Essstörungen


  1. Einteilung und Symptome
    1. 1.1. Körperliche Folgeschäden
  2. Ursachen, Häufigkeit und Verlauf
  3. Innerseelische Prozesse
    1. 3.1. Anorexie
    2. 3.2. Bulimie
    3. 3.3. Binge-Eating
  4. Atypische Essstörungen
    1. 4.1. Soziale Phobie
    2. 4.2. Generalisierte Angststörung
    3. 4.3. Depression
    4. 4.4. Zwischenmenschliche Konflikte
    5. 4.5. Night-Eating-Syndrom
  5. Therapie
    1. 5.1. Psychotherapie
    2. 5.2. Medikamentöse Behandlung
    3. 5.3. Stationäre Behandlung

Begriffe

Anorexie enthält das griechische orexis [ορεξις] = Verlangen. Anorexie heißt fehlendes Verlangen.

Bulimie besteht aus den griechischen Wörtern bous [βους] = Ochse und limos [λιμος] = Hunger. Bulimie heißt Ochsenhunger.

Im Begriff Binge-Eating steckt das englische binge = Gelage.


Körperschemastörung

Bei einer Körperschemastörung liegt eine subjektiv verzerrte Wahrnehmung des Körpers vor. Magersüchtige neigen dazu, Umfang und Gewicht ihres Körpers zu überschätzen.

1. Einteilung und Symptome

Bekannte Essstörungen sind Magersucht (Anorexie) und Ess-Brechsucht (Bulimie). Vermischen sich beide Krankheitsbilder, spricht man von einer Bulimarexie. Eine dritte Variante ist das sogenannte Binge-Eating.

Die Magersüchtige...

Die Ess-Brechsüchtige...

Beim Binge-Eating...

Essstörungen gemäß ICD-10-Klassifikation der WHO

Name ICD Kernsymptom
Anorexia nervosa F50.0 Absichtlich bewirkter Gewichts­verlust als Folge einer Körperwahr­nehmungs­störung mit realitäts­fremder Über­zeugung, zu dick zu sein
Atypische Anorexia nervosa F50.1 Wie F50.0, aber unvoll­ständige Ausprägung und fehlende Überzeugung, zu dick zu sein
Bulimia nervosa F50.2 Wechsel zwischen Heißhunger mit begleitenden Essanfällen und absicht­lichem Erbrechen, um eine Gewichts­zunahme zu vermeiden
Atypische Bulimia nervosa F50.3 Wie F50.2, aber unvollständige Ausprägung / zum Beispiel fehlende Sorge um Körpergewicht
Essattacken bei anderen psychischen Störungen F50.4 Vermehrtes Essen zur Bewältigung belastender Emotionen
Erbrechen bei anderen psychischen Störungen F50.5 Z.B.: Im Rahmen dissoziativer Störungen
Sonstige Ess­störungen F50.8 Pica-Syndrom oder Appetitverlust bei seelischen Belastungen
Atypische Essstörung F50.9 Z.B.: Essstörung aus Angst, sich zu verschlucken oder aus Angst, Gegessenes wieder zu erbrechen

1.1. Körperliche Folgeschäden

Abhängig vom Typ der Essstörung sind Folgeschäden zu befürchten.

Folgeschäden bei Anorexie und Bulimie


Folgeschäden beim Binge-Eating

Essstörungen verursachen Veränderungen an verschiedenen Hormonsystemen.

Hormonsysteme

Ort Hor­mon Effekt
Fett­zelle Leptin
Schild­drüse TSH, T4,
T3
↔ ↓
Gona­den FSH, LH, Estra­diol
Neben­niere Corti­sol

2. Ursachen, Häufigkeit und Verlauf

Bulimie und Anorexie entwickeln sich vor allem bei Mädchen und jungen Frauen. Meist treten sie zwischen dem 15. und 21. Lebensjahr auf. Etwa 1-2% der Altersgruppe ist betroffen. Mager- und Ess-Brechsucht kommt bei Frauen 20 Mal häufiger vor als bei Män­nern. Bei etwa 50% der Patientinnen heilt die Essstörung vollständig aus. Ein Viertel wird in unterschiedlicher Ausprägung chronisch krank. Bei den übrigen wechseln sich Rück­fälle und symptomfreie Phasen ab. Auch wenn sich Essverhalten und Körper­gewicht normalisiert haben, bleibt die Körperschemastörung oft lange bestehen.

Der bewusste Auslöser bulimischer und anorektischer Essstörungen ist die Sorge, dick und damit hässlich zu werden. Vielfach besteht im Vorfeld ein leichtes Übergewicht. Viele der später Kranken wurden vom Umfeld wegen des Übergewichts kritisiert oder verspottet. Hier ist der Psychologische Grundkonflikt erkennbar. Hinter der Sorge, häss­lich zu werden, steht die Angst vor Ausgrenzung und dem Verlust an Zugehörig­keit.

Essstörungen beginnen meist mit dem Versuch, Gewichtszunahme durch Diät zu verhin­dern. Da Diäten aus Sicht des Körpers Hungersnöte sind, kommt es zur Gegenregula­tion. Auf Hungersnöte reagiert der Körper mit dem Versuch, vorbeugend Nahrungsre­serven einzulagern. Das steigert die Furcht der Magersüchtigen vor der Gewichtszu­nahme weiter. So entsteht ein Teufelskreis.

Bricht sich das gefürchtete Hungergefühl freie Bahn, kommt es zu Fressattacken. Nach der Fressattacke versucht die Kranke, die gefürchteten Dickmacher wie­der los zu werden. Sie erbricht, konsumiert Abführmit­tel oder betreibt bis zur Erschöpfung Leistungs­sport.

3. Innerseelische Prozesse

Die Psychodynamik der Essstörungen ist keineswegs einheitlich. Je nach Form und Ausprägungsart kommen unterschiedliche Motive zum Tragen. Die Palette reicht vom pathologischen Versuch, Selbstwertzweifel auszu­gleichen oder andere belastende Gefühle zu verdräng­en bis zu schweren Progressionsängsten mit radikaler Ablehnung der eigenen Geschlechtsrolle.

Essen, Bindung, Zugehörigkeit, Geschlecht

Mit dem Ende der Jugend wechselt man aus der Zugehörigkeit zur Familie in das erweiterte Feld erwachsener Selbstbestimmung. Das Leben fordert zunehmend autonome Entscheidungen, was Ängste und reaktiv Bindungsimpulse wachruft.

Essen fördert die Reifung des Körpers. Es führt kurzfristig zur Verstärkung, langfristig zur Lockerung der familiären Bindung. Wer zu wenig isst, zögert die Entbindung aus der ursprünglichen Zugehörigkeit hinaus. Sein Autonomiestreben verschiebt sich auf die Kontrolle leiblicher Impulse.

Bei schweren Anorexien wird darüber hinaus die Übernahme der eigenen Geschlechtsrolle vermieden. Mager zu sein, aktiviert Fütterungsimpulse des Umfelds, was die Angst der Betroffenen vor der Freisetzung in die Geschlechtsreife vermindert.

In weniger schweren Fällen wird die Geschlechtsrolle akzeptiert. Dann steht die Sorge, hässlich zu werden, im Vordergrund. Essstörungen entwickeln sich vorwiegend bei jungen Frauen, weil Schönheit ein Mittel ist, das vor allem Frauen Zuwendung verschafft und dadurch den Druck zur autonomen Selbstbehauptung entschärft.

3.1. Anorexie

Das Spektrum anorektischer Verläufe erstreckt sich vom überwertigen Interesse an einem schlanken Habi­tus - um mit den Models in der Illustrierten mitzuhalten - bis zur Selbst­vernichtung.

Wo es um bloßes Schönsein geht, sind narzisstische Motive aus­zumachen. Die junge Frau wünscht sich feenhafte Leichtigkeit. Sie sieht sich als einen Aus­druck femininer Attraktivität, der das Umfeld mit delika­tem Feingefühl begegnen sollte, ohne sie mit der Erwar­tung zu bedrängen, derbe Pflichten anzunehmen, die man einer Matrone, einer Amme oder einem Waschweib zumuten mag, nicht aber einer Thronanwärterin.

Am anderen Ende des Spektrums entwickelt der Schlank­heitswahn tatsächlich wahn­hafte Züge. Obwohl jeder Spiegel unübersehbar zeigt, dass von Übergewicht keine Rede sein kann, beharrt die Kranke auf ihrem Vorsatz, weiter abzunehmen oder zumin­dest ein Gewicht zu halten, das keinerlei Erinnerung an Schönheitsideale wachruft.

Hier geht es nicht um narzisstische Bedürfnisse, sondern um einen Krieg gegen das eigene Wesen, das aus der spontanen Entwicklungsdynamik des Körpers heraus in Erfahrungs­bereiche vordringt, die die Kranke mit aller Macht vermeiden will. In einzelnen Fällen geht der Krieg soweit, dass die Kranke an Unterernährung stirbt.

Das Schicksal des Verlangens
Wir erinnern uns: Anorexie heißt fehlendes Verlangen. Das ist kein Zufall, denn das Verlangen spielt bei allen Formen der Magersucht eine wesentliche Rolle. Der Begriff bezieht sich auf den Appetitverlust, den die Kranke vorgibt oder den sie sogar erleben mag, weil sie das Hungerhaben als so bedrohlich empfindet, dass sie es verdrängt. Wird das Hungergefühl missachtet oder kann ihm lange nicht nachgegeben werden, verschwindet es nicht selten tatsächlich.

Die Verleugnung des Hungergefühls bedeutet jedoch nicht, dass keinerlei Verlangen vorläge; zumindest nicht bei jenen Varianten der Anorexie, deren Hauptmotiv nar­zisstisch ist. Statt auf gutes Essen ist alles Verlangen vielmehr auf die Bestätigung von außen verschoben. Die Kranke hat ein so dominantes Verlangen, für schön befunden zu werden, dass sie jedes andere Verlangen, das dem vorherrschenden in die Quere kommen könnte, in den Hintergrund schiebt.

Bei der selbstzerstörerischen Form wird jenes Verlangen gefürchtet und bekämpft, dass mit der sexuellen Reife aufzukommen droht. Einerseits könnte das entsprech­ende eigene Verlangen die Jugendliche auf Erfahrungsfelder führen, die ihr nicht geheuer sind. Andererseits stachelt ein weiblicher Körper, der nicht durch Askese entfraut wird, männliches Verlangen auf; das ebenso zu fürchten ist. Denn wie man weiß, verheißt es einer Frau keineswegs grundsätzlich Segen, einem solchen Verlangen in die Hände zu fallen.

Gegebenenfalls ist die Beziehung zur Mutter zu betrach­ten. Nahrung ist das archetypische Angebot gebender Müt­terlichkeit. Ist die Beziehung zwischen Patientin und Mut­ter konfliktbeladen, kann die Verweigerung angemes­sener Nahrungsaufnahme nonverbaler Ausdruck eines in­terperso­nellen Konfliktes sein. Statt sich gegen eine Mutter prag­matisch abzugrenzen, die als übergriffig empfunden wird, beginnt der Grenzzaun an der Speiseröhre.

Machtkämpfe
Essstörungen - vor allem die Anorexie - sind Arenen dreier Machtkämpfe. Zum einen kämpft die Patientin gegen eigene Impulse...
  1. gegen die orale Forderung des Leibes, sich endlich satt zu essen.
  2. gegen aufkeimende libidinöse Impulse, die das Dasein um die sexuelle Dimension erweitern wollen.

Zum anderen entfacht die Magersucht meist einen Machtkampf zwischen der Patientin und ihren Bezugspersonen. Das Umfeld sagt: Du musst essen! Die Patientin gibt zur Antwort: Ich will aber nicht. Wenn es hart auf hart kommt, führt das zur Zwangsernährung.

Gegebenenfalls ist die Beziehung zum Vater zu betrachten. Väterlichkeit ist mit Männ­lichkeit vermengt. Nicht jeder Vater trennt im Kontakt mit seiner aufblühenden Tochter so genau zwischen beiden Aspekten, dass eine Verwechslung ausgeschlossen wäre. Das können grobe Übergriffe sein, also manifester Missbrauch, aber auch subtile Blicke, Gesten, fragwürdige Bemerkungen oder unauffällige Berührungen, die am Väterlichen vorbeigehen. Ist es so, kann die Selbstentfrauung der Patientin eine Abwehrschranke gegen Inzest sein.

Selbstbestimmung und Kontrollverlust

Ich will über mich bestimmen. So lautet das Motto der Magersüchtigen. Doch beim Versuch, den Körper und seine Triebe unter Kontrolle zu bringen, verliert sie die Kontrolle über ihren Willen zum Sieg.

Jeder Zweifel am Selbstwert entspringt der Unkenntnis des Selbst. Wer sein Selbst verkennt, beginnt sich zu vergleichen. Alles Objektive ist Erscheinung, die am Wirklichen vorübergeht.
3.2. Bulimie

Patientinnen mit reiner Bulimie sind meist normgewichtig; oder da sind drei Kilo, die ein wohlwollendes Auge übersieht, die dem perfektionistischen Anspruch der Patientin jedoch unerträglich erscheinen. Bei der Bulimie wird die Geschlechtsrolle in der Regel voll akzeptiert und das Motiv, die Nahrungsmenge zwanghafter Kontrolle zu unterzieh­en, ist narzisstisch. Sie dient dem Ausgleich verdeckter Selbstwertzweifel.

Vom Hunger zum Hunger nach Erfolg

Wieder 300 Gramm weg! Ein Erfolg für jeden, der als übergewichtig gilt und abnehmen will. Erfolg ist eine schöne Sache. Schnell will man mehr davon. Erfolg kann süchtig machen. So kann aus dem Hunger nach Fett und Kohlehydraten ein unersätt­licher Hunger nach immer mehr Erfolg im Kampf ums Idealgewicht werden.

Oh Gott: 200 Gramm mehr! Das Terrain, das ich erobert habe, droht verlorenzugehen. Wer beim Körpergewicht jede Schwankung nach oben grundsätzlich vermeiden will, muss zwingend weiter abnehmen, weil die natürlichen Schwankungen nur durch rigorose Diät zu unterbinden sind.

Eigentlich ist die Magersüchtige nicht süchtig danach, mager zu sein. Sie ist süchtig nach Erfolg.

Zur besonderen Dynamik der Bulimie gehört das Wechselspiel aus Fressattacke und versuchtem Ungeschehenmachen durch absichtliches Erbrechen, Abführ­mittel oder Sport. Das ist verständlich: Das sich selbst auferlegte Genuss­verbot versucht die Herrschaft des blanken Gefallenwollens umso wütender vom Podest zu stoßen, je strenger die Gefallsucht nach der Macht greift. Daraus ergibt sich ein Ringen aus Revolte und Restauration, das solange tobt, bis sich die verfeindeten Parteien auf einen Mittelweg geeinigt haben... wenn sie es denn jemals tun; denn die Weisheit ist zwar eine Frucht der Reife, aber nicht jeder macht sich die Mühe, zu dem Ast hinauf zu greifen, an dem sie hängt.

3.3. Binge-Eating-Syndrom

Das Selbstwertgefühl des Binge-Eaters ist meist noch schlechter, als das einer Pat­ientin mit Bulimie. Auch er hat narzisstische Defizite. Statt aber den Versuch zu unter­nehmen, das Defizit durch die Pflege eines ästhetischen Körperbildes auszugleichen, gibt er auf diesem Sektor völlig auf; was das Defizit parallel zum Übergewicht in die Höhe treibt. Hier dient die Fressattacke der Verdrängung unangenehmer Gefühle, wie Scham, Wut oder Schuld und der Verschiebung gefürchteter Impulse auf das, was der Binge-Eater sich zu tun getraut: essen. Essen wird zum Ersatz für all das Übrige, das er sich vom Leben nicht zu nehmen wagt.

Mir fehlt was

Kaum ein Menschenleben verläuft ohne dass man zumindest streckenweise damit unzufrieden ist. Unzufriedenheit führt zur Idee, dass zum ersehnten Glück etwas fehlt. Das könnte ein passender Partner sein, Freunde, ein guter Arbeitsplatz oder mehr Selbstbewusstsein. All das ist nicht so leicht erreichbar. Was aber leicht erreichbar ist, sind Nahrungsmittel. So mancher Unzufriedene hält den echten Mangel nicht aus. Stattdessen versucht er ihn mit dem auszugleichen, was leicht zu haben ist.

Unzufriedenheit mit dem Leben als eine Tatsache anzuerkennen, statt untaug­liche Wege zu gehen, um sie aus der Welt zu schaffen, ist ein wichtiger Schritt um zu verhindern, was die Unzufriedenheit vertieft.

4. Atypische Essstörungen

Atypische Störungen des Essverhaltens können verschiedene Ursachen haben. Meist treten sie im Rahmen anderer seelischer Störungen auf. Beispielhaft seien fünf Vari­anten hervorgehoben:

Primäre Essstörung

Die gestörte Nahrungsaufnahme ist Leitsymptom. Als primär können Anorexie, Bulimie und Binge-Eating gelten.

Sekundäre Essstörung

Die gestörte Nahrungsaufnahme ist Begleitsymptom. Als sekundär gelten alle übrigen Formen.

4.1. Soziale Phobie

Sozialphobische Menschen leiden unter der Befürchtung, sie könnten sich vor anderen blamieren. Meist sind damit Sprechängste verbunden. Die Betroffenen haben Hem­mungen, andere Leute anzusprechen und erst recht, vor einer Gruppe das Wort zu ergreifen. Wenn ein Sozialphobiker in der Kantine an einem Tisch mit Kollegen sitzt, kann es sein, dass sich seine Angst vor der Blamage auf den Handlungsablauf des Essens erweitert:

Um der Blamage vorzubeugen, verzichtet er womöglich auf die Suppe, hat keinen Durst mehr oder bemüht sich so sehr darum, sich bloß nicht zu verschlucken, dass der eigent­lich automatisierte Schluckakt durch übermäßig bewusste Kontrolle gestört wird; und das gefürchtete Ereignis daher eintritt. Grund genug, von da ab aufs gemein­same Essen völlig zu verzichten.

4.2. Generalisierte Angststörung

Menschen mit generalisierter Angststörung machen sich über alle möglichen Unglücke Gedanken; auch über solche, die ziemlich unwahrscheinlich sind. Zum Beispiel...

Um die befürchtete Gefahr zu umgehen, isst der eine nur winzige Portionen, damit das Volumen des eventuell Erbrochenen niemals die gesamten Atemwege verstopfen kann. Ein anderer isst nur die Soße und bloß kein Fleisch, weil er hofft, dass Flüssigkeit allein den Magen so schnell verlässt, dass die Gefahr des Erbrechens gemindert wird.

4.3. Depression
Bei den einen überwiegt die Erwartung, dass das Gute von außen kommt. Die anderen miss­trauen grundsätzlich. Sie glau­ben, dass es nichts Gutes gibt.

Depressionen können das Essverhalten nachhaltig beeinflussen. Einerseits kön­nen depressive Verstimmungen zum sogenannten Frustessen führen. Essen wird zum Trost für erlittenen Schmerz und Kummer. Es dient der Abwehr unan­genehmer Gefühle. Auch der Kummerspeck hat seinen Platz im Wörterbuch gefunden.

Einer anderen Gruppe Depressiver vergeht der Appetit. Parallel zum Verlust sonstiger Interessen geht auch das am Essgenuss verloren. Der Kranke wird anhedon, also unfähig, etwas zu genießen. Wie das Leben überhaupt, ist essen im besten Falle für ihn Pflicht.

4.4. Zwischenmenschliche Konflikte

Im Rahmen zwischenmenschlicher Spannungen kann die Nahrungsaufnahme einer be­wussten oder unbewussten Verweigerungshaltung zum Opfer fallen.

Chronische Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen Partnern, können das Bedürfnis nach Selbstbestimmung so sehr missachten, dass daraus sowohl typische als auch atypische Essstörungen entstehen.

4.5. Night-Eating-Syndrom

Die Einordnung des Night-Eating-Syndroms ist unklar. Bei dieser Verhaltensvariante kommt es zum Verzehr meist normaler Nahrungsmengen während nächtlicher Wachpha­sen. Dadurch findet ein ungewöhnlich hoher Teil der Nahrungszufuhr nach dem Abend­essen statt, was zu vermindertem Appetit beim Frühstück führt. Da Schlafstörungen gehäuft bei seelisch angespannten und depressiven Personen vorkommen, ist klar, dass nächtliches Essen gehäuft bei entsprechenden Symptomen auftritt.

Fraglich ist, ob daraus eine eigenständige Krankheitseinheit abgeleitet werden kann. Womöglich liegt die Wurzel des nächtlichen Essens in der Hoffnung Schlafloser, nach dem Essen wieder einzuschlafen; denn Blut, das sich am Verdauungstrakt zu schaffen macht, kann nicht zugleich ein Hirn mit Sauerstoff versorgen, das damit bloß längst Gedachtes immer wieder neu durchdenkt.

Weitere Faktoren mit Einfluss auf das Essverhalten

Faktor Nahrungs­aufnahme Hinter­grund
Erkrankungen
Psychose Nahrungs­verweigerung bei Vergiftungs­wahn
Demenz Unvermögen eigen­ständiger Nahrungs­aufnahme durch Apraxie
Drogen
Cannabis Appetit­steigerung, vor allem auf zucker­haltige Nahrungs­mittel
Amphetamine Aufhebung des Hungergefühls
Psychopharmaka
Antidepressiva
TZA, Mirtazapin, Citalopram und andere
Teils erhebliche Gewichtszunahme durch Appetitsteigerung und verbesserte Nährstoffverwertung
Neuroleptika
Olanzapin, Clozapin, Quetiapin, Risperidon und andere
Methylphenidat Aufhebung des Hungergefühls

5. Therapie

Die Therapie essgestörter Patienten umfasst psychotherapeutische, medikamentöse und soziotherapeutische Maßnahmen. Eingehende Informationen dazu sind in den ⇗S3-Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Essstörungen zu finden.

5.1. Psychotherapie

Bei der Psychotherapie der Essstörungen kommen Methoden der Kogni­tiven Verhaltenstherapie, der Interpersonellen Therapie und tiefen­psychologische Ansätze zum Einsatz.

Neben der Bearbeitung unbewusster Ängste vor Ablösung und Auto­nomie sowie der Bearbeitung zwischenmenschlicher Konflikte steht die Klärung von Selbstwertzweifeln im Vordergrund. Essgestörte Patientin­nen neigen dazu, ihren Selbstwert einseitig am weiblichen Schönheits­ideal zu messen. Da das Ideal ans Urteil des Betrachters geknüpft ist, machen sie sich in besonderer Weise vom Gutdünken anderer abhängig.

Merkmale bei Anorexie und Bulimie
  • Perfekti­onismus
  • Leistungs­orientierung
  • Zwanghaftigkeit
  • Vernach­lässigung alters­entsprechender Interessen
  • Sozialphobische Züge
5.2. Medikamentöse Behandlung

Essstörungen werden oft von weiteren psychischen Symptomen begleitet. Häufig leiden essgestörte Patientinnen zusätzlich unter Zwangserscheinungen, Depressionen, sozialen Phobien oder Stimmungsschwankungen als Folge von Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline-Störungen). Dementsprechend ist verständlich, dass Essstörungen auch durch Psychopharmaka positiv beeinflusst werden können, die bei den genannten Symptomen wirksam sind. Das gilt vor allem für sekundäre Essstörungen. Die Wirk­samkeit der Psychopharmaka bei primären Essstörungen ist nur schwach. Zudem ist bei Magersüchtigen, die in einem schlechten Allgemeinzustand sind, das Risiko gefährlicher Nebenwirkungen erhöht.

Grundsätzlich geeignet sind Antidepressiva. Da manche Antidepressiva unmittelbar zur Gewichtszunahme führen, sind viele Patientinnen zur Einnahme solcher Medikamente kaum zu motivieren. Eine Ausnahme bilden die SSRI. SSRI sind Antide­pressiva, bei denen Gewichtszunahme seltener beschrieben ist. Am besten geeignet scheinen Fluoxetin und Sertralin bei der Bulimie zu sein.

Medikation der 1. Wahl

  • Fluoxetin
  • Sertralin

Medikation der 2. Wahl

  • Citalopram
  • Paroxetin
  • Fluvoxamin

In jüngerer Zeit haben sich niederpotente Neuroleptika und Olanzapin als teilweise wirksam erwiesen.

5.3. Stationäre Behandlung

In schweren Krankheitsfällen sind stationäre Behandlungen in einer Fachklinik für Essgestörte notwendig. Wichtige Indikationen für eine stationäre Behandlung sind:

Therapeutische Schwerpunkte des stationären Behandlungsprogramms sind: