Seelisch gesund ist mehr als psychisch gesund. Psychisch gesund ist, wer mit der Normalität übereinstimmt; das heißt, wer sich als Rollenspieler im gesellschaftlichen Kontext so verhält, wie es den anerkannten Erwartungen des jeweiligen Kontextes entspricht. Da die Erwartungen gesellschaftlicher Umfelder unterschiedlich sind, ist psychische Gesundheit relativ. Seelisch gesund ist, wer mit sich selbst übereinstimmt. Da das absolute Selbst in der grundlegenden Ordnung der Wirklichkeit verankert ist, ist seelische Gesundheit eindeutig. Seelisch gesund ist, wer über den Kontext erhaben ist.

Man wird auch von Äußerem bestimmt. Je mehr man das jedoch betont, desto mehr liefert man sich Äußerem aus.

Je mehr man sich mit Dingen befasst, die man nicht beeinflussen kann, desto mehr lässt man jene außer Acht, auf die man Einfluss hat... und desto ohnmächtiger fühlt man sich.

Ein Sämling kann die besten Anlagen haben. Wenn er sich auf nacktem Stein verwurzeln muss, sinkt die Chance, dass er seine Anlagen zur Blüte bringt.

Ursachen seelischer Störungen


  1. Ursachen und Verursachungsgefüge
  2. Weltanschauung

1. Ursachen und Verursachungsgefüge

Körperliche Erkrankungen und Funktionsstörungen kann man in der Regel auf eine oder wenige Ursachen zurückführen. Ohne dass man über den Tellerrand solcher Verknüpfungen hinausblicken müsste, ergeben sich daraus angemessene Therapien.

Bei seelischen Störungen ist das bis auf wenige Ausnahmen anders; zumindest wenn man weiter als bis zu bloßen Auslösern blickt. Psychische Erkrankungen oder seelische Störungen werden meist multifaktoriell verursacht. Multifaktoriell heißt: Es spielen viele Faktoren zusammen.

Monokausale psychische Störungen

Als erklärende Ursache eines Alkoholentzugsdelirs kann ein Alkoholentzug gelten. Als monokausale (griechisch monos [μονος] = einzig und lateinisch causa = Ursache) Bedingung einer Drogenpsychose kommt LSD, Psilocybin oder Meskalin in Frage. Vielen Formen der Demenz können eindeutige Ursachen zugeordnet werden. Zu nennen sind die spezifischen Infektionen des Zentralnervensystems, zum Beispiel durch den Erreger der Syphilis oder HIV, verschiedene Vitamin- oder Hormonmangelsyndrome, Hirntraumata oder Durchblutungsstörungen.

Da die Psyche im Gegensatz zu Steißbein, Lunge und Leber kein Ding mit definierbarer Normstruktur ist, sondern eine individuelle Funktionsdynamik, werden auch die entsprechenden Störungen durch jeweils individuelle Netzwerke partieller Cofaktoren hervorgerufen. Immerhin kann man die Ursachen fünf Kategorien zuordnen:

  1. biologischen Vorgaben
  2. biographischen Prägungen
  3. gesellschaftlichen Umständen
  4. persönlichen Entscheidungen
  5. akuten Ereignissen
1.1. Biologische Vorgaben

Der Mensch kommt nicht als leeres Blatt zur Welt. Persönliche Muster sind durch genetisch bedingte Konstruktionsunterschiede des Körpers gebahnt. Dazu gehören Begabungen, Temperament und Antrieb; aber auch Statur und Aussehen.

Die fünf genannten Faktoren haben einen erheblichen Einfluss auf den Werdegang der Person und damit auf Wahrscheinlichkeit und Ausprägung psychischer Störungen.

Eine große Bedeutung kommt dem Austausch von Botenstoffen zwischen den Hirnzellen zu. Offensichtlich spielen erworbene oder angeborene Unterschiede im Transmitter­haushalt eine große Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten. Besonders zu nennen sind endogene Psychosen (Schizophrenie) und die bipolare Störung. Im Grundsatz organisch bedingt scheinen auch demenzielle Erkrankungen zu sein. Hier setzen die Methoden der biologischen Psychiatrie an, vor allem die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka.

