Seele und Gesundheit

Empörung


Der Gebrauch des Begriffs Empörung wächst inflationär. Über ihn wird ein zunehmender Teil des politischen Austauschs zwischen divergenten Gruppen abgewickelt.

Wie empor geht empören auf die indogermanische Wurzel bher = heben, tragen zurück. Empor hat mit oben und unten zu tun. Wer sich empört, hebt sich empor, um von dort aus Stellung zu beziehen.

Sich emporzuheben heißt aufzustehen. Wenn sich etwas zusammenbraut, das gesellschaftliche Regeln bedroht, die von allgemeinem Nutzen sind, ist es ein Gebot der Stunde, aufzustehen, um die bedrohliche Entwicklung aufzuhalten. Hier wird Empörung zu lauteren Zwecken verwendet.

Was zu lauteren Zwecken verwendbar ist, kann aber auch missbraucht werden. Sich emporzuheben, um von oben herab auf andere einzuschlagen, ist keine Tugend, sondern Schachzug beim Kampf um Macht. Wenn die Empörung nicht dem Schutz gemeinsamer Freiheiten dient, sondern dem Vorteil der sich empörenden Gruppe, entsteht der Verdacht, dass die Empörung zu unlauteren Zwecken verwendet wird.

Empörung ist stets von moralischem Anspruch durchsetzt. Der Empörte spielt seines Erachtens nicht Schach. Er hütet die Moral. Moral ist ein notwendiges Mittel, ohne das sich eine humane Gesellschaft kaum organisieren lässt. Moral dient aber auch als Maske vermeintlicher Unschuld, aus deren Deckung heraus man den Schaden anderer eigennützig betreibt.

Erkennbar wird das vor allem dort, wo sich Empörung gegen die Äußerung unliebsamer Ansichten richtet. Der Empörte sagt dem Adressaten der Empörung nicht nur: Da liegst du falsch. Er sagt: Wer so etwas zu denken wagt, verwirkt sein Recht, als vollwertiger Mensch zu gelten.

Während sachliche Kritik Sichtweisen beurteilt, bewertet Empörung den, der Sichtweisen hat; und zwar kategorisch negativ. Abwertung ist ein problematischer Abwehrmechanismus. Richtet er sich gegen eine Person als Ganzes, dient er dazu, das eigene Selbstwertgefühl auf deren Kosten zu steigern.

Wir könnten über den Missbrauch der Empörung empört sein. Wir sind es aber nicht, sondern behaupten mit moderatem Affekt, dass er schadet.

Aggressionen an anderen abzulassen, gilt nicht als die feine Art. Tut man es, setzt man sich dem Vorwurf aus, sich moralisch zu verschulden. Nicht so, wenn man selbst als Hüter der Moral agiert. Aggressionen, die im sonstigen Falle als schuldhaft gelten, scheinen im Auftrag der Moral höchst ehrenwert zu sein. Kein Wunder, dass sich genug Empörungswillige finden. Zu verlockend ist die Gelegenheit, anderen scharfe Hiebe zu verpassen und dabei als der Gute dazustehen.

Da man vom Glanz der Vorstellung, Hüter der Moral zu sein, leicht geblendet wird, ist allen moralisch Bewegten ein vorsichtiger Gebrauch der Empörung anzuraten. Empörung ist auch ein moralischer Rausch. Beim inflationären Gebrauch berauschender Mittel riskiert man eine Toleranzentwicklung. Man benutzt immer mehr und trotzdem wirken sie weniger. Schlimmer noch: Am Ende sind solche Mittel stumpf oder bewirken sogar das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollen. Die Adressaten werden nicht eingeschüchtert, sondern aufgestachelt.