgrenzen, zurückweisen, zerstören, vernichten |
Innerhalb jeder der drei qualitativen Impulskategorien kann es zu einem Kontrollverlust kommen. Dabei ist klar, dass der Begriff Kontrollverlust nicht eindeutig definiert werden kann.
Triebtäter
Triebtäter: Fast jeder kennt den Begriff. Kaum jemand wendet ihn auf sich selbst an. Zu Recht und zu Unrecht!
Umgangssprachlich ist der Begriff klar definiert. Triebtäter werden durch Impulse dazu angetrieben, sich gewaltsam Macht über andere zu verschaffen, um sie zu Objekten ihrer sexuellen Begierden zu machen. Da das zum Glück nur eine Minderheit tut, ist die Mehrheit im Recht, wenn sie sich selbst nicht mit dem Begriff bezeichnet.
Oberflächlich betrachtet agiert der Triebtäter genitale Impulse aus. Das mag auch stimmen, da sexuelle Impulse zum Spektrum der genitalen gehören. Da kaum ein Triebtäter bei seinen grenzverletzenden Taten aber tatsächlich eine Grenzüberschreitung im eigentlich genitalen Sinne zum Ziel hat, sind die wesentlichen Triebe, unter deren Herrschaft er handelt, anal und oral. Er eignet sich den anderen gewaltsam an und will Macht über ihn erleben. Im eigentlichen Sinne genital wäre der Übergriff, wenn er durch den erzwungenen Sexualakt tatsächlich Kinder zeugen wollte. Das tut er nicht.
Zwischen Grenzverletzung und Grenzüberschreitung ist strikt zu unterscheiden.
Aber auch weit unterhalb der Schwelle zum umgangssprachlich definierten Triebtäterschaft neigen wir alle dazu, Triebe auf verschiedenen Feldern des Lebens auszuagieren. Ausagieren heißt: Unreflektiert in die Tat umzusetzen. Insofern ist der Begriff auch auf uns anzuwenden; es sei denn, wir gehören zu dem winzigen Anteil der Menschheit, die jeden Impuls, der sie trifft, wahrnimmt, bewusst überprüft und nur dann gewähren lässt, wenn sie ihn für gut befindet. Der Anteil wird in ppm (Parts per million) gemessen.
Oral |
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Anal |
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Genital |
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Aggressiv |
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Oben war von Kontrollverlust die Rede. Wer in der Regel in der Lage ist, seine Impulse sinnvoll zu kontrollieren, verliert die Kontrolle, wenn er in Stress gerät. Von einem Kontrollverlust zu sprechen, macht also Sinn, wenn eine im individuellen Fall sinnvolle Steuerung punktuell zum Schaden des Betroffenen oder Dritter aussetzt. Oft ist es jedoch so, dass eine sinnvolle Kontrolle nicht verloren geht, sondern noch nie erreicht wurde.
Belohnungsaufschub
Experimente haben ergeben (z.B. Mischel), dass man mithilfe einer Süßigkeit voraussagen kann, ob ein Kind eher einen erfolgreichen Lebensweg vor sich hat oder einen schwierigen. Wenn der Test auch nicht genau ist, ist er immerhin signifikant.
Beim Test bekommen Kinder eine Süßigkeit und das Versprechen, eine zweite zu bekommen, wenn sie die erste 15 Minuten unangetastet lassen. Ein Teil der Kinder unterliegt der Versuchung, die Süßigkeit sofort zu essen. Anderen gelingt es, den Verzehr auf später zu verschieben. Sie bekommen ihren Lohn.
Jahrzehnte später ließ sich nachweisen, dass Menschen, die schon früh in der Lage waren, ihre oralen Impulse zu kontrollieren, höhere schulische und berufliche Leistungen erbrachten und harmonischere Beziehungen führten.
Die Gesellschaft setzt sich aus Individuen zusammen. Das Verhalten von Individuen wird von ihrem Umgang mit Impulsen bestimmt. Zustand, Werdegang und Zukunft einer Gesellschaft hängen von der Impulsregulation ihrer Mitglieder ab. Umgekehrt wird die Impulsregulation der Individuen vom Zustand der Gesellschaft beeinflusst. Werfen wir dazu erneut einen Blick auf die Grundmotive der organismischen Triebe:
Zielsetzung grundlegender Triebe
Oral | Selbstbereicherung |
Anal | Selbstermächtigung |
Genital | Selbstüberschreitung |
Ausgehend davon lässt sich die Bedeutung der Impulsregulation für Eckpunkte der Gesellschaft aufzeigen, die als Weichensteller für die Zukunft zu nennen sind:
Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass die Triebthemen unterschiedlichen Reifegraden der Persönlichkeit entsprechen. Oralität ist das kindlichste Muster, Genitalität das reifste. Dazwischen liegen entwicklungspsychologisch anale Impulse. Zuerst setzt der Mensch dazu an, sich etwas einzuverleiben, dann, sich selbst zu steuern und zuletzt, über sich hinauszugehen.
