Wille entspringt dem Verb wollen. Wollen geht auf die indogermanische Wurzel ṷel- zurück, von der auch das Verb wählen abgeleitet ist. Jeder Willensakt setzt eine Wahl voraus, jede Wahl eine Entscheidung zwischen mindestens zwei Möglichkeiten. Sich entscheiden zu können, beruht auf der Freiheit, es zu tun. Wem die Freiheit dazu fehlt, der hat auch keine Wahl.
Verhaltensweisen können durch zwei Faktoren ausgelöst werden:
Wird ein Verhalten durch ein Reiz-Reaktions-Schema ausgelöst, findet keine bewusste Wahl statt. Ein solches Verhalten entspricht entweder einem rein biologischen Automatismus oder einer Gewohnheit. Biologische Automatismen sind von der Phylogenese vorgegeben. So atmet der Mensch auch dann, wenn er sich nicht jedes Mal dafür entscheidet. Gottlob!
Gewohnheiten sind erworbene Muster, die zu individuellen Automatismen umgegossen sind. Die meisten menschlichen Verhaltensweisen, die im Alltag zur Anwendung kommen, sind mehr oder weniger automatisiert. Sie beruhen auf der vorwussten Erwartung, dass ein Verhalten, das früher zu gewünschten Ergebnissen geführt hat, auch in Zukunft dazu führen wird. Dank automatisierter Gewohnheiten sind wir in der Lage, eine Auto durch den Verkehr zu steuern und im Geiste zugleich mit anderen Dingen beschäftigt zu sein.
Der Wille setzt ein, wenn kein passender Automatismus für ein auftretendes Problem vorliegt oder wenn die Entscheidung ansteht, ob man entgegen einer Gewohnheit handeln sollte. Zum Willen gehört aber nicht nur die Wahl. Es gehört auch die Anstrengung dazu, das angepeilte Ziel gegen den Widerstand der Wirklichkeit durchzusetzen. Dadurch gerät echter Wille im Gegensatz zum bloßen Wunsch mit der Wirklichkeit in Konflikt.
Willensakte beruhen auf einer Wahl. Die Wahl erfolgt weder zufällig noch auf dem Boden beliebiger Willkür. Der Mensch kann...
Er kann sich aus dem Stehgreif aber nicht willkürlich dazu entscheiden, was er will. Was er tatsächlich will, hängt von seinen Begierden ab, die ihrerseits Ausdruck seines Selbstbilds sind.
oder aber...
Begierden aller Art sind die wesentlichen Motivationen des menschlichen Verhaltens. Jede Begierde ist ein Haben- oder Seinwollen. Jedem Haben- oder Soseinwollen entspricht der Impuls, sich etwas anzueignen, sich durch etwas zu bereichern oder über das eigene Sosein zu bestimmen.
Die existenzielle Grundlage des Begehrens ist das Dasein an sich. Zu existieren heißt, in einen Raum hineinzuragen, in dem das Existierende anderem begegnet und der Zeit unterworfen ist. Durch die Begegnung mit anderem ist das Existierende dessen Einflüssen ausgesetzt. Die Einflüsse des anderen auf das Existierende können förderlich sein. In der Summe führen sie aber dazu, dass alles Existierende in seiner Existenz bedroht ist und auf Dauer untergehen wird. Jede zusammengesetzte Struktur unterliegt dem Gesetz der Entropie. Exemplarisch gilt das für den Körper, aber auch für die Person, die sich als Repräsentant des Körpers begreift.
Lebende Organismen reagieren auf die Bedrohung ihres Daseins durch Eigenaktivitäten, die dem Untergang entgegenwirken. Sie stärken sich durch Vereinnahmung anderer Strukturen. Im Gegensatz zu den meisten anderen lebenden Organismen ist sich der Mensch der Bedrohung seines Daseins bewusst. Dementsprechend sind seine Strategien zur Sicherung seines persönlichen Daseins komplex. Er unterliegt dem ständigen Impuls, sich durch irgendetwas zu bereichern. Die Objekte seiner Begierden können in vier Gruppen aufgeteilt werden:
Der Impuls, sich etwas anzueignen, ist einerseits unentbehrlich um überhaupt eine separate Existenz als Individuum zu ermöglich. Begierden erstrecken sich vom bloßen Hunger bis zum spirituellen Wissensdurst. Sie stehen damit am Anfang der gesamten menschlichen Kultur. Begierden sind aber zugleich die wesentlichen Risikofaktoren, die psychisches Leid begründen. Ungesteuerte Begierden führen dazu, dass gesundes oder zumindest normales Erleben in krankhaftes entgleist.
Die Ursache der Entgleisung liegt in den irrigen Identifikationen, die das Ich durchführt, um sich selbst zu bestimmen. Das normale Ich entwirft ein Selbstbild. Es setzt sich dazu mit objektiven Sachverhalten gleich, die es dann für sich selbst hält. Es glaubt: Ich bin dieser Körper. Ich bin diese konkrete Person, die diese und jene Position innehat oder innehaben sollte, die bestimmte Meinungen und Vorstellungen von der Wirklichkeit hat.
Da jede Gleichsetzung mit etwas Objektivem immer nur eine Gleichsetzung mit etwas Partiellem, also mit einem Bruchstück sein kann und in der Regel mit etwas Kleinem, das dem Ozean des Nicht-Ich gegenübersteht, steigern Identifikationen das Gefühl, ausgeliefert und bedroht zu sein. Als Reaktion auf das Gefühl werden all jene Begierden verstärkt, durch die sich das Individuum bereichern will und sich damit mächtiger zu machen versucht.