Begabungen kommen selten zur vollen Entfaltung, wenn das Umfeld fehlt, das sie fördert.
1.2. Biographische Prägungen

Ab Geburt werden die angeborenen Muster durch Strukturen des unmittelbaren Umfelds ausgeformt. Dieser Mechanismus ist erheblich. Wie ein Kind sich und die Welt erlebt, hängt wesentlich vom familiären Klima und den Beziehungen ab, die es zum Umfeld knüpfen kann. Ob es auf Liebe und Zuwendung oder Ungeduld und Gleichgültigkeit stößt, hat großen Einfluss darauf, wie es der Welt als Erwachsener begegnen wird.

Auch wenn es zutrifft, dass selbst Persönlichkeitsmerkmale durch angeborene, also biologische Faktoren, mitbedingt sind, geht die Mehrzahl der Psychiater davon aus, dass Prägungen durch biographische Erfahrungen besonders in der (frühen) Kindheit, wesentlich für Entstehung und Ausgestaltung vieler psychiatrischer Störungen sind.

Das trifft vor allem für neurotische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen zu, für Depressionen, Ängste, Essstörungen, Zwänge und Suchterkrankungen.

Die Aufarbeitung problematischer Prägungen und der Erwerb erfolgversprechender Verhaltensmuster sind die Domäne der Verhaltens- und Psychotherapie. Einschränkende Folgen traumatisierender oder einschüchternder Kindheitserfahrungen hinter sich zu lassen, gelingt oft erst nachdem man sich als Erwachsener bewusst damit auseinandergesetzt hat.

1.3. Gesellschaftliche Umstände
Einflüsse fließen von außen herein. So verkündet es der Begriff. Niemand kann sich Einflüssen entziehen, weil eine vollständige Abschottung des Inneren vom Äußeren unmöglich ist. Trotzdem ist man Einflüssen nicht wehrlos ausgesetzt:

Nicht nur das, was uns früher prägte, spielt eine Rolle; auch die Strukturen der Welt, die uns heute begegnet. Ob man in Hamburg, Hühnerfeld oder Marzahn lebt, ob in der Parkallee oder am Ostbahnhof, ob man im Frisörsalon oder auf dem Baugerüst arbeitet, alles, womit man jetzt in Berührung kommt, bestimmt über das seelische Befinden mit; und somit auch über die Frage, ob eine manifeste psychische Erkrankung entsteht oder nicht. Dabei können zwei Wege der Beeinflussung unterschieden werden:

  1. unmittelbare Einflüsse
  2. mittelbare Einflüsse

Unmittelbare Einflüsse entstammen den Beziehungen zu konkreten Personen und dem sozialen Gefüge, dem man persönlich begegnet.

Mittelbare Einflüsse werden über jene Personen und das unmittelbare soziale Gefüge vermittelt, dem man konkret begegnet und das seinerseits durch Wirkungskaskaden umfassender gesellschaftlicher Dynamiken mitbestimmt wird. Zu nennen sind dabei kulturelle, politische, rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen.

1.3.1. Unmittelbares Umfeld

Die Entstehung vieler und die Ausgestaltung fast aller psychiatrischen Erkrankungen hängt mit den Bedingungen des unmittelbaren Umfelds zusammen. Sobald er in entsprechende Umfelder gerät, kann sich niemand dem Klima familiärer oder beruflicher Kommunikationsmuster entziehen. Will man diesen Zusammenhang bei der Diagnose eigens betonen, spricht man von einer Anpassungsstörung.

1.3.2. Politischer Rahmen

Großen Einfluss haben politische Strukturen und politische Ereignisse aller Art. Die unmittelbare Bedrohung durch staatliche Willkür kann das Erleben und Verhalten von Menschen tiefgreifend bestimmen. Das gilt in hervorstechender Weise für den, der faktisch bedroht wird. Es gilt aber auch für die Mehrzahl derer, über denen das Damoklesschwert der Bedrohung bloß als ständige Möglichkeit schwebt.

Auch politische Ereignisse punktueller Art kommen in psychiatrischen Praxen zur Sprache, sobald sie das Sicherheitsgefühl empfänglicher Patienten untergraben. Ein Wahlausgang, ein Terroranschlag, ein Krieg in weiter Ferne können Ängste schüren und Fässer zum Überlauf bringen.

Das gesellschaftliche Klima könnte durch substanzielle Mitsprache aller verbessert werden.

Die beiläufigen Botschaften, die politische Systeme an ihre Bürger senden, wirken nachhaltig ins Selbst­bild der Menschen hinein. Für uns von Bedeutung ist die hierarchische Struktur der repräsentativen Demo­kratie, die die Gleichheit der Bürger nur halbherzig anerkennt und ihnen ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen vorenthält. Während Politiker in einer direkten Demokratie durchgehend mit den Bürgern im Austausch stehen, gibt die repräsentative Strukturen vor, die Rangunterschiede betonen. Ohne Zweifel: Das geringe Gewicht, das dem Einzelnen in der repräsentativen Demokratie zugestanden wird, wirkt sich bei der Regulation des Selbstwertempfindens nachteilig aus und fördert im nächsten Schritt wechselseitig abwertende Haltungen der Bürger untereinander. Das gesellschaftliche Klima ist umso besser, je weniger sie den Einzelnen übergeht.

Das erste Opfer...

... im Krieg ist die Wahrheit (Hiram W. Johnson). Auch Parteipolitik basiert auf der Rivalität konkurrierender Gruppen, deren Interessen sie einerseits vertritt, deren Aufspaltung sie im eigenen Interesse aber ebenso festigt. Wie beim Kampf um geographische Geländegewinne gerät die Wahrheit beim Ringen um politischen Einfluss in die Schusslinie der Macht. Alle naslang wird getrickst und gefälscht, weggelassen und betont; so routiniert, dass frisierte von echter Wahrheit oft nur schwer zu unterscheiden ist.

Redlichkeit

Dient die Rede der Darstellung von Tat­sachen, ist sie redlich. Das Gesagte weist auf das hin, was ist. Hat eine Aussage die Funktion, den Zuhörer im Sinne parteilicher Interessen zu beeinflussen, wird sie von Absichten eingefärbt. Aussagen aus dem Umfeld politischer Parteien sind nicht dem verpflichtet, was ist, sondern dem, was angestrebt wird. Redlichkeit gelingt poli­tischen Rednern nur mit besonderer Disziplin.

Vielen gelingt es immer weniger, regierungsamtlichen Verlaut­barungen so zu trauen, als stammten sie von Leuten, die sich dem Gemeinwohl konsequent verpflichtet fühlten. Für die Betroffenen schürt das ein Klima des Misstrauens, das zu chronischer Anspan­nung beiträgt. Die verzerrte Darstellung der Wirklichkeit durch parteiliche Interessen beschädigt die gesellschaftliche Solidarität; denn die Wahrheit ist das einzige, worauf man sich einigen kann. Sobald von ihr abgerückt wird, ist es mit substanzieller Einigkeit vorbei.

1.3.3. Globalisierung

Die Globalisierung ist ein besonderes Phänomen unserer Zeit. Einer­seits ist sie eine unausweichliche Folge der Menschheitsentwick­lung, anderer­seits wird sie von Teilinteressen beeinflusst, sodass ihr Fluch und ihr Segen ungleich verteilt sind. Den einen beschert die Globalisierung Wohlstand und Reichtum. Anderen nimmt sie den Arbeitsplatz und damit die Möglichkeit, mit den eigenen Begabungen tatsächlich ins gesellschaftliche Gefüge integriert zu sein. Die Mehrheit setzt sie einem Leistungsdruck aus, der sie über die Grenzen des Burn-out-Syndroms hinaus zu belasten droht. Daher sagen die einen: Beseitigt Grenzen. Grenzen hemmen unser Entwicklungspotenzial. Andere sagen: Bewahrt Grenzen. Sie schützen uns vor Kräften, denen wir sonst wehrlos ausgeliefert sind.

Globalisierung führt nicht nur zu einer Entgrenzung wirtschaftlicher Dynamiken, sodass mit der Produktivität zugleich der Leistungsdruck steigt. Globalisierung führt auch zu einer Erweiterung intellektueller Horizonte. Kaum jemand kann sich dem wachsenden Zufluss von Informationen entziehen, die bisherige Gewissheiten darüber, was er ist, was er für richtig hält und was er tun sollte, infrage stellen. All das schafft neue Möglichkeiten. Aber es schafft auch Ungewissheiten, die das Wohlbefinden vieler beeinträchtigen.

1.4. Akute Ereignisse

Während die Mehrzahl der psychischen Störungen Folge kontinuierlich einwirkender Ursachen ist, gibt es einige, die man akuten Ereignissen zuordnen kann.

1.5. Persönliche Entscheidungen

Obwohl die Macht biologischer Vorgaben, biographischer Prägungen und gesellschaft­licher Umstände nicht zu verleugnen ist, sind wir nicht nur Opfer äußerer Umstände. Wir führen im eigenen Leben auch Regie. Was wir heute entscheiden, ist morgen ein Teil unseres Schicksals. Je klüger unsere Entscheidungen sind und je mutiger wir dazu stehen, desto eher werden wir mit uns selbst im Reinen sein.

Erkrankung und Ursachengefüge

Er­kran­kung Vor­gabe Prä­gung Um­stän­de Ereig­nis Ent­schei­dung­en
ADHS ++ ++ + -
++
Anpas­sungs­stö­rung + ++ +++ (+) ++
Autis­mus +++ - - - -
akute Belas­tungs­reak­tion - + - +++ -
Post­trau­mat. Belas­tungs­stö­rung - + - +++ ++
Delir ++ - - +++ -
Per­sön­lich­keits­stö­rung + ++ - - ++
De­pres­sion + ++ ++ (+) ++
Schizo­phre­nie +++ + + - -
De­menz +++ (+) - - +
Sucht (+) ++ + - +++
Bipo­lare Stö­rung +++ +(+) - - +
Schlaf­stö­rung + + ++ ++ ++

Wohlgemerkt

Die obenstehende Zuordnung verschiedener Teilursachen zu speziellen Krankheitsbildern versteht sich als Vorschlag. Wissenschaftlich ist sie nicht verpflichtend.

Anmerkungen

2. Weltanschauung

Weltanschauungen bahnen den Umgang ihrer Vertreter mit sämtlichen Aspekten der Wirklichkeit. Das gilt für kollektive Weltbilder ebenso wie für individuelle.

Introjektion

Als Introjektion bezeichnet die Psychologie die unreflektierte Übernahme weltanschaulicher Sichtweisen. Sobald Introjekte bewusst überdacht und dem individuellen Urteil gemäß umgeformt, verworfen oder bestätigt werden, sind es keine Introjekte mehr.
2.1. Kollektiv

Kollektive Weltbilder können dogmatisch sein oder nicht. Die Leitlinien nicht-dogmatischer Weltbilder sind nur unscharf zu erfassen; weil ihnen eben kein Dogma, also keine festgelegte Lehre zugrunde liegt, die offiziell als verpflichtend gilt. Während Menschen die Lehrsätze dogmatischer Weltbilder zumeist in der Kindheit gezielt aufgenötigt werden, werden nicht-dogmatische Weltbilder beiläufig übernommen.

Undogmatische Weltbilder werden in pluralistischen Gesellschaften größtenteils vom Zeitgeist transportiert. Wer sich daran erinnern kann weiß, wie deutlich sich der Zeitgeist 1957 oder 1973 vom heutigen unterschied. Die Auswirkungen des Zeitgeists auf das, was psychiatrisch als normal gilt, sind zum Teil bemerkenswert.

2.2. Selbstbild

Eine grundlegende Weiche an der Weggabelung zwischen psychisch krank und seelisch gesund ist das individuelle Selbstbild. Zu vermuten ist, dass es fast so viele Selbstbilder gibt, wie Personen. Trotzdem verweist die grundlegende Weiche in zwei Richtungen. Das Selbstbild ist entweder materialistisch oder spirituell. Der philosophische Streit, welches Bild von Mensch und Wirklichkeit das richtige ist, ist alt und bislang unentschieden.

Welches Bild der Einzelne für glaubhafter hält, und vor allem welches er verinnerlicht hat, entscheidet fundamental über seinen Umgang mit sich und der Welt.