Kaum etwas beschäftigt die Politik mehr als das Wirtschaftswachstum. Eine Wirtschaft kann nur wachsen, wenn ihre Produkte in immer größerer Menge konsumiert werden. Die Wachstumsgesellschaft setzt daher vor allem auf orale Impulse. Infolgedessen sind die gesellschaftlichen Strukturen darauf ausgerichtet, Individuen in ihrem Vorsatz zu bestärken, sich möglichst viel anzueignen, es möglichst schnell zu verbrauchen und durch neue Güter zu ersetzen.
Oralität ist das kindlichste der drei Triebthemen. Die Konsumgesellschaft fördert daher die Fixierung ihrer Mitglieder auf einen frühkindlichen Realitätsbezug. Das hat weitreichende Folgen für das gesellschaftliche Klima im Großen wie im Kleinen.
Im Großen fördert das Aneignungsmotiv eine Gesellschaft, die sich mit ihren Ansprüchen identifiziert und die Gemeinschaft als eine Mutter betrachtet, die ihren "Kindern" möglichst viele Wünsche erfüllt. Mit der Zeit wachsen der Wachstumsgesellschaft die Ansprüche ihrer Mitglieder, die sie aus ihrer eigenen Logik heraus fördert, über den Kopf. Die Verteilungskämpfe werden härter. Sie tragen zur Spaltung der Gemeinschaft bei.
Viele Menschen streben zwar Intimbeziehungen an, sind aber so auf einen oralen Realitätsbezug fixiert, dass sie vom Partner vor allem versorgt werden wollen: materiell und/oder mit Zuwendung, Anerkennung und erotischen Genüssen. Eine solche Beziehung wirkt vordergründig zwar genital - weil die entsprechenden Organe zum Einsatz kommen - das tatsächliche Beziehungsmuster ist jedoch oral. Es entspricht der Position eines anspruchsvollen Konsumenten, der das Leben als einen Ort betrachtet, an dem man sich das Beste herauspicken sollte. Ich bin doch nicht blöd!
Das führt zu einer Beziehungsinstabilität. Sobald der Partner die Versorgungswünsche nicht mehr erfüllt, wird nach einem besseren gesucht. Intimbeziehungen werden durch egozentrische Ansprüche überlastet und zerbrechen.
Bürokratie ist ein beschönigender Begriff für Unfreiheit und Gängelei. Die Vorschriftenflut, die angeblich notwendig ist, um ein geregeltes Miteinander zu ermöglichen, geht weit über das sachlich Sinnvolle hinaus. Ursache ist die mangelnde Kontrolle analer Impulse auf Seiten der gesellschaftlichen Entscheidungsträger. Deren Selbstermächtigungsmotiv greift überschießend über das hinaus, was die Natur durch anale Impulse eigentlich bezweckt: die Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben.
Machen die Selbstermächtigungsimpulse eines Individuums nicht an der Ich-Grenze halt, greifen sie zunächst auf das persönliche Umfeld über. Das Individuum sucht asymmetrische Beziehungen, die es einseitig kontrollieren kann.
Bei politisch motivierten Akteuren zielt die Ermächtigungstendenz auf die Gesellschaft als Ganzes. In krassen Fällen vereinnahmt der Trieb die ganze Welt. Resultat sind autokratische Strukturen, in denen alles Erdenkliche von oben herab reguliert wird; nicht, weil es notwendig wäre, sondern weil es den politischen Akteuren das Machtgefühl beschert, das ihren Triebbedürfnissen entspricht.
Der psychologische Zusammenhang wird von den Akteuren nicht gesehen. Stattdessen geben sie vor, zum Schutz und Vorteil der Beherrschten nach der Macht zu greifen.
Ein Merkmal moderner Konsumgesellschaften ist die sinkende Fertilitätsrate. Die durchschnittliche Frau bringt weniger Kinder zur Welt, als es zum Erhalt der Gesellschaft aus eigener Kraft notwendig wäre. Um die Lücken zu füllen, werden als Ersatz Migranten herangezogen. Die Konsumgesellschaft ist auf sie angewiesen, weil sie wegen der entfesselten Ansprüche ihrer Mitglieder einem Wachstumszwang unterliegt.
Das ist logisch. Indem die Konsumgesellschaft darauf angewiesen ist, orale Selbstbereicherungsmotiven freien Lauf zu lassen, bewirkt sie zweierlei: