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Seele und Gesundheit |
Es gibt allerlei, was man fürchten kann:
Der Eifer, sich durch Ehrerbietung gegen solche Gefahren zu wappnen, ist im Laufe der Zeit zurückgegangen. Ursache ist unser verändertes Weltbild. Während man früher Vulkanausbrüche und Choleraepidemien als Fluch verärgerter Gottheiten ansah, legen wir sie heute der Plattentektonik und Cholera-Vibrionen zur Last.
Mächtigen gegenüber verhalten wir uns auch heute noch respektvoll; zumindest, wenn sie uns etwas anhaben können. Wer an einen persönlichen Gott glaubt, der dem Einzelnen gegenüber den Anspruch loyaler Gefolgschaft zum Preis von Lohn und Strafe erhebt, begegnet diesem Gott mit der gebührenden Ehrfurcht. Was schließen wir daraus? Dass Ehrfurcht eine fragwürdige Tugend ist.
Offensichtlich ist die Ehrerbietung gegenüber dem, was wir fürchten, an unseren Eigennutz gebunden. Solange wir dachten, es nütze uns etwas, dem Vulkangott Ehre zu erweisen, weil er uns dann vor seiner Wut verschont, haben wir ihm Opfer dargebracht. Seit wir von der Tektonik wissen, haben wir die Ehrerbietung durch Seismographen ersetzt. Obwohl wir sie auch heute noch fürchten, kommt uns beim Ausbruch der Cholera Ehrfurcht als allerletztes in den Sinn. Vibrionen werden nicht geehrt, sondern mit Antibiotika traktiert. Der Glaube an misslaunige Sumpfgeister hat der Pharmaforschung Platz gemacht.
Ehrfurcht erweist sich so als egozentrische Strategie. Nur wenn wir daran glauben, dass hinter der Gefahr, die wir fürchten, ein Adressat steht, den wir durch Ehrerbietung beschwichtigen können, machen wir uns die Mühe, Gaben zu versenden, die die Laune des Adressaten verbessern könnten. Je nachdem, wie sehr sie von ihrer Eitelkeit geblendet sind, durchschauen irdische Machthaber die Bestechung als solche; oder nicht.
Ob der Gott, an den er glaubt, durch Ehrerbietung zu bestechen ist, mag jeder für sich selbst entscheiden. Der Verdacht, dass die Verkünder ehrfurchtheischender Götter die erbotene Ehre vor dem Versand ins Jenseits diesseits verzollen und den Abzug zwecks Verbesserung der eigenen Laune einbehalten, hält sich bis heute.